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Lucio Fontana
Vom Ende der Leinwand

Mit dem Namen Lucio Fontana verbindet man heute meist perforierte und aufgeschlitzte Leinwände. In der Retrospektive im Pariser Musée d'Art Moderne erleben Besucher aber einen anderen Fontana: einen figürlichen, dekorativen Künstler, der offenkundig auch die gnadenlose Selbstverkitschung nicht scheut.

Von Carsten Probst |
    In einem hellen Raum stehen mehrere Skulpturen des Künstlers Lucio Fontana.
    Die Retrospektive im Pariser Musée d'Art zeigt die vielen Facetten der Werke von Lucio Fontana. (AFP / Eric Feferberg)
    Die 40er-Jahre waren, so muss man es heute wohl sehen, eine ziemlich verrückte Zeit in Lucio Fontanas Leben - und zugleich die Zeit der größten Widersprüchlichkeit in seinem Werk. Aus Mailand reiste Fontana 1940 in seine argentinische Heimat auf der Flucht vor dem Zweiten Weltkrieg. Im Exil in Buenos Aires gab er dann Kurse für Studenten in figürlicher akademischer Skulptur. Das hatte er selbst gelernt, und die Pariser Ausstellung dokumentiert auch relativ ausladend Fontanas Frühwerk, in dem symbolistische, metaphysische Stile neben abstrakten und futuristischen Formexperimenten stehen.
    Während des Zweiten Weltkrieges aber musste er sich mit unter anderem mit Unterricht in klassischen Stilen über Wasser halten. Aber zugleich versuchte er sich auch weiter an seinen Formexperimenten. So setzte er sich mit der sogenannten spatialen Bewegung auseinander, einem losen Zusammenschluss von Künstlern, Autoren und Philosophen, denen es nach Ende des Krieges um ein Aufbrechen der klassischen Kunstformen ging und darum, ihnen eine räumliche, prozessuale Qualität zugeben.
    Als Fontana 1947 nach Mailand zurückkehrte, produzierte er weiter seine figurativen, mythologischen Skulpturen und Keramiken, die ganz offenkundig kommerziell gedacht waren, und fing gleichzeitig an, Leinwände zu durchlöchern, aufzuschlitzen. Diese perforierten und geschlitzten Werke sind es, die man heute mit Fontanas Namen verbindet, sein Markenzeichen sozusagen. Aber für den Besucher dieser Retrospektive ergibt sich zugleich die verwirrende Begegnung mit einem anderen Fontana, einem figürlichen, dekorativen, offenkundig auch die gnadenlose Selbstverkitschung nicht scheuenden Fontana, den man schwerlich an dieser Stelle sehen würde, gäbe es nicht eben jene anderen, radikalen Werke.
    Ende der bürgerlichen Kunst
    Man reibt sich die Augen und fühlt sich herausgefordert: Was war noch einmal der Grund für Fontanas kunsthistorischen Rang, bei dem er mitunter direkt neben Picasso, Matisse oder Kandinsky gestellt wird? Auch dies arbeitet die Ausstellung sorgfältig heraus: Lucio Fontana war unstreitig der große Brückenbauer zwischen einer radikalen Moderne etwa eines Marcel Duchamp oder Kasimir Malewitsch, bei der die Kunst als bürgerliche Institution an ihren absoluten Nullpunkt geführt worden war. Indem Fontana seit Ende der 40er-Jahre Leinwände aufschlitzt oder durchbohrt, erinnert er mit einer radikalen Geste an dieses Ende der bürgerlichen Kunst - bekundet aber zugleich, dass damit die Produktion von Kunst noch lange nicht enden müsse.
    Fontanas Schlitzbilder sind Kunst nach der Kunst, durch die geschlitzten Leinwände erhalten die Bilder eine skulpturale, räumliche, installative Qualität, man kann durch sie hindurchsehen, der Stoff kräuselt sich an den Rändern und bekommt dadurch reliefartige Strukturen. Nimmt man also Bilder als Installation, dann lässt sich mit ihnen auch weiterhin etwas machen. Genau das ist Fontanas Botschaft an die nachfolgenden Generationen, und wer will, der kann in dieser Ausstellung viele Ideen wiederfinden, die die Generationen nach ihm seit den 70er-Jahren bis heute aufgelesen haben und fortführen.
    Der andere Fontana freilich scheint ein ganz anderer Zeitgenosse zu sein, ein Selbstvermarkter, teils aus Not, wie im Zweiten Weltkrieg, teils aus Eitelkeit, denn auch seine eigenen radikalen Konzepte funktioniert er irgendwann zu Designstücken um, die der eigentlich radikalen Idee dahinter nicht unbedingt guttun. Gefühlte drei Viertel der Ausstellung sind mit diesen eher schwachen bis gänzlich grotesken Werken ausgestattet. Fontana hat kein stringentes, konsequentes Werk vorzuweisen, und es ist ein großes Verdienst, dass diese Ausstellung sich diesem Widerspruch stellt, dass sie das Publikum herausfordert, seine Kriterien zurechtzurücken und nicht einfach vor den Altären der Kunstgeschichte auf die Knie zu fallen.