Archiv


Lücke überbrückt

Neurologie. - Ist das Rückenmark eines Menschen verletzt, ist eine Bewegung der Gliedmaßen meistens nicht mehr möglich. Die Verbindung zwischen Gehirn und Körper ist gestört. Nun wurde eine Methode vorgestellt, mit der Nervenzellen Richtung Gehirn nachwachsen können – zumindest bei Laborratten. Die Wissenschaftsjournalistin Kristin Raabe berichtet im Gespräch mit Gerd Pasch.

    Pasch: Schon seit langem versuchen Wissenschaftler, durchtrennte Nervenfasern im Rückenmark wieder zum wachsen zu bringen. Und in Tierversuchen klappt das mit den unterschiedlichen Methoden zum Teil recht gut. Jetzt stellen Wissenschaftler in der Fachzeitschrift "Nature Neuroscience" eine weitere Methode vor, mit der Nervenfasern wieder zum wachsen gebracht werden sollen. Diesmal allerdings wachsen die Fasern nach oben und nicht nach unten, zu den Beinen etwa. Was es damit auf sich hat, das kann mir jetzt Kristin Raabe sicherlich erklären, willkommen im Studio. Warum wachsen die Nervenfasern in diesem beschriebenen Experiment nach oben und nicht nach unten?

    Raabe: Ja, die Fasern wachsen ins Gehirn. Also nicht in die Richtung der Gliedmaßen im Rückenmark. Genauer gesagt wachsen sie ins Stammhirn, von wo aus die Wahrnehmung gesteuert wird der Gliedmaßen. Zum ersten Mal ist es den Wissenschaftlern überhaupt gelungen, Nervenfasern wirklich gezielt in ein Hirngebiet einwachsen zu lassen. Die Fasern haben aber nicht nur ihr Ziel gefunden, was erst einmal schon ein großer Erfolg war, sie haben sich sogar sinnvoll mit den dortigen Nervenzellen auch verschaltet.

    Pasch: Wieso ist es nach einer Rückenmarksverletzung überhaupt sinnvoll, dass Nervenfasern wieder ins Gehirn wachsen? Ist es denn nicht viel wichtiger, dass die Verbindungen vom Gehirn über das Rückenmark in die Gliedmaßen wieder funktioniert - damit überhaupt wieder Bewegung möglich ist?

    Raabe: Ja, für die Bewegung ist das sicherlich ganz wichtig, dass erst einmal die Verbindung quasi von oben nach unten funktioniert, aber es muss auch wirklich funktionieren, dass man da die Verbindung hat von den Armen oder den Beinen, also von den Gliedmaßen, dass man da auch Eingänge hat. Denn das Gehirn braucht Informationen darüber, wo sich die Arme befinden. Wie die Position ist aber auch die Sinneswahrnehmung und die Tastempfindung. Das ist ja alles bei Menschen mit einer Querschnittlähmung in der Regel gestört. Die haben ja keine Empfindung mehr an den Füßen, an den Beinen oder auch an den Armen.

    Pasch: Wie haben die Forscher denn das genau gemacht, dass die Nervenfasern ins Gehirn wachsen?

    Raabe: Die Forscher haben einen Wachstumsfaktor benutzt. Den haben sie in dem Zielgebiet quasi injiziert. Also bei Ratten und Mäusen, das muss man jetzt dazu sagen, Ratten, um genau zu sein. Und dieser Wachstumsfaktor, der wird von den nachwachsenden Nervenfasern regelrecht erschnüffelt. Also die bewegen sich dann in die Richtung, wo die Konzentration von diesem Wachstumsfaktor immer größer wird. Und dadurch haben sie dann gewusst, wo sie lang müssen und sind eben nicht in ein falsches Hirngebiet eingewachsen. Die Forscher haben das auch mal probiert in einem zweiten Versuch, in dem sie einfach gesagt haben: okay, das Stammhirn, da wollen wir sie haben, und wir nehmen jetzt mal ein anderes Hirngebiet und gucken mal, ob wir die auch in die falsche Richtung lotsen können. Und das hat auch funktioniert – erstaunlicherweise. Aber sinnvoll ist es natürlich, sie dahin zu führen, wo man sie auch haben will. Aber es funktioniert eben wirklich, dass die Nervenfasern dahin wollen, wo sie eben diesen Wachstumsfaktor erschnüffeln.

    Pasch: Das haben sie in Tierversuchen gemacht. Wann könnte denn so etwas am Menschen erprobt werden?

    Raabe: Also ganz sicher ist, dass noch ganz viele Experimente gemacht werden müssen, in Tierversuchen. Das ist jetzt ein erster Erfolg und das ist auch auf jeden Fall spannend, dass es geklappt hat. Aber jetzt auch bei diesem Experiment fehlt beispielsweise noch den nachwachsenden Nervenfasern die Isolierschicht, die sogenannte Myelinscheide. Und genau wie bei einem schlecht oder gar nicht isoliertem Kabel, funktionieren Nervenfasern ohne Isolierung auch nicht richtig. Das Problem müssen die Forscher auf jeden Fall als erstes in den Griff kriegen. Und dann kommt noch hinzu, dass es beim Menschen um ganz andere Distanzen geht als jetzt bei einer Laborratte. Also bei der Ratte mussten etwa vier Millimeter überwunden werden, zwischen Verletzung im Rückenmark, im Bereich der Halswirbelsäule, und im Stammhirn und beim Menschen sind das eben etliche Zentimeter bis zu einem halben Meter. Und, was ganz vielen anderen Studien, wo es um nach unten nachwachsende Nervenfasern ging, wissen wir ja, dass vieles, was beim kleinen Vierbeiner funktioniert, beim Menschen nicht funktioniert. Also manchmal kommt das einem so vor, als wäre Querschnittlähmung bei kleinen Nagern schon seit 20 Jahren kein Problem. Aber auf den ersten geheilten menschlichen Querschnittgelähmten warten wir immer noch.