Es beginnt mit dem Ende. Lulu trifft ihren letzten Freier, Jack the Ripper, und dann gellt ihr Todesschrei. Jan Pappelbaums Drehbühne beginnt mit ihren vielen Spielorten zu kreisen und wird in den mehr als drei Aufführungsstunden selten einmal still stehen, denn Lulu wird als eine Figur vorgeführt, die durch die Zeiten geht. Zu Beginn, wenn sie mit dem Maler allein gelassen wird, tollt sie noch fast wie ein Kind mit ihm herum. Sex und eigene Anziehungskraft werden im Fangespiel eingesetzt:
Musik zwischen Rap und Marschlied erklingt, und eine Art diabolischer Symbolfigur, mal weißgeschminkter nackter Affe, mal Conferencier, huscht bedeutungsvoll immer wieder durch die Szenen. In Paris wird meist französisch, in London Englisch gesprochen, und die groom genannte Symbolfigur hat mit einem Mädchen dessen ersten (Vergewaltigungs)Sex. So versucht Regisseur Ostermeier, auch durch eine bieder realistisch erzählende, ungemein breit ausmalende Inszenierung, das Begehren der Figuren mehr absolut und gesellschaftlich denn individuell zu erklären. Dabei lauern überall die tieferen Bedeutungen und ersticken die Inszenierung zur heftig bewegten Unbeweglichkeit.
Wenn zu Beginn Lulu mit ihrem tödlichen Freier hinter ein riesiges Plakat klettert, das drei Supermodels für Büstenhalter und das heutige, sexualisierte Frauenklischee werben lässt, dann ist ein schönes Bild für die Fragen gewonnen, die man heute an Wedekinds Lulu stellen könnte.
Doch wo sich in Peter Zadeks Inszenierung 1988 wilde Sinnlichkeit und eine enorme Körperlichkeit in der Denkfigur von Susanne Lothars "Lulu" vereinten und eine rätselhaft klare, lebendige Denkfigur ergaben, oder wo vor kurzem am Hamburger Thalia Theater die spröd souveräne Fritzi Haberlandt von ihrem Regisseur Michael Thalheimer in ein analytisch ausstellendes, nüchtern sinnliches Demonstrationsspiel über Triebstrukturen und Machthierarchien geführt wurde, da malt Regisseur Ostermeier eine bunte Welt von gestern mit undeutlichen Fragen von vorgestern aus:
Und Anne Tismer, seit ihrer fulminanten "Nora"-Interpretation am gleichen Haus unter dem selben Regisseur unangemessen heftig in die Rolle eines Superstars gedrängt, bleibt der Figur doch viel Dringlichkeit und Sinnlichkeit schuldig. Man schaut dem bunten Treiben, in dem Gerd Böckmann einen Dr. Schöning wie aus dem Bilderbuch veralteten Abbildtheaters zeigt und in dem Ursina Lardi ihre Gräfin Geschwitz als berührende und schrill verwehte Schmerzensfrau zeichnet, eher interesselos zu. Diese "Lulu" berührt uns nicht, schlimmer, sie langweilt uns.