Archiv

Lüneburger Auschwitz-Prozess
"Rechtlich aufgearbeitet werden kann es nicht"

Das Schuldeingeständnis von Oskar Gröning sei eindrucksvoll gewesen, sagte der Historiker Michael Wolffsohn im DLF. Die scheingerechte Aufarbeitung der Taten des früheren Buchhalters im Konzentrationslager Auschwitz solle jedoch nicht fortgesetzt werden. Ein derartiges Rechtsverfahren könne keine Gerechtigkeit schaffen, sagte Wolffsohn.

Michael Wolffsohn im Gespräch mit Christiane Kaess |
    Oskar Gröning sitzt mit verschränkten Armen auf der Anklagebank.
    Der Angeklagte Oskar Gröning im Gerichtssaal in Lüneburg. (dpa / Ronny Hartmann)
    Peter Kapern: Weißes Hemd, beiger Strickpullover, auf einen Rollator gestützt, so betrat Oskar Gröning gestern das Landgericht in Lüneburg. Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen lautet der Tatvorwurf. Er soll als Freiwilliger der Waffen-SS im Konzentrationslager Auschwitz Teil der Tötungsmaschinerie der Nazis gewesen sein. Gleich am ersten Prozesstag räumte Gröning eine moralische Mitschuld ein, und das hat man auch in Polen aufmerksam verfolgt. Vor allem aber treibt die Menschen dort die Frage um: Warum kommt es erst jetzt zu diesem Prozess, rund 70 Jahre nach den Massenmorden.
    Mehrere Stunden lang sagte Gröning gestern aus, sagte, er fühle sich moralisch schuldig, sei aber nur ein Rädchen im Getriebe gewesen. Meine Kollegin Christiane Kaess hat den Historiker und Publizisten Michael Wolffsohn gestern Abend gefragt, ob es denn möglich gewesen sei, in Auschwitz beteiligt gewesen zu sein, ohne sich schuldig zu machen.
    Michael Wolffsohn: Nein, das geht nicht, und das hat er ja im Grunde genommen auch selber gesagt. Ich fand das heutige Plädoyer für sich selbst und über sich selbst eindrucksvoll. Er hat gesagt, was Sache war, und er hat die moralische Schuld auf sich genommen. Er hat darüber hinaus völlig zurecht gesagt, was ein Angeklagter auch gar nicht anders sagen könnte, dürfte, würde, dass über die juristische Schuld nicht er zu befinden habe.
    Also ich finde das durchaus bemerkenswert und sehe auch keinen großen Sinn in der scheingerechten Aufarbeitung durch Gericht und Gerechtigkeit mit einem zu erwartenden Höchsturteil von drei Jahren. Da frage ich Sie: Über 300.000 Märtyrer und dann drei Jahre? - Wie Sie das Ganze drehen und wenden, rechtlich aufgearbeitet werden kann es nicht. Es handelt sich um moralische Schuld. Die ist dauerhaft, es ist eine metaphysische Schuld auch, zu der bekennt er sich. Was noch mehr? Ob er nun drei Jahre im Gefängnis sitzt oder nicht?
    Christiane Kaess: Herr Wolffsohn, was meinen Sie mit scheingerecht? Wäre es besser, der Prozess würde nicht stattfinden?
    Prozess sollte "nicht fortgesetzt werden"
    Wolffsohn: Er sollte nicht fortgesetzt werden. Ich glaube, dass die Verbreitung dieses Schuldeingeständnisses, dieses eindrucksvollen Schuldeingeständnisses viel wichtiger, dauerhafter wirkt als die mögliche Tatsache, dass dieser Schuldige drei Jahre im Gefängnis sitzt. Noch einmal: 300.000 Märtyrer, drei Jahre, das ist doch in keinem Verhältnis zueinander. Das heißt, wenn ich Gerechtigkeit anstrebe durch ein derartiges Rechtsverfahren, sehe ich keine Gerechtigkeit darin.
    Kaess: Aber was wäre das, ein Prozess ohne Urteil und noch dazu in so einem Fall? Da würde doch ein Aufschrei durch die Öffentlichkeit gehen.
    Wolffsohn: Nein! Die Öffentlichkeit müsste darüber nachdenken. Es handelt sich bei Auschwitz im Besonderen und beim Holocaust im Allgemeinen um ein ganz einzigartiges Verbrechen und das kann man nicht jetzt nach Schema F juristisch abhandeln, zumal - ich wiederhole absichtlich - drei Jahre für die Beihilfe zur Ermordung von 300.000 Menschen geradezu lächerlich wirkt.
    Kaess: Herr Wolffsohn, Sie haben jetzt dieses moralische Schuldbekenntnis von Oskar Gröning gelobt. Es gibt aber auch Opfer, die werfen Gröning vor, er habe vor allem über sich selbst gesprochen und eben nicht über ihre Seite. Versucht Gröning vielleicht auch ein bisschen, die eigene Schuld zu reduzieren?
    "Ich sehe nicht, dass man auf dem Rechtsweg Gerechtigkeit erreichen kann"
    Wolffsohn: Das kann ich nicht bemerken. Und natürlich kann er nur über sich und für sich sprechen, und indem er Schuld auf sich nimmt, bekennt er sich zu dem entsetzlichen, nie wieder gut zu machenden Leid der Opfer, und insofern kann ich diesen Vorwurf nicht nachvollziehen. Ich bin der Allerletzte, der diesen Angeklagten reinwaschen würde oder wollte, aber ich sehe nicht, dass man auf dem Rechtsweg die Gerechtigkeit erreichen kann und vor allem auch die pädagogische Wirkung eines solchen Prozesses.
    Wenn man dieses Schuldbekenntnis eines Täters voraussetzt, verbreitet, darüber diskutiert, da ergeben sich unglaublich wichtige Perspektiven: Ist Schuld, die unbestreitbar ist, ein Ausschlussgrund, um ein neues Leben anzufangen? Wenn ja, wie? Ist für dieses neue Leben mit dem scheinbaren oder auch tatsächlichen Vergessen nur die Schuld des Täters gemeint, oder auch seiner Umwelt, die diese Straftaten, diese Verbrechen nicht sehen will? Das ist doch das Thema, mit dem wir uns beschäftigen müssen, und nicht mit der Frage, kriegt er jetzt ein Jahr, zwei oder drei Jahre, oder gar nichts.
    Kaess: Würden Sie so weit gehen, dass Oskar Gröning vor diesem ausreichenden oder sehr offenen Schuldbekenntnis auch als mutiger Mann zu bezeichnen ist?
    Wolffsohn: Ach das sind doch alles Vokabeln, um die es nicht geht dabei. Dieser Mann zeigt, gespielt oder nicht, Zerknirschtheit, und dieses Zeichen der Zerknirschtheit zeigt doch folgendes: Ja, ich habe entsetzliche Schuld auf mich geladen. Und ob dieser Mann nun jetzt drei oder sogar 30 Jahre im Gefängnis säße, diese Schuld, um die weiß er. Das ist sozusagen das ständige Gefängnis in ihm selbst. Darüber hinaus weiß keiner, gibt es so etwas wie das Jüngste Gericht oder nicht. Die einen sagen, das gibt es nicht, die anderen sagen, es gibt es, keiner weiß es. Aber jeder beschäftigt sich doch mit der Frage, wie kann ich möglicherweise, wenn es denn nach dem Tod etwas gibt, vor Gott oder vor welcher Instanz auch immer bestehen nach dem eigenen Tod.
    Kapern: Der Historiker Michael Wolffsohn im Gespräch mit meiner Kollegin Christiane Kaess.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.