Da stehen in Sechserreihe, vierfach übereinander gestapelt ganz gewöhnliche Holzkisten: Archiv-Container für abertausende handschriftliche Notizzettel eines, ach was: des Soziologen des 20. Jahrhunderts. Weshalb Friedrich Meschede, Direktor der Bielefelder Kunsthalle, das Büro-Möbel denn auch unter dickem Panzerglas präsentiert:
"Der Zettelkasten von Niklas Luhmann bleibt vielleicht ein Wissenschaftsfetisch oder – Reliquie, je nach Weltanschauung. Es ist für mich die Einladung, Zusammenhänge in der Welt zu entdecken, die so noch nicht gesehen oder gedacht worden sind."
Gedankenflüge wollen sich vor der kostbarsten Immobilie bundesdeutschen Geisteslebens allerdings nicht einstellen, da hilft weder Anstarren noch genaues Hingucken. Zumal Berühren oder gar die eigenhändige Zettelwirtschaft streng verboten sind. Also hat Meschede zwei Künstler eingeladen, zu konkretisieren, vor Augen zu führen, was der Kopfarbeiter Luhmann als Grundprinzip seines intellektuellen Lieblings-Werkzeugs beschrieb:
"Ich denke ja nicht alles allein, sondern das geschieht weitgehend im Zettelkasten."
Geometrische Zeichnungen von Ulrich Rückriem
Es geht also um Verknüpfungen, um Assoziationen von zuvor Gelesenem, bereits einmal Gedachtem – nicht um Geniestreiche aus heiterem Himmel. Eine Arbeitsweise, die Ulrich Rückriem, von Haus aus Bildhauer, mit geometrischen Zeichnungen vorführt: Flächen werden geteilt, nochmals geteilt, schwarz, weiß und in den Primärfarben koloriert. Oder quadratische Felder nach einem Prinzip der Schach-Mathematik angeordnet, so dass keine der acht Damen eine andere schlagen kann. Oder sieben Punkte auf dem Papier verteilt und durch Linien verbunden.
Ein abstraktes Konzept, das vogelähnliche Figuren hervorbringt. Es sind simple, leicht durchschaubare Prinzipien, die Rückriem unermüdlic h durchdekliniert. Diese Exerzitien wirken leicht und spielerisch. Aber dem organisch wuchernden Kosmos liegt auch in den buntesten Blüten eine phantasielose Systematik zugrunde. Allzu schnell hat man begriffen, wie der Hase läuft, in welchem Raster sich diese Kunst bewegt.
"Es gibt ja solch ein Arbeiten nach einem vorgegeben Konzept. Ich habe dagegen immer gemocht, mir den Teppich unter den Füßen selber wegzuziehen und zu gucken, was dann passiert in diesem freien Fall. Einfach mitzukriegen, wie man sich selbst und den eigenen Begriffsvorstellungen auf den Leim geht und plötzlich enttäuscht wird."
Jörg Sasse treibt ernstes Spiel mit Bildern
Der Fotograf Jörg Sasse scheut – ebenso wie Niklas Luhmann – die vorgezeichneten, durch bewährte Begriffe abgesteckten Wege: Der Soziologe sortierte seine Zettel gegen die bereits geschaffene Ordnung immer wieder um, Sasse treibt ein ähnlich ernstes Spiel mit Bildern, mit Familienalben oder Diasammlungen vom Flohmarkt. Beide erlebten, was von spleenigen Briten unübersetzbar "serendipity" genannt wird: das Glück des Findens, ohne etwas gesucht, es vielmehr ahnungsvoll hervorgelockt zu haben.
Diesem wahren, dem unruhigen Geist des Zettelkastens, hervorgegangen aus der paradoxen Paarung von ausdauernd akribischer Archivarbeit und einem eher intuitiven Aufspüren von Ähnlichkeiten und Unterschieden sieht man sich gegenüber in der zweiten Etage der Kunsthalle, in Sasses "Ruhrgebiets-Speicher". Mit weißen Handschuhen zieht der Fotograf aus einer Art Hochhaus-Modell einzelne "Etagen" heraus, es sind gerahmte Bilder, die nun nach einer noch zu bestimmenden Ordnung gehängt werden sollen:
"Himmel ist ein bisschen ähnlich, aber spielt nicht genug eine Rolle. Hier ist eine Spiegelung die auffällt. Also, es kann sein, dass zwei Bilder besonders gut zusammenpassen, weil sie formal sehr ähnlich sind, das stimmt einfach, sieht man sofort. Und dann kommt das nächste Pärchen, was formal sehr ähnlich ist, und das geht überhaupt nicht – weil es sich so ähnlich ist. Und deswegen kann das auch kein Computerprogramm bis heute entscheiden."
Sich ins anonyme Material einarbeiten
Wo Kulturkritiker gedankenlos über die "Bilderflut" klagen, arbeitet der Künstler sich ins anonyme Material ein, durchforstet Motive, analysiert das ästhetische Formenrepertoire. Um dann – ein Buch vorzulegen: Über 400 Seiten dick, endlose Zahlenkolonnen, der geheime Code für eine visuelle System-Theorie? Natürlich nicht. Wo Luhmanns Bücher gegen alle landläufigen Vorurteile höchst originelle, weil lakonisch formulierte Passagen enthielten, da operiert Sasse mit Ausstellungen. Sein "Speicher-Buch" ist der Schlüssel, etwa mit der Angabe:
"Dass das Bild 178 auf der rechten Seite zu Bild 158 auf der linken Seite mit ´vier` qualifiziert ist. Und das ist eine Skala, eins ist das schlechteste, fünf ist das Beste. Also, anhand dieser Tabelle mache ich meine Entscheidung transparent. Und das sind knapp 240.000 Entscheidungen, wie ich die Kombinationen von Paaren bewerte."
Mit dem "Werturteil" will Sasse niemanden abhalten, seine eigenen "Paarungen", seine persönliche Hängung, seine Sicht der Dinge auszuprobieren. Das eben ist der feine Unterschied zu jenem Zettelkasten, der diese Dreier-Schau eröffnete – und den wir längst vergessen hatten. Denn die an der Kunsthalle so werbewirksam plakatierte "serendipity", die erlebt der Besucher allein in dieser Foto-Ausstellung.
Die Ausstellung "Serendipity – Vom Glück des Findens" ist bis zum 11. Oktober in der Kunsthalle Bielefeld zu sehen.
Die Ausstellung "Serendipity – Vom Glück des Findens" ist bis zum 11. Oktober in der Kunsthalle Bielefeld zu sehen.