Herbst 1917, der Weltkrieg tobt bereits im vierten Jahr. Das Deutsche Kaiserreich hat den "Hungerwinter" hinter sich und gerät militärisch immer mehr in die Defensive. Da jährt sich der Beginn der protestantischen Reformation zum 400. Mal. Das wird gefeiert, obwohl die Kriegsniederlage droht. So schreibt der Allgemeine Anzeiger für den Kreis Meisenheim am Reformationstag:
"Wir feiern in diesem Jahre das vierhundertjährige Jubiläum der Reformation. Da ist es selbstverständlich, daß wir dankbar des Mannes gedenken, der die Tat der Reformation getan. Und kein anderer Tag ist zu dieser Gedächtnisfeier geeigneter, als der, an dem Luther vor 400 Jahren, d.h. am 31. Oktober 1517, seine 95 Thesen an die Tür der Schloßkirche zu Wittenberg anschlug. Denn diese Stunde war recht eigentlich die Geburtsstunde der Reformation. Aber auch kein Mann war geeigneter, dieses Werk zu unternehmen als D.[oktor] Martin Luther, der Sohn eines Bergmannes, der Nachkomme von niederdeutschen Bauern, wohl der deutscheste Mann, den es je gegeben."
Kirchenglocken werden eingeschmolzen
Martin Luther, der deutscheste Deutsche aller Zeiten!? Als Held und Vorbild, so wurde Luther den Deutschen präsentiert. Denn die drohten, kriegsmüde zu werden - obwohl nach wie vor nur im Ausland gekämpft wurde. Wer wollte, konnte Anzeichen für die heraufziehende Niederlage bereits im eigenen Dorf entdecken: am Kirchturm.
"Ein Symbol dafür ist, dass eben auch alle Gemeinden ihre Glocken abliefern mussten, die dann eingeschmolzen wurden und als Kriegsgerät verarbeitet wurden."
Sagt die Historikerin und evangelische Theologin Katharina Kunter. Die Kirchenglocken blieben stumm, doch mit dem Heroen Luther wollte das Deutsche Kaiserreich den Krieg noch zu seinen Gunsten wenden:
"Man hoffte, den Luther insoweit zu instrumentalisieren, dass er Ernüchterung überflügelt und nach vorne weist. Und dass man was Identitätsstiftendes in dieser schwierigen Situation des vor Auge stehenden Ende des Kriegs vielleicht finden kann."
Mit Luther gegen Katholiken und Sozialisten
So feierten viele Deutsche am 31. Oktober 1917 "ihren" Martin Luther. Sie trafen sich auf Plätzen, in Schulen und auch an der Front. Das protestantisch geprägte Kaiserreich wollte damit aber nicht nur gegen die äußeren Feinde mobilisieren, erklärt Katharina Kunter:
"Dann musste der Protestantismus natürlich im eigenen Land auch gegen die Feinde - wie er sie ja sah - den Katholizismus und die Sozialdemokratie oder die Sozialisten kämpfen."
Auch dafür musste Luther herhalten - und genauso gegen die Frauenbewegung.
"Mein Eindruck ist in dieser Zeit auch: Luther wird bewusst als Mann stilisiert, um eben auch die Frauenbewegung zu diskreditieren und die protestantischen Frauen eben in ihr traditionelles Rollenbild zu pressen."
Der böse deutsche Luther
Während die Deutschen also Luther feiern oder zumindest feiern sollen, wird das Reformationsjubiläum im protestantischen Ausland kaum beachtet. Das war drei Jahrzehnte zuvor noch anders. 1883 war Luthers 400. Geburtstag begangen worden, auch in Schottland und den USA.
"1917 waren das natürlich die Feinde auf einmal, und in den Ländern selber wollte man nun nicht unbedingt noch dieses Deutschland mit dem Luther, gegen die man jetzt gerade kämpfte, feiern. Aber es entwickelte sich so ein bisschen die Tendenz, dass man sagte: 'Da in Deutschland haben sie den schlechten Luther sozusagen, den bösen Luther. Die interpretieren ihn falsch. Und wir versuchen jetzt das Sinnbild zu sein als eine protestantische Nation, um einen guten Luther zu verkörpern.' Also es gab auch eine ganz kleine Gegenbewegung."
Der "böse deutsche Luther" konnte sich im Weltkrieg nicht durchsetzen. Das Kaiserreich verlor und ging unter. Doch ist damit auch die nationale Vereinnahmung Luthers Geschichte? Immerhin wurde der Reformationstag 2017 zum nationalen Feiertag erklärt. Als nationalistisches Vorbild muss Luther heute nicht mehr herhalten, aber die Historikerin Katharina Kunter sagt dennoch, der Reformator werde vereinnahmt.
Wird Luther erneut instrumentalisiert?
"Ich erkenne sowohl auf der staatlichen politischen Seite als auch bei der kirchlichen Seite durchaus den Willen, Luther als einen sozusagen Vorreiter für Zivilgesellschaft, für westliche demokratische Kultur zu instrumentalisieren, dass er der Kämpfer für die Menschenrechte gewesen sei, für die bürgerlichen Freiheiten, für Freiheit überhaupt. Und das finde ich dann doch eine historisch nicht gerechtfertigte Instrumentalisierung."
Martin Luther, der Vorkämpfer der Moderne. So läuft uns der Reformator dieser Tage tatsächlich immer mal wieder über den Weg. Zum Beispiel in einer Rede von Bundespräsident Joachim Gauck, als das Reformationsjahr in Berlin offiziell eröffnet wurde. Für Gauck ist Luther ein Wegbereiter der politischen Freiheit. Zugleich verteidigt der Bundespräsident das staatliche Engagement beim Reformationsjubiläum.
"Wir vermischen hier nicht unzulässigerweise die kirchliche und die staatliche Sphäre, sondern der Staat erkennt an, dass auch er selber, in seiner Geschichte und Vorgeschichte, in vielfacher Weise von der Reformation und ihrer Wirkungsgeschichte geprägt ist. Die heutige Gestalt unseres Gemeinwesens ist ohne die christlichen Kirchen nicht denkbar. Und sie ist nicht denkbar ohne die Reformation."
Mit 42 Millionen Euro fördert der Bund das Reformationsjubiläum. Hinzu kommen das Fördergeld der Länder. Das Gedenken an die Reformation in Deutschland ist also auch 2017 eine Staatsangelegenheit - wie 1917, allerdings mit anderem Vorzeichen.