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Lustgefühle suchen und Unlustgefühle vermeiden

Der Psychologe Werner Gross vom Psychologischen Forum in Offenbach hat auf die Vielfalt von Suchtformen hingewiesen. Spielsucht sei dabei die bekannteste Form der stoffungebundenen Süchte. Auch an den Börsen agierten zum Teil süchtige Menschen; man gehe von zwei bis zehn Prozent aus.

Werner Gross im Gespräch mit Sandra Schulz |
    Sandra Schulz: Als die Bundesdrogenbeauftragte Sabine Bätzing in der vergangenen Woche ihren Jahresbericht vorstellte, hatte sie vergleichsweise erbauliche Kunde im Gepäck. Demnach sinkt der Konsum illegaler Drogen in Deutschland derzeit. Entwarnung geben Suchtforscher aber noch lange nicht, denn nicht nur illegale Drogen machen süchtig. Und noch eine andere Entwicklung gibt Anlass zur Sorge. Zwar ist die Zahlenbasis dünn. Fest steht aber: die Diskussion um Suchtformen, die nicht nach Stoff verlangen, sondern zu einem bestimmten Verhalten zwingen (also Kaufsucht oder Spielsucht oder Arbeitssucht), ist voll entbrannt und eines der Themen, die ab heute in Bielefeld erörtert werden, auf der Jahrestagung der deutschen Hauptstelle für Suchtfragen. - Mit dabei ist der Psychologe Werner Gross vom Psychologischen Forum in Offenbach und den begrüße ich jetzt am Telefon. Guten Morgen!

    Werner Gross: Guten Morgen, Frau Schulz.

    Schulz: Herr Gross, Ihr Vortrag hat den Titel "Je größer die Löcher in der Seele, umso größer müssen die Perlen in der Krone sein". Wofür stehen die Perlen in dem Bild?

    Gross: Es geht in meinem Vortrag schwerpunktmäßig um das Thema Kaufen, also Kaufsucht, Horten, Sammeln. Das ist so die große Überschrift. Man kann ja sagen, die inneren Löcher, also die Löcher in der Seele, die werden im Grunde durch äußere Objekte (seien das was weiß ich, bei Frauen Kosmetika oder Kleider, bei Männern dann eher vielleicht bei den größeren Sachen ein Auto oder irgendwelche technischen Geräte) ersetzt, damit man wenigstens kurzfristig nicht die Defizite, die inneren Defizite wahrnehmen muss.

    Schulz: Können denn umgekehrt diese Perlen, wie Sie es nennen, auch Löcher in die Seele reißen?

    Gross: Das können sie auch, weil da beginnt ja das Thema Sucht. Wenn man ständig sozusagen diese inneren Löcher mit äußeren Dingen versucht zu stopfen, ist das der beste Weg, wie aus sagen wir mal dem ganz normalen Verhalten, was jeder mehr oder weniger kennt, sich Sucht entwickelt. Das heißt, im Grunde läuft man eigentlich immer einem verkehrten Ziel hinterher. Es ist ein Krieg auf einem Nebenkriegsschauplatz und den kann man selten gewinnen.

    Schulz: Ihre Praxis ist in Offenbach ja ganz in der Nähe von Frankfurt am Main. Werden die Folgen der Krise an den internationalen Finanzmärkten denn auch in Ihrer Praxis konkret spürbar?

    Gross: Wir hatten jetzt, als das so richtig los ging mit dem Börsen-Crash, eine Zunahme von Leuten aus dem Bereich - nicht so sehr in der Psychotherapie, stärker im Coaching-Bereich. Der Unterschied zwischen Coaching und Psychotherapie ist ja, dass man sagen könnte, Psychotherapie ist so etwas wie eine seelische Runderneuerung, während Coaching immer den Fokus im beruflichen Bereich hat. Da gab es gerade Ende September, Anfang Oktober einen richtigen Schwall von Leuten, die aus dem Bereich gekommen sind.

    Schulz: Welche Rolle spielt die Spielsucht?

    Gross: Spielsucht ist sagen wir mal die inzwischen anerkannteste Form von stoffungebundenen Suchtformen oder von den so genannten Verhaltenssüchten. Man weiß ja nun auch schon seit längerer Zeit und wenn Sie sich die Werbung mal anhören von den Lotto- und Toto-Gesellschaften, dass die inzwischen in ihren Werbespotts schon davor warnen, dass sogar Lottospielen süchtig machen kann. Das zeigt dann so ein bisschen einen Hintergrund dazu, was da wirklich an Verhaltenssüchten in dem Spielbereich, in dem Geldspielbereich einfach wirklich da ist und wirklich zur Sucht werden kann, wo die Leute in einer ganz ähnlichen Weise abhängig werden können wie jemand, der von Alkohol abhängig ist oder von illegalen Drogen.

    Schulz: Ist die Spielsucht an den Handelsplätzen denn auch ein Thema in Ihrer Praxis?

    Gross: Man muss ja unterscheiden zwischen der reinen Spielsucht. Da geht es bei 80 Prozent ungefähr um Automatenspiele. Es gibt ein paar Leute, die in den Spielbanken ihrer Spielsucht nachgehen oder auf Pferderennbahnen. Aber es gibt auch bei den Börsianern, sagt man, so zwischen zwei und zehn Prozent der Broker, die spielsüchtig seien, das heißt börsenspielsüchtig. Sie sehen alleine schon an diesen relativ breiten Zahlen, zwei bis zehn Prozent und eine Schätzung, dass da unterschiedliche Experten zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

    Schulz: Gibt es denn auch Einschätzungen darüber, welche Bedeutung diese Spielsucht, die Sucht nach dem Spielen, an den Banken, an den Börsenhandelsplätzen auch auf die Krise hat?

    Gross: Ich denke mal, diese überreizten Formen hängen, glaube ich, schon damit zusammen, dass man immer schneller versucht, Geld zu bekommen, immer müheloser Geld zu bekommen. Dieses alte Spiel rein, rauf und raus, rein in eine Aktie, sie geht hoch und dann schnell wieder raus, das, denke ich, ist etwas, was einfach in den letzten Jahren zugenommen hat. Es gibt ja inzwischen nicht nur Day Trading, sondern Interday Trading. Das heißt, innerhalb eines Tages werden die Dinge ein-, zwei-, dreimal hin- und hergekauft und wieder verkauft. Bei den Leuten, mit denen wir hier zu tun haben, muss man immer unterscheiden zwischen dem, was da außen passiert, wo wirklich irgendwie hundert Tausende oder Millionen oder Hunderte von Millionen hin- und hergeschoben werden, und was in der Person passiert. Da gibt es einen Mechanismus, den nennt man im Englischen Arrousel. Das heißt im Grunde so etwas wie ein Erregungszustand.

    Wenn jemand wirklich börsensüchtig ist, dann ist dieser Erregungszustand immer da. Man kann sagen, das ist wie ein Schwungrad, was immer schneller dreht, oder ein Karussell, was immer schneller dreht, und irgendwann kann man es nicht mehr oder nur sehr schwer stoppen. Ich denke, ein Teil dieses Karussells hat eben abgehoben in den letzten zwei, drei Monaten. Dafür gab es ja schon vorher Indikatoren. Die Frage ist, kriegen wir eine sanftere Landung hin, als dass es zu einem Börsen-Crash kommt, wie er 1929 war.

    Schulz: Wenn man von diesen Sorgen hört, ist der Vorwurf dann berechtigt, dass es sich zum Teil auch um selbst gemachte, um Luxussorgen handelt?

    Gross: Sucht ist auch schon etwas, was man sich immer leisten können muss. Wenn es wirklich darum geht, dass man was zu Essen hat, dass man ein Dach über dem Kopf hat, dass man warme Kleidung hat, dann kommt man erst mal nicht auf dumme Gedanken. Das ist der eine Teil. Aber es gab immer auch die Unterscheidung zwischen der so genannten Luxussucht und der Armutssucht. Den Armutsalkoholismus, wo in den Bergwerken die Leute deshalb, weil sie nichts mehr hatten, einfach nur noch sich mit Alkohol, mit Methylalkohol eventuell die Birne zugeknallt haben, das gab es immer als eine Seite, oder die Indios, die Kokablätter gekaut haben, um ihren Hunger nicht zu spüren, das war sozusagen die Armutssucht. Die andere Seite davon ist diese Luxussucht, über die Sie sprechen. Das ist dann eben was weiß ich der Kokser, der auf einem Kristallspiegel mit einem 500-Euro-Schein sich irgendwie eine Nase zieht, oder irgendwie ein Champagner trinkender Mensch mit einem Kristallglas, der seinen kleinen Finger abspreizt. Das sind so die beiden Seiten der Sucht und generell kann man sagen, es gibt auch immer zwei Gründe, warum jemand süchtig wird. Das eine ist, Lustgefühle zu suchen, Lustgefühle sich herbeizuwünschen, und das zweite ist, Unlustgefühle zu vermeiden, nicht mehr spüren zu müssen was mir fehlt. Je länger ein Suchtprozess andauert, umso mehr geht es von dem Lustgefühl suchen über in den Bereich der Unlustvermeidung.

    Schulz: Werner Gross vom Psychologischen Forum in Offenbach. Haben Sie vielen Dank für diese Einschätzungen.

    Gross: Gerne.