Zugegeben: Es wäre nur eine nutzlose gymnastische Übung in kontrafaktischer Geschichtsschreibung, wenn man sich ausmalte, dieser verregnete Tag im Juni des Jahres 1775 wäre anders verlaufen. Nutzlos, aber reizvoll, sich auszumalen, Ludwig XVI. wäre nicht ignorant und hochnäsig in seiner Kutsche sitzen geblieben, während ein 16-jähriger Schüler des College Louis-Le-Grand sich neben der Karosse im strömenden Regen in den Straßenschmutz warf, um dem Monarchen eine Eloge darzubieten:
Der Wagenschlag wurde geöffnet, vor der Karosse, den Kopf unbedeckt und auf die Knie gesunken, sprach der Eliteschüler seine hymnischen Verse in Richtung des Wageninneren. Sie blieben ohne Antwort und Reaktion. Dann schloss sich die Karossentür, der königliche Zug setzte seinen Weg fort.
Der Monarch war auf der Rückreise von Reims, wo er gerade gekrönt und gesalbt worden war. Der Jüngling, der mit seiner Darbietung nichts als königliche Missachtung erntete, war Maximilien de Robespierre – der Mann, der Ludwig XVI. 18 Jahre später auf das Schafott schickte. Ludwig der XVI., geboren 1754 als zweiter Sohn des Dauphins Ludwig Ferdinand. Als er in Anwesenheit des gesamten Hofes das Licht der Welt erblickt, konnte es als unwahrscheinlich gelten, dass er jemals auf dem Thron Frankreichs Platz nehmen würde. Doch der frühe Tod zunächst seines Bruders und dann seines Vaters katapultiert ihn im Alter von elf Jahren an die erste Position in der Thronfolge. Das war 1767. Schon als Herzog von Berry, ein Titel, den er von Geburt an führte, erst recht aber nach dem Tod seines Vaters wurde der junge Ludwig einem ebenso ausgeklügelten wie unerbittlichen Erziehungsprozess unterworfen. Hier, in dieser frühen Phase, verortet Uwe Schultz die Grundlegung für die Unfähigkeit Ludwigs, das Land durch jene Stürme zu führen, die die Revolution über Frankreich bringen sollte. Vor allem ein Buch war es, das zur Prägung Ludwigs des XVI. beitrug, ein Fürstenspiegel, den Bischof Fénélon Ende des 17. Jahrhunderts verfasst hatte und der seitdem zum Bildungskanon aller französischen Thronfolger, also auch Luwigs des XVI. zählte:
Uwe Schultz: "Er ist ja erzogen worden in der Tradition des Telemach-Buches, das ist ein politischer Bildungsroman gewesen, 1699 erschienen, wo dem König vorgehalten wird, dass er niemals Krieg führen darf, dass er immer ein Hirte seines Volkes sein soll."
Ein Kontrast zu seinem an sich harten und schroffen Charakter, was dazu führt, dass Ludwig das Zaudern und Zögern, die Unfähigkeit, Entscheidungen auch durchzusetzen, schon früh mit auf den Weg gegeben war. Hinzu kommt seine unerschütterliche Überzeugung, die Monarchie gegen jede Form der Parlamentarisierung schützen zu müssen. Ein Konglomerat, das mit dem Zusammentreten der Generalstände im Mai 1789 dem Aufstand gegen die Monarchie den Weg ebnete:
"Es gab keinen Anlass, auf das Königtum zu verzichten, und so ist er nicht mehr Herr der Ereignisse gewesen. Das alles zeigt, dass er nicht gewagt hat, sich vor seine Politik zu stellen und diese Politik auch notfalls mit Gewalt durchzusetzen."
Mitglied der Generalstände ist auch ein junger Rechtsanwalt aus Arras, dem Ludwig XVI. 14 Jahre zuvor schon einmal begegnet war: Maximilien de Robespierre. Geboren 1758, ein Stipendium ermöglichte dem ehrgeizigen Schüler das Studium der Rechte. Geprägt haben ihn aber insbesondere die Schriften Jean Jacques Rousseaus. Sie wurden sein Leitfaden, anhand dessen er sich, nach anfänglicher, seiner Unerfahrenheit geschuldeter Zurückhaltung, in der Nationalversammlung immer klarer positionierte:
"Bei Robespierre war es ganz klar die Linie von Rousseaus Gesellschaftsvertrag, und mit Rousseau wird dieser Fanatismus in die Politik gebracht. Robespierre übernimmt das dann und das setzt sich dann fort über die Pariser Commune bis zum Sowjetsystem."
Robespierres Aufstieg zur Macht verlief alles andere als geradlinig. In der Nationalversammlung war er zunächst ein Außenseiter, der, gestützt auf seinen politisch-moralischen Rigorismus, Sondergerichte für Verräter am Wohl der Nation verlangte. Selbstzweifel blieben dem "Unbestechlichen" zeitlebens fremd. Seine Machtbasis war der Club der Jakobiner, deren Präsident er im März 1790 wurde. Zweieinhalb Jahre später führte er die Bergpartei in der Nationalversammlung an. Der Fluchtversuch Ludwigs des XVI. im Juni 1791, der Beginn der Revolutionskriege, der Sturm auf das königliche Schloss in den Tuilerien im August und das Massaker, das der Pariser Mob im September 1792 an den Häftlingen der städtischen Gefängnisse verübt hatte, lagen da bereits hinter dem Land. Die Nationalversammlung verhandelte über das Schicksal des Bürgers Capet, wie der abgesetzte Monarch nun hieß.
Ihr habt keineswegs ein Urteil zu sprechen für oder gegen einen Menschen, rief Robespierre den Abgeordneten am 3. Dezember 1792 zu, sondern eine Maßnahme des öffentlichen Wohls zu vollziehen, einen Akt der nationalen Weitsicht zu vollstrecken.
Sechs Wochen später, am 21. Januar 1793 steigt Ludwig XVI. auf das Schafott. Dort stirbt auch Robespierre, nur eineinhalb Jahre später. Die Zeit bis dahin sieht den Aufstieg der Pariser Commune zum entscheidenden Machtfaktor der französischen Politik, den Sieg der Straße über die Institutionen der Verfassung. Schultz zeigt Robespierre, unbeugsam wie je, als souveränen Taktiker, wenn auch nicht immer ohne Zögern, der die Macht der Commune instrumentalisiert und schließlich die Führung des Wohlfahrtsausschusses erobert. Umgehend präsentiert der Anwalt aus Arras in diesem Moment seinen "Plan zur nationalen Erziehung".
"Es ist dieses ewig wieder grausam hervortretende Moment, zu sagen, wir müssen einen 'Neuen Menschen' kreieren: Diese Form einen 'Neuen Menschen' zu kreieren ist eben ein Indiz für einen mörderischen Fanatismus."
Der "Grande Terreur", die sich nun entfaltete, fielen einige Zehntausend Menschen zum Opfer. Für Robespierre war sie nichts anderes als unmittelbare, strenge, unbeugsame Gerechtigkeit; sie ist also Ausfluss der Tugend.
Ganz zufrieden stellen kann die Doppelbiografie nicht. Die Schilderung der Protagonisten ist zuweilen schablonenhaft geraten. Die Tatsache, dass die Geschichtsschreibung unterschiedliche Deutungen ihres Handelns und ihrer Charaktere hervorgebracht hat, ist Schultz keine Erörterung wert. Als konzise Schilderung der Vorgeschichte und der ersten Phasen der Französischen Revolution allerdings überzeugt das Buch.
Peter Kapern über Uwe Schultz: Der König und sein Richter. Ludwig XVI. und Robespierre – eine DoppelBiografie. Das Buch kommt aus dem C.H. Beck Verlag, umfasst 400 Seiten und kostet 24 Euro und 95 Cent, ISBN: 978-3-406-62924-2.
Der Wagenschlag wurde geöffnet, vor der Karosse, den Kopf unbedeckt und auf die Knie gesunken, sprach der Eliteschüler seine hymnischen Verse in Richtung des Wageninneren. Sie blieben ohne Antwort und Reaktion. Dann schloss sich die Karossentür, der königliche Zug setzte seinen Weg fort.
Der Monarch war auf der Rückreise von Reims, wo er gerade gekrönt und gesalbt worden war. Der Jüngling, der mit seiner Darbietung nichts als königliche Missachtung erntete, war Maximilien de Robespierre – der Mann, der Ludwig XVI. 18 Jahre später auf das Schafott schickte. Ludwig der XVI., geboren 1754 als zweiter Sohn des Dauphins Ludwig Ferdinand. Als er in Anwesenheit des gesamten Hofes das Licht der Welt erblickt, konnte es als unwahrscheinlich gelten, dass er jemals auf dem Thron Frankreichs Platz nehmen würde. Doch der frühe Tod zunächst seines Bruders und dann seines Vaters katapultiert ihn im Alter von elf Jahren an die erste Position in der Thronfolge. Das war 1767. Schon als Herzog von Berry, ein Titel, den er von Geburt an führte, erst recht aber nach dem Tod seines Vaters wurde der junge Ludwig einem ebenso ausgeklügelten wie unerbittlichen Erziehungsprozess unterworfen. Hier, in dieser frühen Phase, verortet Uwe Schultz die Grundlegung für die Unfähigkeit Ludwigs, das Land durch jene Stürme zu führen, die die Revolution über Frankreich bringen sollte. Vor allem ein Buch war es, das zur Prägung Ludwigs des XVI. beitrug, ein Fürstenspiegel, den Bischof Fénélon Ende des 17. Jahrhunderts verfasst hatte und der seitdem zum Bildungskanon aller französischen Thronfolger, also auch Luwigs des XVI. zählte:
Uwe Schultz: "Er ist ja erzogen worden in der Tradition des Telemach-Buches, das ist ein politischer Bildungsroman gewesen, 1699 erschienen, wo dem König vorgehalten wird, dass er niemals Krieg führen darf, dass er immer ein Hirte seines Volkes sein soll."
Ein Kontrast zu seinem an sich harten und schroffen Charakter, was dazu führt, dass Ludwig das Zaudern und Zögern, die Unfähigkeit, Entscheidungen auch durchzusetzen, schon früh mit auf den Weg gegeben war. Hinzu kommt seine unerschütterliche Überzeugung, die Monarchie gegen jede Form der Parlamentarisierung schützen zu müssen. Ein Konglomerat, das mit dem Zusammentreten der Generalstände im Mai 1789 dem Aufstand gegen die Monarchie den Weg ebnete:
"Es gab keinen Anlass, auf das Königtum zu verzichten, und so ist er nicht mehr Herr der Ereignisse gewesen. Das alles zeigt, dass er nicht gewagt hat, sich vor seine Politik zu stellen und diese Politik auch notfalls mit Gewalt durchzusetzen."
Mitglied der Generalstände ist auch ein junger Rechtsanwalt aus Arras, dem Ludwig XVI. 14 Jahre zuvor schon einmal begegnet war: Maximilien de Robespierre. Geboren 1758, ein Stipendium ermöglichte dem ehrgeizigen Schüler das Studium der Rechte. Geprägt haben ihn aber insbesondere die Schriften Jean Jacques Rousseaus. Sie wurden sein Leitfaden, anhand dessen er sich, nach anfänglicher, seiner Unerfahrenheit geschuldeter Zurückhaltung, in der Nationalversammlung immer klarer positionierte:
"Bei Robespierre war es ganz klar die Linie von Rousseaus Gesellschaftsvertrag, und mit Rousseau wird dieser Fanatismus in die Politik gebracht. Robespierre übernimmt das dann und das setzt sich dann fort über die Pariser Commune bis zum Sowjetsystem."
Robespierres Aufstieg zur Macht verlief alles andere als geradlinig. In der Nationalversammlung war er zunächst ein Außenseiter, der, gestützt auf seinen politisch-moralischen Rigorismus, Sondergerichte für Verräter am Wohl der Nation verlangte. Selbstzweifel blieben dem "Unbestechlichen" zeitlebens fremd. Seine Machtbasis war der Club der Jakobiner, deren Präsident er im März 1790 wurde. Zweieinhalb Jahre später führte er die Bergpartei in der Nationalversammlung an. Der Fluchtversuch Ludwigs des XVI. im Juni 1791, der Beginn der Revolutionskriege, der Sturm auf das königliche Schloss in den Tuilerien im August und das Massaker, das der Pariser Mob im September 1792 an den Häftlingen der städtischen Gefängnisse verübt hatte, lagen da bereits hinter dem Land. Die Nationalversammlung verhandelte über das Schicksal des Bürgers Capet, wie der abgesetzte Monarch nun hieß.
Ihr habt keineswegs ein Urteil zu sprechen für oder gegen einen Menschen, rief Robespierre den Abgeordneten am 3. Dezember 1792 zu, sondern eine Maßnahme des öffentlichen Wohls zu vollziehen, einen Akt der nationalen Weitsicht zu vollstrecken.
Sechs Wochen später, am 21. Januar 1793 steigt Ludwig XVI. auf das Schafott. Dort stirbt auch Robespierre, nur eineinhalb Jahre später. Die Zeit bis dahin sieht den Aufstieg der Pariser Commune zum entscheidenden Machtfaktor der französischen Politik, den Sieg der Straße über die Institutionen der Verfassung. Schultz zeigt Robespierre, unbeugsam wie je, als souveränen Taktiker, wenn auch nicht immer ohne Zögern, der die Macht der Commune instrumentalisiert und schließlich die Führung des Wohlfahrtsausschusses erobert. Umgehend präsentiert der Anwalt aus Arras in diesem Moment seinen "Plan zur nationalen Erziehung".
"Es ist dieses ewig wieder grausam hervortretende Moment, zu sagen, wir müssen einen 'Neuen Menschen' kreieren: Diese Form einen 'Neuen Menschen' zu kreieren ist eben ein Indiz für einen mörderischen Fanatismus."
Der "Grande Terreur", die sich nun entfaltete, fielen einige Zehntausend Menschen zum Opfer. Für Robespierre war sie nichts anderes als unmittelbare, strenge, unbeugsame Gerechtigkeit; sie ist also Ausfluss der Tugend.
Ganz zufrieden stellen kann die Doppelbiografie nicht. Die Schilderung der Protagonisten ist zuweilen schablonenhaft geraten. Die Tatsache, dass die Geschichtsschreibung unterschiedliche Deutungen ihres Handelns und ihrer Charaktere hervorgebracht hat, ist Schultz keine Erörterung wert. Als konzise Schilderung der Vorgeschichte und der ersten Phasen der Französischen Revolution allerdings überzeugt das Buch.
Peter Kapern über Uwe Schultz: Der König und sein Richter. Ludwig XVI. und Robespierre – eine DoppelBiografie. Das Buch kommt aus dem C.H. Beck Verlag, umfasst 400 Seiten und kostet 24 Euro und 95 Cent, ISBN: 978-3-406-62924-2.