Nirgendwo in Europa hat das Coronavirus so viele Menschen angesteckt wie in Italien, jedenfalls nach heutigem Kenntnisstand, und Rom reagiert entschieden auf die galoppierende Infektion. Dort, wo die Krankheitsfälle sich häufen, im Norden des Landes, hat die Regierung eine rote Zone eingerichtet, das Sperrgebiet wird nach dem Modell Wuhan kategorisch abgeriegelt.
Alexander Kekulé ist Virologe an der Uniklinikum Halle und Direktor am Institut für medizinische Mikrobiologie. Im Dlf-Interview kritisiert er, dass die die deutschen Behörden das Coronavirus immer noch harmloser als die Grippe darstellen würden.
Das Interview in voller Länge:
Christine Heuer: Zu Beginn der Coronakrise, da haben Sie gesagt, es werde keinen Weltuntergang geben wegen des Virus – sind Sie immer noch so gelassen oder hat sich Ihre Stimmungslage inzwischen ein bisschen verschlechtert?
Alexander Kekulé: Es wird natürlich keinen Weltuntergang geben. Ich bin nicht mehr ganz so gelassen, muss ich ganz ehrlich sagen, weil zumindest in Europa die Behörden etwas zu gemächlich das Thema angehen. Ich hatte ja schon sehr frühzeitig gefordert, dass wir Einreisekontrollen an den Flughäfen machen bei den Direktflügen aus China, das ist nicht passiert. Daraufhin hat es dann Einschleppungen gegeben, zum Beispiel den Fall in München.
Ich hatte, bevor die Gesundheitsminister sich kürzlich getroffen in Brüssel, dringend empfohlen in diesen Kreis hinein, dass man ein flächendeckendes Screening macht, also flächendeckend Untersuchungen, um zu sehen, ob irgendwo im Land vielleicht schon das Virus ist. Darauf haben sich die Minister nicht geeinigt, und jetzt haben wir den Fall in Italien.
"Jede Grippe auf das Coronavirus testen"
Heuer: Heute gibt es ja ein Krisentreffen der Gesundheitsminister in Rom, die hätten sich besser mal früher wirklich intensiv zusammengesetzt und einen gemeinsamen Schlachtplan entwickelt, wenn ich Sie richtig verstehe.
Kekulé: Ja, die hatten ja eigentlich in Brüssel sich schon mal zusammengesetzt vor 14 Tagen. Kurz vorher war der Ausbruch in Frankreich gewesen, in einem kleinen Bergdorf, wo auch schon klar war, dass es nicht aus China kam, das Virus. Ich hatte dann das zum Anlass genommen, um dieses neue Konzept vorzuschlagen, dass wir wirklich jeden Fall testen in Europa, der schwere Atemwegsinfektionen hat, also jede Grippe letztlich testen parallel auch auf das Coronavirus, um so eine Art Kanarienvogelsystem zu haben, um Ausbrüche früh zu erkennen.
In Norditalien war es jetzt so, dass natürlich die Ärzte dort zuerst dachten, es ist eine Grippe, das ist eine Erkältung. Selbst als der erste Patient im Krankenhaus war, wurde zuerst nicht auf Coronavirus getestet, das wäre ja auch zunächst mal abwegig, wenn es da nicht eine ganz klare Anweisung von oben gibt.
Heuer: Wenn man jede Grippe getestet hätte, wie Sie es vorgeschlagen haben, hätten wir Italien dann verhindern können?
Kekulé: Das weiß man natürlich nie so genau, aber ich möchte mal sagen, möglicherweise hätten wir es verhindert. Es ist möglich, dass wir es verhindert hätten, wenn die Italiener gut reagiert hätten, wenn sie, sag ich mal, vom Gesundheitssystem ähnlich durchorganisiert wären wie die Deutschen. Bei uns wäre das so gelaufen, dass die Länder zuständig sind für so etwas, und da wäre eine Empfehlung zum Beispiel des Robert-Koch-Instituts sofort an die Landesgesundheitsämter gegangen, und die hätten das durchgestellt an die Arztpraxen, an die großen Krankenhäuser.
Und wenn so ein roter Zettel auf dem Tisch liegt – ich bin ja selbst in einem großen Krankenhaus tätig –, dann wird das normalerweise beachtet. Und wenn es dann heißt, Achtung, bitte jeden Fall von unklarer oder schwerer Lungenentzündung sofort auf Coronavirus mittesten, dann machen die Ärzte das. Zumindest in Deutschland würden sie es machen, in Italien kenne ich mich jetzt zu wenig aus.
Spahn hat Ernst der Lage "auf keinen Fall früh genug erkannt"
Heuer: Zu Ihrem Konzept, Sie haben es erwähnt, gehören auch wirklich stringente Kontrollen an den Flughäfen, das ist auch nicht passiert, auch in Deutschland nicht. Hat Jens Spahn eigentlich den Ernst der Lage früh genug erkannt, oder hat er ihn inzwischen erkannt?
Kekulé: Er hat ihn auf keinen Fall früh genug erkannt, das muss man, glaube ich, jetzt schon sagen. Vor allem ist es so, dass seine Behörden ja immer noch das Coronavirus harmloser als die Grippe darstellen. Da muss man zurechtrücken. Natürlich ist es so, dass die Grippe in mancher Saison in Deutschland mehrere Tausend – es gab sogar mal einen Fall, wo es über 20.000 Tote verursacht. Ja, das macht die Grippe, aber man muss das immer ins Verhältnis stellen.
Wir haben in Deutschland natürlich auch über zehn Millionen Infizierte gehabt in dem Jahr, wo es mal so hoch war. Wenn Sie das dann runterrechnen, ist die Sterblichkeit der Grippe bei 0,1 Prozent oder eins zu 1.000, und zwar maximal eins zu 1.000, und die Sterblichkeit von diesem Coronavirus liegt bei 0,5 bis 1,5 Prozent, irgendwo in dem Bereich, das heißt, ich sag mal so grob eins zu 100. Das heißt, das Virus ist für denjenigen, der die Infektion bekommt, zehnmal gefährlicher.
Es gibt einen zweiten wichtigen Aspekt: Bei der Grippe wissen wir ziemlich genau, was die Risikogruppen sind. Wir wissen, dass nur alte Menschen und sehr junge Menschen dran sterben in der Regel, dass jemand im mittleren Lebensalter, der sonst gesund ist, eigentlich an der Grippe ganz selten mal stirbt – das wäre eine ganz seltene Ausnahme.
Bei dem Coronavirus ist es anders, da wissen wir, dass auch mal eine Krankenschwester mit 35, wenn sie sich das Virus holt, vorher gesund war, kann die drei Wochen später tot sein. Das ist eine ganz andere Situation. Wir haben auch keinen Impfstoff, wir haben kein Medikament im Gegensatz zur Grippe, und deshalb sehe ich das überhaupt nicht, warum man das bisher so auf die leichte Schulter genommen hat.
"Jeden Fall, der schwer krank ist, sofort testen"
Heuer: Okay, also wir halten an dieser Stelle fest, Herr Kekulé, Sie finden, in der Vergangenheit war das Krisenmanagement nicht so gut, wie es hätte sein müssen. Jetzt sind wir in der Situation, viele sagen ja, die Pandemie ist eigentlich da, das ist jetzt nur noch eine Definitionsfrage, wann die WHO es auch so nennt. Schauen wir nach vorne: Worauf kommt es jetzt an, was können wir jetzt noch tun?
Kekulé: Wie ich es kurz gesagt habe, würde ich doch diesen Vorschlag noch mal auf den Tisch legen wollen, dass wir auf jeden Fall in Deutschland – und nur darüber können wir ja im Moment reden –, in Deutschland, und der Vorschlag gilt für Europa, wirklich das so machen, dass wir jeden Fall, der schwer krank ist, sofort testen. Das müssen wir ab sofort machen, weil wir es versäumt haben, bei der Einreise etwas zu tun. In Amerika ist das ja etwas konsequenter geschehen. Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass wir weitere Fälle im Land haben, auch in Europa haben.
Solange das nur ganz wenige sind, sind wir in der Situation, dass wir die, wenn wir sie schnell identifizieren mit den Gesundheitsämtern, die Kontakte nachverfolgen können und dann eben, wenn ich mal so sagen darf, die Zigarette austreten können, bevor sie einen Waldbrand verursacht, damit wir eben nicht in die Situation wie in Norditalien kommen. Ein solcher Cordon sanitaire, eine Abgrenzung quasi, eine Quarantäne eines ganzen Gebietes wie in Italien, ist die absolut letzte Option, die man hat sozusagen, die letzte Verteidigungslinie gegen das Virus, und so weit möchte ich es eigentlich nicht kommen lassen.
"Jederzeit und überall mit einzelnen Fällen rechnen"
Heuer: Also Sie glauben, das kann man noch verhindern in Deutschland, oder rechnen Sie damit, dass wir das auch irgendwann erleben?
Kekulé: Natürlich, man kann das europaweit verhindern. Es kommt jetzt natürlich drauf an, ob der Ausbruch in Italien noch verhindert werden kann, weil ich bin mir nicht so sicher, ob da aus dem betroffenen Gebiet nicht vielleicht schon viele Menschen ausgereist sind. Dann könnte man etwas alarmistisch sagen, die Lombardei ist das neue Wuhan in Europa. Wir wissen das bisher nicht.
Möglicherweise kriegen die das unter Kontrolle, aber wir müssen jetzt jederzeit und überall, gerade in Süddeutschland, damit rechnen, dass es in jedem Dorf einzelne Fälle geben kann von diesem Virus. Und wenn wir die ganz schnell identifizieren, unsere Gesundheitsämter da hinterher sind, dann können wir das meines Erachtens auf jeden Fall noch verhindern, natürlich. Die Krankheit ist zwar hoch infektiös, aber ist natürlich auch unter Kontrolle zu bekommen mit normalen gesundheitlichen Maßnahmen.
"Wir haben auf dem Papier schon die Pandemie"
Heuer: Herr Kekulé, was ist eigentlich mit Massenveranstaltungen? Hätte man Karneval dieses Jahr zum Beispiel besser ausfallen lassen?
Kekulé: Nein, in Deutschland gab es dafür, zumindest von den Daten, die da waren, noch keinen Hinweis. Das wird man wegen der Inkubationszeit ehrlich gesagt erst in zwei Wochen wissen. Es ist richtig gewesen, dass in Italien die Behörden, in Venedig jedenfalls, den Karneval abgesagt haben. Das muss man immer dann machen, wenn man keine Vorstellung davon hat, wer in der Bevölkerung möglicherweise krank ist.
Diese Situation haben wir in Italien, die haben wir noch nicht in Deutschland, aber ich befürchte ehrlich gesagt, dass wir sie hier demnächst bekommen könnten. Ich hab ja selbst auch vor Kurzem erklärt, dass wir eigentlich auf dem Papier die Pandemie schon haben, es ist eine politische Frage, wann die WHO sie erklärt.
Heuer: Und ganz kurz zum Schluss, nur noch ein paar Sekunden Zeit haben wir: Für alle, die sich und andere schützen möchten, gilt Händewaschen und nicht gerade nach China oder Norditalien reisen?
Kekulé: Na ja, das mit dem Händewaschen kann man leider nicht so pauschal und kurz beantworten, aber das Wichtigste ist, dass man sich nicht ins Gesicht fasst, ohne sich vorher die Hände gewaschen zu haben, wenn man irgendwo in der Öffentlichkeit ist. Also wenn man in der U-Bahn oder woanders etwas angefasst hat, was jemand angehustet haben könnte, danach wasche ich mir die Hände. Dieser Mundschutz – vielleicht darf ich das noch loswerden – auf der Straße ist natürlich sinnlos.
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