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"Lulu" jetzt auch für Berlin

In der letzten Saison gab es eine unterkühlte "Nora" von Stephan Kimmig am Hamburger Thalia Theater, und eine furiose "Nora" von Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne. Beide Inszenierungen wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen; die Protagonistinnen Susanne Wolff und Anne Tismer wurden mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet. In dieser Saison gibt es eine minimalisierte "Lulu" von Michael Thalheimer am Hamburger Thalia Theater mit Fritzi Haberlandt, die beim letzten Theatertreffen den Alfred-Kerr-Preis bekam; und am Mittwoch Abend hat Thomas Ostermeier nun seine eigene "Lulu" vorgestellt, in der Titelrolle: Anne Tismer, die Schauspielerin des Jahres 2003. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Mit ihren neu besehenen Frauenfiguren haben Thalia-Theater und Schaubühne vielmehr einen Nerv getroffen zwischen bundesrepublikanischer Restaurations-Realität und feministischen Erlösungsphantasien.

Von Hartmut Krug |
    Die Frau stöckelt von draußen auf die Scheibe, die ihre Welt bedeuten soll, und nach ihrem Tode verläßt sie das Demonstrationsrund auch wieder mit ebenso forschendem Blick. In Thomas Ostermeiers Inszenierung der langen Urfassung von Frank Wedekinds "Lulu" wird eine Frau ohne klare Eigenschaften vorgeführt, eine Denkfigur, die einfach macht, was sie will. Letztlich spielen all diese Klischee-Kleider, mit denen Wedekinds Lulu immer wieder behängt wird, hier keine Rolle. Ob Kindfrau, femme fatale, Hure, ob Opfer oder Täterin, ob männliche Projektionsfläche oder selbstbestimmte, sich selbst gehörende und erlebende Frau: das alles schwirrt als Frage nur undeutlich im Raum. Männer wollen besitzen, Frauen wollen sein. Männer wollen Sex, Frauen Liebe, aber Lulu ist die selbstbestimmte Sexistin. Das sind so Stereotypen, die sich an Wedekinds angst- wie lustvolle Männerphantasie heften. In Thomas Ostermeiers "Lulu-Inszenierung ist das Begehren einfach eine Droge, an der die Männer zu Grunde gehen. Es ist weniger der Sex, und noch weniger die wirkliche Frau, der sie die unterschiedlichsten Namen geben und die sie sich auf jeweils eigene Weise zusammen phantasieren. Und es ist, da mag Anne Tismer sich noch so sehr im kurzen Kleid auf highheels ausstellen und den Männer und sich immer mal wieder in den Schritt fassen, - es ist auch nicht die Erotik. Anne Tismers Lulu ist ein Eisblock, der wie von einer Glasscheibe umgeben ist. Ihre Erotik ist ein theatralisches Zitat ohne jede Sinnlichkeit. Die Schauspielerin gibt eine Figur, ohne zu deren Kern vorzudringen. Sie zeigt solides Schauspielerhandwerk. Sie girrt routiniert oder albert anfangs backfischhaft herum, sie reizt die Männer wie selbstverständlich und beiläufig. Aber dabei erscheint alles nur wie aus zweiter Hand und alter Zeit zitiert. Frank Wedekinds "Lulu", einst ein Bürgerschock, wirkt in Ostermeiers Schaubühnen-Inszenierung enorm veraltet und brav.

    Es beginnt mit dem Ende. Lulu trifft ihren letzten Freier, Jack the Ripper, und dann gellt ihr Todesschrei. Jan Pappelbaums Drehbühne beginnt mit ihren vielen Spielorten zu kreisen und wird in den mehr als drei Aufführungsstunden selten einmal still stehen, denn Lulu wird als eine Figur vorgeführt, die durch die Zeiten geht. Zu Beginn, wenn sie mit dem Maler allein gelassen wird, tollt sie noch fast wie ein Kind mit ihm herum. Sex und eigene Anziehungskraft werden im Fangespiel eingesetzt:

    Musik zwischen Rap und Marschlied erklingt, und eine Art diabolischer Symbolfigur, mal weißgeschminkter nackter Affe, mal Conferencier, huscht bedeutungsvoll immer wieder durch die Szenen. In Paris wird meist französisch, in London Englisch gesprochen, und die groom genannte Symbolfigur hat mit einem Mädchen dessen ersten (Vergewaltigungs)Sex. So versucht Regisseur Ostermeier, auch durch eine bieder realistisch erzählende, ungemein breit ausmalende Inszenierung, das Begehren der Figuren mehr absolut und gesellschaftlich denn individuell zu erklären. Dabei lauern überall die tieferen Bedeutungen und ersticken die Inszenierung zur heftig bewegten Unbeweglichkeit.

    Wenn zu Beginn Lulu mit ihrem tödlichen Freier hinter ein riesiges Plakat klettert, das drei Supermodels für Büstenhalter und das heutige, sexualisierte Frauenklischee werben lässt, dann ist ein schönes Bild für die Fragen gewonnen, die man heute an Wedekinds Lulu stellen könnte.

    Doch wo sich in Peter Zadeks Inszenierung 1988 wilde Sinnlichkeit und eine enorme Körperlichkeit in der Denkfigur von Susanne Lothars "Lulu" vereinten und eine rätselhaft klare, lebendige Denkfigur ergaben, oder wo vor kurzem am Hamburger Thalia Theater die spröd souveräne Fritzi Haberlandt von ihrem Regisseur Michael Thalheimer in ein analytisch ausstellendes, nüchtern sinnliches Demonstrationsspiel über Triebstrukturen und Machthierarchien geführt wurde, da malt Regisseur Ostermeier eine bunte Welt von gestern mit undeutlichen Fragen von vorgestern aus:

    Und Anne Tismer, seit ihrer fulminanten "Nora"-Interpretation am gleichen Haus unter dem selben Regisseur unangemessen heftig in die Rolle eines Superstars gedrängt, bleibt der Figur doch viel Dringlichkeit und Sinnlichkeit schuldig. Man schaut dem bunten Treiben, in dem Gerd Böckmann einen Dr. Schöning wie aus dem Bilderbuch veralteten Abbildtheaters zeigt und in dem Ursina Lardi ihre Gräfin Geschwitz als berührende und schrill verwehte Schmerzensfrau zeichnet, eher interesselos zu. Diese "Lulu" berührt uns nicht, schlimmer, sie langweilt uns.