Die Bagger von RWE graben sich inzwischen keine hundert Meter vor der Ortschaft Lützerath durch den Boden. "Die Kohle unter Lützerath wird diesen Winter benötigt", betonte RWE-Pressesprecher Guido Steffen am 7. Januar im Deutschlandfunk. Das sehen die Aktivisten, die in Lützerath für den Erhalt der Ortschaft kämpfen, anders. Eine neue wissenschaftliche Studie gibt ihnen recht.
Wissenschaftler der „Fossil Exit Group“, in der Forscher der Europa-Universität Flensburg, der Technischen Universität Berlin und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung mitarbeiten, haben errechnet, dass der Kohlebedarf aus dem Tagebau Garzweiler auch gedeckt werden kann, wenn Lützerath erhalten bleibt. Nach ihrer jüngsten Studie gilt dieses Ergebnis auch trotz des erhöhten Kohlestrombedarfs in Folge fehlender Erdgaslieferungen aus Russland.
Die Studie besagt, dass für die angebundenen Kraftwerke bis 2030 noch ein maximaler Bedarf von 271 Millionen Tonnen Braunkohle besteht. Allerdings seien schon 300 Millionen Tonnen genehmigt worden, und zwar ohne die Region um Lützerath herum. Der prognostizierte Bedarf an Braunkohle könne somit definitiv auch ohne einen Abbau unter dem Dorf gedeckt werden, sagte Catharina Rieve, eine der Autorinnen der Studie, dem Deutschlandfunk am 8. Januar vor Ort in Lützerath.
RWE stützt sich auf andere Zahlen
RWE hingegen argumentiert mit einer Studie von NRW.Energy4Climate und BET aus dem September 2022, die das Wirtschaftministerium des Landes Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegeben hat. In der Studie entwerfen die Autoren drei Szenarien für den Kohlebedarf aus dem Tagebau Garzweiler – auch im Szenario mit dem geringsten Kohlebedarf sollen die Kraftwerke demnach auf einen Kohleabbau unter Lützerath angewiesen.
Die Studie prognostiziert für 2023 einen Mindestbedarf von 31 Millionen Tonnen Kohle aus dem Tagebau Garzweiler. Würde man Lützerath verschonen, sei allerdings nur ein Abbau von 14 bis 19 Millionen Tonnen möglich. Die Autoren gehen davon aus, dass sich der Bedarf an Kohle in den Folgejahren dann tendenziell verringert, 2030 liege die mindestens benötigte Menge Kohle nur noch bei neun Millionen Tonnen. Ohne die Region um Lützerath könne im Tagebau Garzweiler aber erst ab dem Jahr 2028 wieder ausreichend Kohle gewonnen werde.
Ganz anders sieht die Abschätzung aus, wenn die Autoren einen Abbau der Kohle unter Lützerath einplanen. Dann reicht die Kohle sogar in fast allen Jahren für den maximal prognostizierten Bedarf. Nur im Jahr 2023 könnten drei Millionen Tonnen Kohle fehlen.
Doch die Zahlen, auf die sich RWE bezieht werden von zahlreichen Wissenschaftlern angezweifelt. Die Studie von NRW.Energy4Climate sei in kürzester Zeit entstanden und basiere auf Fehlannahmen, so Rieve vom Institut Energie und Umweltmanagement an der Europa-Universität Flensburg. Eine alternative Tagebauplanung ohne Lützerath sei möglich und könne den Kohlebedarf decken. Das Forscherteam um Rieve hat in ihren Studien auch eine alternative Planung für den Abbau vorgeschlagen, diese habe allerdings betriebswirtschaftliche Nachteile für RWE.
RWE hingegen betont, dass die Gutachten, auf die sich das Unternehmen stützt, unabhängig erstellt wurden – und dass andere Gutachten fehlerhaft seien. "In einigen dem Unternehmen bekannten Gutachten mit anderen Ergebnissen waren zum Beispiel Grundannahmen falsch bemessen, auch die Komplexität der Tagebauführung und die Rekultivierung wurden häufig nicht beachtet", antwortete RWE-Pressesprecher Guido Steffen am 9.1.2023 auf eine Anfrage des Deutschlandfunk.
Steffen betonte dabei auch, dass es nicht nur um die Kohle gehe. Der Tagebau Garzweiler nähere sich der Abschlussphase, es gehe inzwischen daher auch stark um die zukünftige Landschaftsgestaltung. Kiese, Sande und Löss aus dem Bereich Lützerath würden gebraucht, um die Böschungen für die zukünftigen Seen zu schaffen und um für lückenlos fruchtbare Ackerböden zu sorgen.
Doch auch diese Angaben werden von unabhängigen Wissenschaftlern bestritten. Dass den Angaben von RWE so stark misstraut wird, hängt auch mit Falschangaben des Konzerns im Streit um den Hambacher Forst zusammen. Der damalige RWE-Chef Rolf Martin Schmitz hatte beispielsweise in der Frankfurter Rundschau behauptet, dass es keine Chance gebe, den Wald stehen zu lassen. "Ohne die Kohle aus Hambach steht der Betrieb still", hatte Schmitz behauptet. Zu einem Stillstand kam es trotz der abgesagten Rodung jedoch nicht.
Nach Daten des geologischen Dienstes des Landes NRW liegen unter Lützerath besonders ergiebige Braunkohlevorkommen. „Es ist einfach betriebswirtschaftlich für RWE günstiger, Lützerath noch abzubaggern“, sagte Rieve von der „Fossil Exit Group“ dem Deutschlandfunk. Denn hier liege die Kohle deutlich dichter als unter dem bereits völlig devastierten Ort Immerath. Es müsse also weniger Abraum aus dem Tagebau entfernt werden.
Lützerath nimmt zudem für den Aktivismus gegen die Kohleverstromung eine bedeutende Rolle ein. Zum einen symbolisch, zum anderen aber auch strukturell. Die Aktivisten vor Ort kämpfen nicht nur für den Erhalt von Lützerath, sie kämpfen auch für einen noch deutlich früheren Ausstieg aus der Kohleverstromung. Und mit Lützerath haben die Aktivisten aktuell einen Anlaufpunkt direkt an der Kante des Tagebaus, um von dort Aktionen zu starten, die den Betriebsablauf von RWE stören könnten.
„Der geplante Kohlebedarf ist nicht mit dem 1,5-Grad-Ziel in Einklang zu bringen“, sagte Rieve in Lützerath. Um die Klimaziele einzuhalten, dürften nur noch weniger als 25 Millionen Tonnen Kohle aus dem Tagebau Garzweiler abgebaut werden - also nur zehn Prozent der geplanten Menge. Um im Einklang mit dem Pariser Klimaschutzabkommen zu wirtschaften, hätte RWE den Tagebau Garzweiler II demnach seit dem Jahr 2021 nicht mehr weiter vergrößern dürfen.
Nach einer Studie des Beratungsunternehmens Aurora Energy Research wird der vorgezogene Kohleausstieg zudem keinen Emissionsmindernden Effekt haben. Denn nach 2030 werde Braunkohleverstromung ohnehin nicht mehr profitabel möglich sein. Schon aufgrund der Profitorientierung hätte es demnach einen Kohleausstieg vor 2038 gegeben.
Der Kohlekompromiss führe sogar im Gegenteil zu einer Steigerung der Emissionen im Vergleich zu den ursprünglichen Planungen. Denn kurzfristig werde mehr Kohle als geplant verfeuert und damit 61 Millionen Tonnen mehr an CO2 emittiert. Deutschland werde dadurch seine Klimaziele im Energiesektor verfehlen.
Laut einer Pressemitteilung soll der Kohle-Kompromiss 280 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Diese Einsparung wurde jedoch ausgehend von der noch vorhandenen Gesamtmenge der Kohlereserve für den Tagebau berechnet. 560 Millionen Tonnen sind demnach noch abbaubar. Nach Zahlen der „Fossil Exit Group“ hätten diese 560 Millionen Tonne allerdings selbst bei Vollauslastung der Kraftwerke rein technisch nicht bis zum zuvor geplanten Ausstieg im Jahr 2038 verbrannt werden können.
Quellen: Fossil Exit Group, RWE, NRW.Energy4Climate, Geologischer Dienst NRW, Bundesministerium für Wirtschaft, Tobias Pastoors