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Lucia Berlin: „Abend im Paradies“
Hunger auf Leben

Lauras Mutter trinkt und nimmt eines Tages zu viele Tabletten. Die Ehe von Maya mit dem Musiker Paul steht auf der Kippe. Lucia Berlins Geschichten erzählen von Alkohol, Heroin, Geldnot, aber auch von der Lust am Leben. Ein weiterer grandioser Erzählband der lange vergessenen Meisterin der Short Story.

Von Angela Gutzeit |
Zu sehen ist Lucia Berlin und das Cover ihres Buches "Welcome Home. Erinnerungen, Bilder und Briefe".
Lucia Berlin, eine schöne, genialische Schriftstellerin mit einem tragischen Leben (2015 Literary Estate of Lucia Berlin LP)
"Manchmal schaut man Jahre später zurück und sagt, das war der Anfang von … oder wir waren damals so glücklich … ehe … danach … Oder man denkt, ich werde glücklich sein, wenn … wenn ich erst mal das und das bekomme … wenn wir …"
So beginnt "Abend im Paradies", die Titelgeschichte des Story-Bandes von Lucia Berlin. Dieser Satz transportiert eine Stimmung, die typisch ist für das Lebensgefühl fast aller Figuren dieser lange Zeit verkannten Autorin. Sie balancieren in der Regel auf einem schmalen Grat zwischen Selbstbehauptung und Absturz, immer in der Hoffnung, noch die nächste Kurve zu kriegen, die Miete bezahlen zu können, von den Drogen loszukommen, die Kinder irgendwie durchzubringen. Sie erinnern sich an bessere oder schlechtere Zeiten, aber im Grunde genommen zählt für sie nur der Augenblick. Und der kann für kurze Zeit mal glücklich sein, meistens aber desaströs.

Hernàn jedoch, Hotelbesitzer in einem kleinen mexikanischen Ort und Hauptfigur der Erzählung "Abend im Paradies", ist gerade bester Laune. In seiner Bar brummt es, da der Regisseur John Huston mit seiner Crew dort weilt, mit den berühmten Schauspielern Ava Gardner, Richard Burton und der eifersüchtigen Liz Taylor, um den Film "Die Nacht des Leguan" zu drehen. Was tatsächlich der Fall war, 1964 im mexikanischen Puerto Valetta. Hernán hatte seine Kindheit einst als obdachloser Waisenjunge verbracht, jetzt genießt er es, als Hotelchef und Barkeeper einer illustren Gesellschaft beizuwohnen, deren Mitglieder, berühmt oder auch nicht berühmt, sich besaufen, lieben und prügeln. Frei nach der Devise: Das Leben findet jetzt statt. Morgen schon droht vielleicht der Untergang.
Unbändiger Überlebenswille
Lucia Berlin war mit diesem Leben auf der Kippe selbst bestens vertraut. Dreimal verheiratet, dann wieder geschieden. Mit vier Kindern führte sie ein nomadenhaftes Dasein mit häufigen Umzügen, hin und her zwischen Texas, Chile, New Mexiko und New York, schreibend und jobbend sich durchschlagend im Schatten der amerikanischen Künstler-Bohéme, alkoholsüchtig, dann wieder clean. Das alles ist bekannt und ist oft in den Mittelpunkt von Rezensionen gestellt worden, seitdem die fast vergessene Autorin 2015 auch für den deutschen Buchmarkt entdeckt wurde.
Aber wie nah Berlins Geschichten an ihrem eigenen Leben auch sein mögen, was allein zählen sollte und bleiben wird, das ist die Meisterschaft ihrer Erzählkunst. Ihre Stories zeigen oft nur einen Ausschnitt, eine momenthafte Episode ihrer zumeist weiblichen Hauptfiguren. Doch schon das genügt, um prekäre Milieus auszuleuchten, widersprüchliche Gefühle zwischen Angst und unbändigem Überlebenswillen zu vermitteln. In der Geschichte "Zwei Ehefrauen" treffen sich zu abendlicher Stunde zwei Alkoholikerinnen, die einst mit ein und demselben Mann verheiratet waren.
"Du hast gesagt, ich soll herkommen. Es wäre dringend."
"Wieso hast du dann so lange gebraucht? Herrje, ich agiere gerade im totalen Blackout-Modus. Säufst du noch immer? Na ja, klar, ist ja offensichtlich."
Sie schenkt ihnen beiden mehr Rum ein. Sie trinken. Decca lacht.
"Na, jedenfalls hast du trinken gelernt. Ich erinnere mich noch, wie ihr beiden frisch verheiratet wart. Ich hab dir einen Martini angeboten, und du hast gesagt ‚Nein danke. Vom Alkohol wird mir schwindlig.‘"
"Immer noch."
"Komisch, dass seine beiden Frauen Säuferinnen geworden sind."
"Noch komischer, das wir keine Junkies geworden sind."
"Ich schon", sagt Decca. "Sechs Monate. Ich hab mit dem Trinken angefangen, als ich vom Heroin loskommen wollte."
Drogen, Alkohol und wilde Nächte
Lucia Berlin sagte einmal frei nach ihrem Vorbild Anton Tschechov, dass das Leben eben so sei: jemand stirbt oder eine Liebe geht zu Ende. Man bleibt damit zurück, mit dieser Trauer, mit der Einsamkeit oder welchem Gefühl auch immer. Larmoyanz und Gefühlsduselei sind so auch diesen dialoggesättigten Geschichten fremd. Ihre Figuren, wie diese beiden alkoholkranken Frauen, reden wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, sie lachen, weinen, lallen, bekleckern sich und kriechen auf allen Vieren. Aber im größten Chaos sind sie immer noch handlungsfähig. Tief in der Nacht trennen sich die Frauen wieder. Die eine geht zurück zu ihren Kindern, die Andere versinkt in einen tiefen Schlaf. Irgendwie wird es am nächsten Morgen schon weitergehen.
Wie, das lässt Lucia Berlin in ihren Geschichten immer offen. So erfahren wir nicht, was aus der geschiedenen Claire wird, die mit ihren vier Kindern in ein Dorf zieht und dort, misstrauisch beäugt von den Bewohnern, in wilder Ehe mit einem windigen Kerl lebt. Die Geschichte mit dem Titel "Mein Leben ist ein offenes Buch" gipfelt in der chaotischen Suche nach einem verlorenen Kind. Und in "La Barca de la Illusión" ist am Schluss nicht klar, ob der Jazz-Musiker Buzz sich von seiner Drogensucht befreien kann. Seine schwangere Frau Maya hat die Hoffnung verloren:
"Maya wachte vom Pfiff der Paladin auf. Kommt das Schiff an oder fährt es ab? Ich weiß nicht, ob ich komme oder gehe. Warum mache ich Witze, wenn es am schlimmsten ist, so wie Mama? Die Paladin fuhr aus der Bucht aufs Meer hinaus. Maya blieb den heißen, schwülen Nachmittag in der Hängematte liegen. Nein, dachte sie, es wird nicht gut. Die Angst und die Trostlosigkeit fühlten sich vertraut an, wie nach Hause kommend. Asche."
Erzählvorbild Anton Tschechov
Lucia Berlins Geschichten erzählen vom aufreibenden Existenzkampf im Amerika der 40er bis 60er Jahre, von der Tristesse und Banalität des Alltags, von der Unmöglichkeit des Ehelebens – grundiert vom Jazz in den Pubs, der Hitze in New Mexiko, den Farben, Gerüchen, Speisen in wechselnden Landschaften und Gemeinschaften. Lucia Berlins Figuren sind getrieben vom wilden Verlangen nach Erleben, Nähe, Zärtlichkeit, und sie schöpfen ihre Möglichkeiten aus, wo immer sie sich bieten.
Berlins Texte leben von einer atmosphärischen Dichte, die Innen- und Außenwelt miteinander verbindet, sowie von der Lebendigkeit einer Sprache, deren Feinheiten und Besonderheiten wie Slang oder spanische Einsprengsel Antje Rávic Strubel in ihrer Übertragung hervorragend gemeistert hat. Dem Band ist ein Erinnerungstext von Lucia Berlins ältesten Sohn Mark vorangestellt. Gewünscht hätte man sich allerdings zusätzlich einen ergänzenden Essay zur literarischen Einordnung und zum Selbstverständnis dieser so außergewöhnlichen Schriftstellerin.
Lucia Berlin: "Abend im Paradies. Storys"
Kampa Verlag, Zürich. 288 Seiten, 23 Euro.