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Luo Guanzhongs Roman: "Die Drei Reiche"
Die Geschichte Chinas verstehen

Er gilt als Schlüssel zur chinesischen Kultur: Der Roman "Die Drei Reiche" liefert nun auch dem deutschen Leser Einblicke in die Transformation Chinas vom Einheitsreich über den Zerfall und die Wiedervereinigung. Man erfährt wie Intrigen, Propaganda und Versprechungen von einem besseren Leben zum Reich der Mitte gehörten.

Von Helwig Schmidt-Glintzer |
    Eine Frau läuft im Januar 2017 eine Straße in der chinesischen Stadt Yuantong, in der Provinz Sichuan entlang. Sie liegt im Südwesten Chinas.
    Luo Guanzhongs Roman "Die Drei Reiche" liefert dem Leser Einblicke in das chinesische Geschichtsdenken. (imago stock&people)
    Vielleicht ist es bereits das Anzeichen einer Gegenbewegung in einer Welt, in der per Twitter verschickte Texte nach 140 Zeichen enden, wenn dem Lesepublikum heute Werke von 800 und mehr Seiten Umfang angeboten werden. Gerade hat der Frankfurter S. Fischer-Verlag den großen historischen Roman "Die Drei Reiche", einen der Klassiker der Literatur Chinas, in vollständiger deutscher Übersetzung vorgelegt – in zwei gewichtigen Bänden von jeweils mehr als 800 Seiten. Wer sich darauf einlässt, der erfährt nicht nur von den Ereignissen einer Transformation Chinas, beginnend mit dem Zerfall des Einheitsreiches der Han vor 1800 Jahren über die Entstehung von drei Teilreichen bis zur Wiedervereinigung des Reiches 80 Jahre später. Man erhält zugleich eine Einführung in das chinesische Geschichtsdenken und lernt etwas über in China lebendige Bilder und Vorstellungen von längerfristigen historischen Prozessen, wie persönliche Netzwerke, wie Listen und Propaganda und immer auch Versprechungen von einem besseren Leben zur Veränderung von Machtverhältnissen im Reich der Mitte gehörten. Und da diese Vorstellungen und Bilder bis in die Gegenwart wirksam sind, wird man bei der Lektüre dieses großen Episodenromans nicht nur unterhalten, sondern zugleich unterrichtet über den Umgang mit Macht, Moral und Militär in China.
    In den 120 immer wieder neu die Spannung und die Erwartung des Lesers anregenden Kapiteln des Romans begegnen wir Hunderten von Akteuren und werden hineingezogen in deren Intrigen und Machtkämpfe. Dabei knüpft die Aufteilung des Stoffes in kürzere Kapitel an die Tradition der Geschichtenerzähler an, welche die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer nicht strapazieren und doch die Spannung aufrechterhalten. So entsteht das Bild einer turbulenten Welt, mit Kämpfen und listenreichen Abenteuern von Helden, die im kollektiven Bewusstsein Chinas bis heute eingeschrieben sind und auf die immer wieder verwiesen wird.
    Da China heute einerseits nur noch in der Zukunft zu leben scheint, mit Smartphones in den Händen der Jugendlichen und durchzogen von Sozialen Netzwerken, und andererseits gleichzeitig bedroht ist durch Trinkwassermangel und extreme Luftverschmutzung in den Städten, müssen wir damit rechnen, dass die uralten Geschichten und die Bilder von Helden der Vergangenheit vielleicht bald schon wieder ihre Auftritte haben und einzelne Regionen Chinas sich einmal ihrer früheren politischen Eigenständigkeit erinnern.
    Ein Roman voller Helden und wechselner Frontlinien
    Der Roman von den Drei Reichen: Wei im Norden, Shu im Westen und Wu im Südosten ist voller Kriegshelden und Ratgeber, voller Listen und Machtkämpfe und dabei zunächst anscheinend gänzlich unübersichtlich, mit seinen vielen Helden und wechselnden Frontlinien. Wer steht auf wessen Seite? Wer führt welche Absichten im Schilde?
    Sich hier durchzufinden, scheint mühsam – und doch lohnt es, sich auf den ganzen Roman einzulassen. Da hilft uns die Übersetzerin, Eva Schestag, welche die bis heute beliebteste Fassung dieses auf den Autor Luo Guanzong aus dem 14. Jahrhundert zurückgehenden, dann aber im 17. Jahrhundert neu bearbeiteten Romans in deutscher Übersetzung vorlegt. Über den Autor wissen wir sonst fast nichts, außer dass er auch mit dem Roman über die Rebellen vom Liangshan-Moor in Verbindung gebracht wird.
    Der Roman erzählt vom Niedergang der Han-Dynastie in seinen ersten 80 Kapiteln, und zugleich wird dem Leser der Wettstreit zwischen den Tüchtigsten, den Tapfersten, Klügsten, Weisesten, Listigsten und Besten vorgeführt. Mit der Gründung des Reiches Wei im Norden unter seinem ersten Kaiser Cao Pi (im Kapitel 80) beginnt dann im Jahr 220 die [eigentliche] Zeit der Drei Reiche. Kurz danach folgt die Gründung der beiden anderen Reiche Wu und Shu. Die Macht ist nun dreigeteilt, und jeder der drei Monarchen sieht sich als rechtmäßiger Nachfolger des Han-Kaisers und erhebt einen Machtanspruch auf das ganze Reich.
    Während sich keines der drei Reiche durchzusetzen vermag, gelingt es einem im Norden erstarkten Clan der Familie Sima, eine eigene Staatlichkeit zu etablieren und die drei Reiche nacheinander zu unterwerfen und so ab dem Jahr 280 ganz China zu vereinen und mit dem neuen und zugleich traditionsreichen Namen "Jin" als Einheitsdynastie zu herrschen. Der Roman schließt mit der Kapitulation des letzten Staates Wu im Südosten des Reiches, doch nicht ohne die letzten Bemühungen von dessen Herrscher, Sun Hao, zu schildern.
    Keine Hauptstadt für einen Kaiser
    Immer wieder schweift der Blick des oft als Berichterstatter auftretenden Erzählers in die Weite und streut Auszüge aus Dokumenten ein. In einer an den Kaiser gerichteten Throneingabe eines kritischen Literaten, die es in China immer gab, werden die Leiden der Bevölkerung und damit die Gründe für den Zusammenbruch geschildert:
    "Es hat keine Naturkatastrophen gegeben, dennoch sind die Ressourcen des Volkes erschöpft. Es hat keinerlei Eingriffe gegeben, dennoch ist das Vermögen des Staates aufgebraucht. Das stelle ich schmerzlich fest. Nach dem Niedergang der Han-Dynastie vor langer Zeit hat das Reich auf drei Füßen gestanden. Die Familien Cao und Liu sind beide moralisch verfallen, und Jin hat sich ihr Land einverleibt. Das Ergebnis steht uns als mahnendes Beispiel vor Augen. Vielleicht bin ich dumm, aber um Euretwillen, Majestät, möchte ich unseren Staat vor diesem Schicksal bewahren. Wuchang ist ein gefährliches Gebiet und die Erde unfruchtbar. Es ist keine Hauptstadt für einen Kaiser. Sogar die Kinder reimen auf der Straße:
    Das Wasser in Jianye ist frisch, schmeckt besser als in Wuchang der Fisch.
    Der Tod in Jianye ist ein Segen, aber eine Strafe in Wuchang das Leben."
    Die Stimmung im Volk wird den Herrschenden von ihren Beratern vorgehalten, indem sie Missstände anprangern und sich dabei auf das "Wirken des Himmels" oder die "natürliche Ordnung" berufen und ermahnend ausrufen:
    "Die Reserven unseres Staates reichen nicht einmal für ein Jahr, und seine Wurzeln werden mählich unterhöhlt. […] Zu Lebzeiten des großen Kaisers Sun Quan waren im Harem nicht einmal hundert Frauen. Seit der Regierung von Kaiser Jing, dem seligen Sun Xiu, sind es mehr als tausend: Das ist der Gipfel der Verschwendung! […] Ich bitte Euch, Majestät, erspart dem Volk Zwangsdienste, stellt die Übergriffe durch die Beamtenschaft ein, verringert die Zahl der Frauen im Harem und mustert die Diener und Beamten aus, dann herrscht Freude im Himmel, Eintracht unter den Menschen und Friede im Land."
    Solche gelegentlichen Einschübe kennzeichnen den moralischen Grundton des ganzen Romans. Im Vordergrund aber stehen dann doch die Aktionen, die Pläne und Strategien, die Machtkämpfe der Feldherren.
    Mit einer Schlacht neue Ordnung schaffen
    Davon, wie es dem General Du Yu des Sima-Klans gelingt, auch das Reich Wu zu erobern, wird am Ende des zweiten Bandes berichtet:
    "… Du Yu setzte den Vormarsch fort und traf bald auf die Flotte von Sun Xin. Nach einem kurzen Gefecht zog er seine Truppen zurück. Sun Xin führte seine Leute ans Ufer und nahm über die gewundenen Wege die Verfolgung auf. Sie waren noch keine zwanzig Meilen weit gekommen, als auf das Krachen von Böllern hin Jin-Soldaten von allen Seiten herbeistürmten. Die Wu-Armee machte schnell wieder kehrt. Du Yu nutzte die Gelegenheit, um über sie herzufallen. Unzählige Männer aus Wu fanden den Tod. Sun Xin flüchtete sich in die Stadt, doch die Matrosen von Zhou Zhi hatten sich unter seine Leute gemischt, erklommen die [II/849] Stadtmauern und legten Feuer. Sun Xin rief entsetzt: >Sind die Truppen aus dem Norden etwa über den Fluss geflogen?< In dem Moment, als er fliehen wollte, stieß Zhou Zhi einen Schrei aus und schlug ihn mit einem Hieb tot vom Pferd."
    Kampfhandlungen sind oft blitzschnelle Gefechte, und man kann sich lebhaft vorstellen, wie solche Ereignisse auf den Bühnen des Landes in Szene gesetzt wurden:
    "Lu Jing auf dem Schiff sah schon von weitem am Südufer des Yangzi Feuer aufflammen und am Berg Bashan eine Flagge wehen mit dem Schriftzug
    Jin-Dynastie – Oberstgeneral Du Yu, Befrieder des Südens<. Er wollte an Land und dort um sein Leben laufen, doch der Jin-Kommandant Zhang Shang holte ihn ein und schlug ihm vom Pferd aus den Kopf ab. Als Wu Yan erkannte, dass alle Wu-Armeen besiegt waren, gab er die Stadt auf und ergriff die Flucht. In einem Hinterhalt lauernde Jin-Soldaten bekamen ihn zu fassen und führten ihn gefesselt vor Du Yu. Der brüllte:>Er ist uns zu nichts nutze! <, und befahl den Wachen, ihm den Kopf abzuschlagen. Das war der Fall der Stadt Jiang-ling."
    Nach solchen Schlachten ging es dann wieder darum, neue Ordnung zu schaffen und Kräfte für weitere Erfolge zu sammeln und Pläne zu schmieden:
    "Im Gebiet der Flüsse Yuan und Xiang bis hin nach Guangzhou beugten sich die Gouverneure und Präfekten wie Gräser im Wind und überließen ihre Städte und Kommandanturen samt Siegel den Jin. Du Yu befahl seinen Soldaten, Disziplin zu bewahren und die Bevölkerung zu beruhigen. Es kam zu keinerlei Übergriffen. Als nächstes rückte er gegen Wuchang vor, und auch diese Stadt fiel ihm kampflos in die Hände. Die Macht der Armee unter Du Yu war gewaltig. Schließlich versammelte er seine Offiziere, um mit ihnen einen Plan für die Eroberung der Hauptstadt Jianye zu besprechen. Hu Fen ergriff das Wort: >Diese Räuberbrut kann man nicht gänzlich unterwerfen. Die Frühlingsschmelze hat eingesetzt, und die Flüsse führen viel Wasser. Wir können kaum länger hier bleiben. Lasst uns auf den nächsten Frühling warten, ehe wir zu dem großen Schlag ausholen.< Du Yu erwiderte:>Yue Yi hat damals den Staat Qi durch eine einzige Schlacht, die Schlacht bei Jixi, bezwungen. Die Macht unseres Heeres ist gewaltig. Es ist wie beim Spalten von Bambus. Sobald die ersten Knoten überwunden sind, gibt das Rohr dem Messer ohne weiteres Zutun widerstandslos nach. < Darauf verschickte er eine Eilbotschaft, in der er alle Offiziere zum gemeinsamen Vormarsch gegen Jianye aufrief."
    Was so als Befriedung des Reiches geschildert wird, hatte mit dem Zerfall des Reiches begonnen, bei dem auch die Aufstandsbewegung der nach ihrer Kopfbedeckung bezeichneten "Roten Turbane" eine Rolle spielten.
    Cao Cao - eine Figur mit einer herausragenden Rolle im Roman
    Gleich zu Beginn des Romans tritt, so als wäre es ein Vorgriff auf das 19. Jahrhundert, einem ersten Erfolg der Regierungstruppen gegen die Roten Turbane jene Figur auf, die eine herausragende Rolle in dem gesamten Roman spielt: Cao Cao:
    "Plötzlich tauchten berittene Truppen mit roten Fahnen auf und hinderten sie am Rückzug. Aus der vordersten Reihe schoss wie ein Blitz einer der Anführer hervor. Er war von großer Gestalt, hatte schmale Augen und einen langen Bart. Der Mann mit dem militärischen Grad eines Kommandanten der Kavallerie stammte aus dem Kreis Qiao im Staat Pei: Sein Name war Cao Cao, gerufen wurde er Mengde."
    Es folgt dann eine ausführliche Schilderung dieses Cao Cao, mit einer die Bildung dieser skrupellosen Persönlichkeit aus einem Vorfall herleitenden Begebenheit aus seiner Kindheit.
    "Als Knabe reiste und jagte Cao Cao gerne, und er liebte es zu singen und zu tanzen. Er hatte listige Pläne und war schlau und gewandt. Als einer seiner Onkel erkannte, wie zügellos und maßlos der Junge war, wurde er zornig und sprach mit dem Vater, der seinen Sohn daraufhin bestrafte. Da wuchs in Cao Cao ein böser Plan: Als er den Onkel kommen sah, ließ er sich absichtlich zu Boden fallen und tat so, als hätte er einen Anfall. Der Onkel berichtete Cao Song aufgeregt darüber und dieser lief eilends herbei, um nach dem Kind zu sehen – Cao Cao fehlte überhaupt nichts. Cao Song sprach: >Der [S. 27] Onkel sagte, du hattest einen Anfall. Geht es dir besser?< Cao Cao antwortete:>Eine solche Krankheit hatte ich noch nie; nur weil ich die Zuneigung des Onkels verloren habe, widerfährt mir nun eine solche Ungerechtigkeit."
    Köpfe müssen rollen
    So zerstörte Cao Cao die Glaubwürdigkeit seines Onkel in den Augen des Vaters. – Bei einem solchen Typus verwundert dann auch die rücksichtslose Vorgehensweise gegen die Rebellen nicht mehr:
    "Seine Leute töteten die Rebellen reihenweise und hieben mehr als zehntausend Köpfe ab. Sie erbeuteten Fahnen und Flaggen, Gongs und Trommeln und zahllose Pferde."
    Für das Selbstverständnis späterer Zeiten wurde jene Schlacht prägend, in der es im Jahre 208 gelang, eine von diesem grausamen und erfolgreichen Feldherren Cao Cao geführte Invasion aus dem Norden zu stoppen: die Schlacht an der Roten Felswand, an jener Stelle am Mittellauf des Yangzi, die seither sowohl in der Tuschemalerei der Gelehrten wie auch in der Dichtung ein immer wiederkehrender Topos ist. Hier an der Roten Felswand gelang es den vereinigten südlichen Kriegsherren, Liu Bei und Sun Quan, den Versuch des so erfolgreichen Cao Cao zu vereiteln, den Yangzi zu überqueren und das Reich wieder zu vereinigen. Diese Verhinderung der Reichseinigung durch Cao Cao durch eine List, dessen Truppen zwar zahlenmäßig weit überlegen waren, aber wenig Erfahrung für das Kämpfen in den wasserreichen Gegenden des mittleren Yangzi-Laufs mitbrachten, verfestigte die Reichsteilung, die erst über siebzig Jahre später – und dann auch wieder nur für wenige Jahrzehnte – beendet werden konnte.
    Häufig waren Erfolge nämlich nicht das Ergebnis schierer militärischer Schlagkraft, sondern von Klugheit und Listenreichtum. Darauf beruhte auch diese Verhinderung der Yangzi-Überquerung. Man provozierte die Truppen Cao Caos, die blind in einer Nebelnacht ihre Pfeile zu Tausenden verschossen, die der Gegner mit an die im Nebel unsichtbaren Boote gebundenen Strohballen einfing – und auf diese Weise seine mangelnde Bewaffnung mehr als ausglich. Und spektakulär war ein weiterer Coup, die sogenannte "Kettenlist":
    Einem sich als Überlaufer gebenden Berater gelingt es, Cao Cao davon zu überzeugen, dass es von Vorteil sei, seine Boote durch Ketten miteinander zu verbinden. Er sagte:
    "Auf dem Yangzi ist der Wechsel der Gezeiten zu spüren, Wind und Wellen halten niemals ein. Die Soldaten aus dem Norden sind es nicht gewohnt, in Booten zu fahren, und werden von diesem Schaukeln krank. Wenn man nun die großen und die kleinen Schiffe und Boote so miteinander verbindet, dass sich Reihen von dreißig oder fünfzig nebeneinander ergeben, wenn man sie Bug an Bug und Heck an Heck mit Eisenringen und Ketten aneinander hängt und darüber breite Bretter legt, dann können nicht nur die Männer von einem Boot zum anderen gehen, sondern auch die Pferde. Wer auf diese Weise den Fluss befährt, braucht weder den Wind noch die Wellen noch das Auf und Ab der Gezeiten zu fürchten!< [I/673] Cao Cao stand auf und dankte ihm:>Ohne Euren wertvollen Rat wäre ich nicht in der Lage, das Reich Wu zu besiegen!"
    Cao Cao folgte dem Rat, und nachdem er so seine Flotte zusammengekettet hatte, vollendete die Gegenseite ihren Plan und griff Cao Caos Flotte mit Feuer an, dem die aneinander geketteten und so unbeweglich gewordenen Boote nicht ausweichen konnten.
    "Dieses Imperium muss auseinanderbrechen"
    Mit diesem Roman "Die Drei Reiche" ragt das Lebensgefühl vergangener Jahrhunderte in die Gegenwart. Er hat durch die Jahrhunderte Eindrücke hinterlassen und ist gelesen worden. Seine Gestalten und deren Reden haben sich eingeprägt und treten bis heute auf Bühnen und in Filmen auf. Nur eine, vielleicht aber auch die wichtigste Möglichkeit aktueller Anknüpfung an diesen Roman ist der Satz, mit dem er beginnt, und den jeder kennt:
    "Die Geschichte lehrt, dass die Macht über die Welt, wenn sie lange geteilt war, geeint werden muss, und wenn sie lange geeint war, geteilt werden muss."
    Als der heute in Deutschland im Exil lebende chinesische Autor Liao Yiwu im Oktober des Jahres 2012 nach der Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche seine Rede immer wieder mit der Parole unterbrach, die zum Titel der Rede wurde:
    "Dieses Imperium muss auseinanderbrechen"
    sollte dieser Satz unmittelbar an den Lehrsatz erinnern, mit dem der Roman "Die Drei Reiche" beginnt, den Liao Yiwu nun auf die heutige Volksrepublik China bezog.
    Solchen Aufrufen aber steht in China die Angst vor neuem Chaos entgegen. Dies erklärt die immer wieder bekräftigte Forderung nach Mäßigung und Reform. Die Erfahrungen des "Großen Sprungs" mit über 40 Millionen Hungertoten hat sich im kollektiven Gedächtnis eingebrannt. Vor überstürztem Kampf warnt daher der Literat Yang Jisheng, Jahrgang 1940, der sich detailliert mit dem Schicksal und dem Tod seines Vaters während der Zeit des Großen Sprungs auseinandergesetzt hat und damit ein herausragendes Beispiel öffentlicher Vergangenheitsbewältigung in China gibt. Trotz der Hinwendung zu Pragmatismus fehle China, meinte er, zur Sicherung seiner Erfolge ein demokratisches System, doch es brauche "noch sehr lange, bis in China ein modernes demokratisches System aufgebaut werden kann." Yang Jisheng beschließt seinen Bericht mit dem Rat: Damit nicht Despoten wieder die Macht an sich reißen, müsse man "sich denen in den Weg stellen, die überstürzt und übereilt gegen das alte System vorgehen wollen, denn genau sie könnten es sein, die einer neuen Despotie den Weg ebnen."
    Die Dynamik des heutigen China ist nicht vergleichbar mit den Verhältnissen vor 1800 Jahren, doch viele der Strategien und Listen sind in Erinnerung geblieben und finden innerhalb Chinas wie auch im internationalen Wettbewerb Anwendung. So kann man den Roman "Die Drei Reiche" ein Volksbuch nennen – das Volksbuch zum Verständnis von Macht und Geschichte und von "nationaler Identität". Denn obwohl der europäische Nationsgedanke in China erst am Ende der letzten Dynastie im 19. Jahrhundert in China Einzug hielt, gab es doch bereits nach dem Ende der Mongolenherrschaft in China im 14. Jahrhundert, der Zeit des Autors Luo Guanzhong unseres Romans, Ansätze zu einem neuen chinesischen Selbstbewusstsein, welches bis heute immer auch mit dem Gedanken verknüpft ist, dass China wieder wie in der Zeit der Drei Reiche in Teilreiche auseinander brechen könnte.
    Luo Guanzhong, "Die Drei Reiche".
    Roman. Aus dem Klassischen Chinesischen übersetzt und herausgegeben von Eva Schestag. S.Fischer. Frankfurt am Main 2017. 2 Bände, Leinen gebunden. 864 + 887 Seiten. 99 Euro