Nach langer Zeit hat sich Margot Honecker wieder zu Wort gemeldet. Die ehemalige Ministerin für Volksbildung gehörte zu den bestgehasstesten Personen in der DDR, und vor allem Lehrer sahen in ihr einen der Gründe, Ausreiseanträge zu stellen. Wenn der Sozialismus in der DDR, der "stalinsche" wie in Stefan Heym genannt hat, gescheitert ist, so nicht zuletzt auch an dem dogmatischen und autoritären Erziehungsmodell, für das Margot Honecker mitverantwortlich ist.
Seit kurzem liegt das mehr als 200 Seiten starke Werk mit dem Titel "Gespräche mit Margot Honecker über das andere Deutschland" in einer deutschen Fassung vor.
Den Rückblick auf die DDR hat der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chiles, Luis Corvalán, verfasst. Margot Honecker und der Autor sind gute Freunde. Als der Führer der KP Chiles nach dem Pinochet-Putsch 1973 verhaftet wurde, organisierte die DDR Solidaritätsaktionen. Nach seiner Freilassung 1977 erholte sich Corvalán in der DDR. Verständlich, dass Corvalán, heute 84 Jahre alt, dankbar für die gezeigte Unterstützung ist. Das Eintreten der DDR für die Verfolgten der faschistischen Diktatur in Chile ist zweifellos eines der wenigen Ruhmesblätter in der DDR-Geschichte.
In der chilenischen Linken gilt Corvalán als marxistischer Hardliner, nach seiner Rückkehr aus dem Moskauer Exil spielte er jedoch keine Rolle mehr in der Politik. Dieses Schicksal teilt er mit seiner Gesprächspartnerin. Beide grollen bis heute Gorbatschow und seiner Perestroika, denen sie die Hauptschuld am Zusammenbruch des sozialistischen Lagers geben.
Der chilenische sozialistische Politiker Osvaldo Puccio hatte bereits nach dem Erscheinen der spanischen Ausgabe einen eher zurückhaltenden Kommentar abgeben: Das Buch habe, so der renommierte Politikwissenschaftler, "eine wenig kritische Sicht auf das, was der reale Sozialismus war". Das scheint eher freundlich untertrieben.
Margot Honecker, die Witwe des früheren DDR-Staats- und Parteichefs Erich Honecker, sieht das Ende der DDR bis heute als Fehler. Sie preist die Errungenschaften des Sozialismus im Stil der Leitartikel der ehemaligen DDR-Medien. Über weite Strecken besteht der Verdacht, dass die Antworten aus dem Schulungsprogramm für Agitatoren zum Parteilehrjahr der SED stammen. Wer erwartet hatte, Margot Honecker habe sich in zehn Jahren um Distanz zum eigenen Handeln bemüht, der sieht sich getäuscht. In den Gesprächen mit Corvalán entwirft sie ein von Zweifeln kaum getrübtes Bild der DDR als dem verlorenen Paradies der Werktätigen.
"Zum ersten Mal in der Geschichte wurde in Deutschland eine gerechte und humane Gesellschaftsordnung errichtet. In der DDR gab es keine Arbeitslosigkeit, keine Obdachlosen, keine Bodenspekulation, keinen Mietwucher. Soziale Sicherheit und gerechte Löhne waren garantiert. Ebenso gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Mann und Frau. Angemessene Wohnungen, gerechte Mietpreise, Gesundheit, Kultur, Bildung für alle, Kindergärten für die Jungen, Rente für die Alten: All das war Wirklichkeit. Die Wahlen in der DDR waren frei, geheim und gleich. Die Kandidaten wurden von den Parteien und Massenorganisationen aufgestellt, mussten danach von ihrem Arbeits-Kollektiv bestätigt werden. Es traten mehr Kandidaten an, als Posten zu besetzen waren."
Warum Tausende diesem Staat den Rücken kehrten und schließlich Hunderttausende auf die Straße gingen, erklärt sie mit dem Wirken des imperialistischen Gegners, dem eine verräterische Politik Gorbatschows Schützenhilfe leistete. Kein Wort über einen Staat, in dem die Pressefreiheit kleiner war als unter Friedrich dem Großen, die Basisdemokratie kümmerlicher als in der alten Bundesrepublik. Ein Staat, in dem sich eine herrschende Clique für unfehlbar erklärte. Keine Rolle im Buch der ehemaligen Volksbildungsministerin spielen Schattenseiten der DDR-Vergangenheit. An Mauer und Wehrunterricht, Bonzen und Privilegien, Intershops und Waffengeschäfte oder Häftlingsfreikäufe und Ausreiseanträge erinnert sie nicht. Weil aber ein Schuss Selbstkritik immer schon zum guten Ton in Parteisammlungen der SED gehörte, vergisst sie auch diesen nicht:
"Unsere Fehler bestanden darin, dass oftmals die diskutierten Entscheidungen und eingereichten Vorschläge nicht in die Praxis umgesetzt wurden. Wir haben unsere eigene Kraft und das bereits Erreichte überschätzt. Wir unterstrichen immer die Erfolge beim Aufbau des Sozialismus, aber wir erklärten nicht, dass unser Weg zum Ziel lang, hart, steinig und voller Schwierigkeiten ist. Wir haben die Bedingungen und Auswirkungen der Weltwirtschaft auf unsere Entwicklung unterschätzt oder, anders gesagt, unsere eigene Kraft und das bereits Erreichte überschätzt. Wir hätten Veränderungen angehen sollen. Wir hätten auf die politischen und beruflichen Erfahrungen der Menschen setzen sollen, statt davon auszugehen, dass durch Kritik alles zu Ende geht. Wir hätten viel mehr das selbstständige Denken und Handeln anregen sollen."
Wie einst verschwindet da die eigene Verantwortung hinter dem breiten Rücken des kollektiven Wir. Die Frage nach ihrer persönlichen Rolle oder der ihres Mannes wird gar nicht erst gestellt. Margots altem Kampfgefährten, Luis Corvalán, geht es ebenso wenig wie seiner Gesprächspartnerin um die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, sondern um deren nostalgische Verklärung. Innerhalb der DDR war immer nur Gutes, von außen kam immer nur Böses. So wird die Wirklichkeit einer Theorie angepasst. Wer hat eigentlich behauptet, dass sie immer die Klügere der beiden Honeckers gewesen sei?
Und das heutige Deutschland? "Ein Sumpf zieht am Gebirge hin...", möchte man Altmeister Goethe zitieren, "der Sumpf des faulenden, parasitären Kapitalismus". Und die Hauptopfer sind diejenigen, die sich abrupt von Margot und ihren Lehren abwandten.
Das ganze Volk der Ex-DDR leidet heute unter Diskriminierung und Verfolgung. Damit will man erreichen, dass sich das Volk "schuldig" fühlt dafür, seinem Vaterland die Treue gehalten zu haben. Dies ist der Sinn, besser gesagt, der Widersinn einer Politik, welche der DDR im Nachhinein das Existenzrecht absprechen möchte.
Da spricht also mal wieder jemand für das Volk, der immer wusste, wie es unseren Menschen geht und was sie eigentlich wollen. Und welches Volk hat denn 1989/90 seinem sozialistischen Vaterland die Treue gehalten? Es ist schon erstaunlich, solche Sätze heute zu lesen. Sicher, da ist auch die eine oder andere Aussage, die erfreut:
"Die Wahrheit ist nicht die Stärke heutiger Propaganda."
Dagegen war sie, wie man weiß, der absolute Trumpf der DDR-Propaganda. Im Anhang finden sich interessante Dokumente, so unter anderen Briefe von Stefan Hermlin und Kurt Masur, die diese nach seinem Sturz an Honecker schrieben und in denen sie ihren Dank für seine Unterstützung, vor allem für die Förderung der Kunst in der DDR ausdrückten. Auch der Brief von Honecker an Michael Gorbatschow, den er an seinem 79. Geburtstag an ihn schrieb und seine Verteidigungsrede 1992 im Politbüro-Prozess vor dem Moabiter Gericht sind dokumentiert. Überhaupt ist der Anhang der interessanteste Teil.
Ist also das Buch nur die Abrechnung einer zornigen alten Frau mit den Feinden von einst und heute? Ganz so einfach kann man sich das nicht machen. Wenn man die Entwicklung des vereinigten Deutschlands betrachtet, so fällt auf, dass immer noch, oder wieder, Ressentiments, vor allem in den neuen Bundesländern, in Bezug auf die Folgen der Vereinigung herrschen. Wenn auch als sicher gelten kann, dass kaum jemand die DDR in den Farben des Honecker-Sozialismus wiederhaben will, so bleiben doch genug Kritikpunkte an den herrschenden Verhältnissen. Margot Honecker versucht hier anzusetzen, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Dass ihre Antworten aber mehr als die ausgesprochenen Hardliner der kommunistischen Plattform ansprechen, darf bezweifelt werden. Gerade weil es noch genug zu tun gibt, um die in Fragen der sozialen Gerechtigkeit bestehenden Missstände zu beseitigen, ist es um so ärgerlicher, diese berechtigten Forderungen in einem Kontext wiederzufinden, der sich des Vokabulars des Kalten Krieges bedient. Auf die Frage, ob nach dem Fall des Sozialismus nicht "eine brutale Hatz" auf Erich Honecker eingesetzt habe, zitiert die Witwe ein Sprichwort:
"Je größer die Lüge, desto eher wird sie geglaubt."
Da werden ihr nicht einmal ihre Gegner widersprechen. Die Geschichte kennt keine Wahrheit. Sie kennt nur Interpretationen. Die vom Margot Honecker liegt nun vor.
"Niemand wird ernsthaft von mir erwartet haben, dass ich meine Weltsicht und Überzeugung auf dem Altar der Zeitgeschichte niederlege."
In der Tat: Das hatte niemand erwartet.
Luis Corvalán: Gespräche mit Margot Honecker über das andere Deutschland. Verlag Das Neue Berlin, 220 Seiten zum Preis von 29,80 DM.