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Luther als Ketzer?
"Die Reformation ist ein Prozess wechselseitiger Abstoßung"

Das Reformationsjubiläum rückt näher. Es wird viel nachgedacht und geschrieben über Martin Luther, den Reformator aus Wittenberg. Manch eine kirchenhistorische Biographie wirkt wie eine Heiligenlegende. Anders bei Professor Volker Reinhardt aus Fribourg in der Schweiz. Der vielsagende Titel seines neuen Buches: "Luther, der Ketzer."

Volker Reinhardt im Gespräch mit Andreas Main |
    Ein Denkmal Luthers auf dem Wittenberger Marktplatz
    "Luther war ein Mediengenie, wie es sehr selten in der Menschheitsgeschichte aufgetreten ist" (Hendrik Schmidt / dpa)
    Volker Reinhardt ist Historiker. Er hat vielbeachtete Bücher über Machiavelli oder den Marquis de Sade geschrieben. Oder zur Geschichte Roms oder der Schweiz oder der Medicis. Die Renaissance in Italien ist einer seiner Schwerpunkte. Volker Reinhardt hat nun Akten in seine Reformationsgeschichte eingearbeitet, die detailliert erkennen lassen, wie Luther von Rom aus wahrgenommen wurde: Die Herren in Rom sahen in Luther den barbarischen Deutschen schlechthin. Und Luther wiederum hegte einen flammenden Hass auf den Papst, den er bezeichnete als "des Teufels Sau". Liegen die wahren Gründe für die konfessionelle Spaltung jenseits der Glaubensfragen? Das ist die zentrale These von Volker Reinhardt. Der Autor ist Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg in der Schweiz.
    Andreas Main: Luther – der Ketzer. So der Titel Ihres Buches. Was verstehen Sie unter einem Ketzer?
    Volker Reinhardt: Aus römischer Perspektive, aus vatikanischer Perspektive ist ein Ketzer ein notorischer Glaubensabweichler, der auch nach ausführlicher Belehrung nicht bereit ist, seine Irrtümer einzugestehen und deswegen zu Recht aus der Kirche, aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen und von Gott verdammt wird. Das ist die Definition der Zeit und gemäß dieser Definition war Luther für Rom ein Ketzer.
    Main: Sind die Päpste dieser Zeit, zumindest die meisten, gleichermaßen Ketzer?
    Reinhardt: In Luthers Sicht sind sie schlimmer als Ketzer, sie sind der Anti-Christ. Der Anti-Christ ist die übelste Verkörperung der Hölle, die kurz vor dem Ende der Zeiten in der Menschheit noch einmal blutiges Chaos und Verwirrung stiften wird. Man ist sich auf beiden Seiten nichts schuldig geblieben. Man argumentiert äußerst rabiat, äußerst grobschlächtig – es war von Anfang an.
    Main: Mal zu Ihrer Methode: Sie kontrastieren Luthers Sicht mit den intellektuellen oder machtpolitischen Verhältnissen in Italien beziehungsweise Rom. Dieser Konflikt Luther versus Papst wirkt offen. Und eben nicht vom Ende her gedacht. Ist Ihre Herangehensweise eine hermeneutische Grundentscheidung - oder wollten Sie Ihr Thema einfach für uns Leser spannend machen? Wie ist Ihr Ansatz motiviert?
    Defizitär im Glauben
    Reinhardt: Die Reformation wird immer in Form von bestimmten Narrativen, also bestimmten Erzähltypen dargestellt. Sie ist fast immer auf Luther und Deutschland zentriert. Aber das ist ja nur die eine Seite. Und einseitige Darstellungen führen nie zum Ziel. Die Reformation und das, was man später als Reformation versteht, ist keine einseitige Ablösung eine theologischen Genies, das die lange verschütteten Glaubenswahrheiten wieder entdeckt, sondern es ist ein Prozess wechselseitiger Abstoßung und deswegen muss man ihn so erzählen. Dass ein Mann wie Luther kommen würde, das weiß oder ahnt man zumindest im Vatikan. Das berichten die päpstlichen Diplomaten lange vor Luther. Der Tenor ist immer derselbe: Hier in Deutschland hat das Papsttum allen Kredit verspielt. Wir Römer sind hier nicht mehr gern gesehen, man glaubt uns nicht mehr. Und wenn einer kommt, der den Funken ins Pulverfass zündet, dann wird sich Deutschland erheben gegen die Zugehörigkeit zur Papstkirche. Das ist der Stand der Dinge schon vor dem Auftreten Luthers. Und Luther vollzieht dann das, was man im Grunde vorher bereits weiß. Man schreibt sich schon geraume Zeit vor Luther: man – also Rom und Deutschland, Deutschland und Rom – schreiben sich wechselseitig immer nur das Schlechteste zu. Man sieht die andere Seite als minderwertig, als defizitär im Glauben, als moralisch verwerflich. Deswegen kommt der für eine gütliche Einigung nach dem Auftreten Luthers notwendige Prozess einer Kommunikation von vorn herein nicht zu Stande. Es gibt keine Kommunikation nach dem Auftreten Luthers. Es gibt heftige Polemiken, weil jede der anderen Seite von vorn herein keinen guten Glauben zubilligt, sondern das Gegenteil, immer nur die niedrigsten Motive sieht.
    Main: Und diesen Gesamtzusammenhang übersehen zu haben - ist das Ihr Hauptvorwurf an die Adresse der protestantischen Lutherforschung? Denn die kommt nicht ganz so gut weg bei Ihnen.
    Reinhardt: Ja. Das ist vielleicht auch eine etwas grobschlächtige Polemik, aber ich sehe es letztlich so: Wer schreibt Reformationsgeschichte in Deutschland seit den Zeiten Leopold von Rankes, also seit 1830, sind fast immer protestantische Historiker. Das ist das bildungsprotestantische Milieu, das großartige Leistungen erbracht hat, das will ich nicht leugnen, aber in fast all diesen Reformationsgeschichten erscheint die römische Seite seltsam fahl, fast ausgeblendet, stereotypisiert. Ja, ja, da gibt es großartige Kultur, das gibt es einen Michelangelo, da wird während Luthers Aufenthalt in Rom die Sixtinische Kapelle mit unglaublichen Fresken geschmückt und so weiter. Aber auf die römische Sichtweise, auf die Gründe, Luther abzulehnen, ist man nie wirklich ausführlich zu sprechen gekommen. Die literarischen, theologischen Gegner, die sehr früh gegen Luther auftreten, werden kaum gelesen. Ihre Texte werden nicht wirklich ernst genommen. Und ich verstehe meine Reformationsgeschichte als überparteilich. Ich will und kann und darf auch für niemanden Partei nehmen. Aber wenn man die Geschichte einer Spaltung verstehen will, dann muss beide Seiten auf Augenhöhe, gleichgewichtet berücksichtigen.
    Main: Sie sind ein Papist?
    Reinhardt: Mit diesem Vorwurf kann ich leben, aber es stimmt nicht. Ich bin weder das eine noch das andere. Nein, ich glaube, dass die Leser meines Buches das nicht sagen. Deutsche Bildungsbürger kennen das positive Bild Leos X., also das Lutherpapstes, wie Thomas Mann es beschrieben hat – sinngemäß: mit diesem Mann hätte ich mich mit einem Glas Wein wunderbar unterhalten können. Leo X. hatte ein joviales Image. Er stellte sich als Menschheits- und Volksbeglücker dar. Er war ein eiskalter Machtpolitiker, der letztlich im Interesse seiner Familie, der Medici gehandelt hat. Also ich verherrliche ganz sicher die Päpste nicht. Man könnte mir auch das Gegenteil vorwerfen.
    Rückständiges, kaltes Deutschland
    Main: Tausende Quellen sind bisher nicht ausgewertet, sagen Sie. Das ist ein schwerer Vorwurf an die Adresse der Forschung. Fehlt da das Interesse? Oder ist das nicht opportun, darüber zu reden oder zu forschen, worüber Sie geschrieben haben?
    Reinhardt: Ich glaube, man ist hier sehr schnell mit Abwertungen bei der Hand. Die faszinierendsten Quellen zu diesem Thema wurden schon am Ende des 19. Jahrhunderts ediert. Es gibt sogar eine durchaus brauchbare Übersetzung dieser Quellen. Das sind die Briefe des römischen Nuntius Girolamo Aleandro vom Wormser Reichstag. Aber Sie finden sie in keiner gängigen Geschichte der Reformation oder in keiner gängigen Lutherbiografie. Auch hier sind die Vorurteile 400 Jahre lang, 500 Jahre lang wirksam. Aleandro – ja, das ist ein glänzender Gelehrter, der kann perfekt Lateinisch, Griechisch, Hebräisch und noch zehn andere Sprachen. Bezeichnender Weise kein Deutsch, obwohl er jahrelang in Deutschland ist. Er hat die Deutschen viel zu sehr verachtet, um Deutsch zu lernen. Also verachten wir ihn auch. Der Mann ist moralisch minderwertig, der hat uneheliche Kinder gezeugt. Das können Sie alles in diesen Editionen des 19. Jahrhunderts lesen. Die Perspektive, die sich durch Aleandro öffnet, das Bild auf Deutschland, das hat man nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Ein Bild eines – wie Sie sagten barbarischen – rückständigen, kalten, in jeder Hinsicht kalten Landes. Aleandro sagt am Ende seines Deutschlandaufenthalts: Ich hasse dieses Land aus tiefster Seele und vor allen Dingen diesen Wind. Also die Quellen sind da, aber man hat sie nicht ausgewertet, weil man glaubte, mit ihnen fertig zu sein.
    Nationalismus als erregende Erfindung
    Main: Bleiben wir noch ein wenig bei diesen wechselseitigen Vorurteilen "Deutschland-Italien", bevor wir auf den Erfolg Luthers eingehen. Nationale Stimmungen scheinen aus Ihrer Sicht mit ausschlaggebend gewesen zu sein dafür, dass sich der Konflikt Luther versus Rom immer weiter zuspitzt. Welche Rolle spielte das neue nationale Selbstbewusstsein einerseits in Italien - andererseits in Deutschland?
    Reinhardt: Eine sehr große Rolle. Wir müssen bedenken, die Nation ist eine relativ junge Erfindung zu dieser Zeit. Die Nation, wie wir sie heute verstehen. Den Begriff Natio im Lateinischen gibt es mit einer etwas anderen Bedeutung schon länger, aber Nation, wie wir sie heute verstehen, wird von den Humanisten erfunden – in Italien schon im 14. Jahrhundert, in Deutschland 150 Jahre später. Diese Idee fasziniert, die Idee, dass Menschen fundamentale Prägung durch die Zugehörigkeit zu einer größeren Wir-Gruppe erfahren, die sich positiv definiert und die anderen Wir-Gruppen, also die anderen Nationen negativ konnotiert, also radikal abwertet. Das ist ein Prozess, der zuerst in intellektuelles Spiel im 15. Jahrhundert ist. Also die Italiener schreiben, die Deutschen sind die letzten Hinterwäldler und irgendwann schreiben die deutschen Humanisten zurück, Italiener tun ja nur so, als wären sie wirklich gläubig und fromm sind, die reden zwar schön, aber in Wirklichkeit sind sie Atheisten und so weiter. Das ist am Anfang ein Spiel, aber es gewinnt im Zeitalter der beginnenden Reformation eine neue Dimension, eine Breitenwirkung. Man denkt bereits in diesem nationalen Kategorien. Du bist ein Italiener, also reagierst du in dieser Situation so und nicht anders, du denkst und fühlst so – und umgekehrt. Also das ist eine relativ neue Erfindung, eine erregende Erfindung, die aber immer stärker zur Welterklärung herangezogen wird.
    "Luther war ein Mediengenie"
    Main: Ist die Reformation also die Folge eines Konflikts um nationale Ehre?
    Reinhardt: In hohem Maße ja. Ich will nicht leugnen, dass es natürlich auch um theologische Meinungsverschiedenheiten geht. Da treffen ganz unterschiedliche Denkschulen, Philosophien, theologische Strömungen aufeinander. Das kann und will ich gar nicht leugnen. Ich gehe darauf ja auch ein. Aber dass man es nicht einmal für wert befindet, die Position der anderen Seite ernst zu nehmen, das erkläre ich aus den Vorurteilen, diesen nationalen Stereotypen, die bereits vorliegen. Die kommen ja auch sehr schnell ins Spiel. Luthers erster Gegner, der die 95 Thesen im Frühjahr 1518 begutachten soll, schreibt das: Martin, der hinterwäldlerische Mönch aus diesem gottverlassenen Nest da oben, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Und Luther reagiert ja ähnlich: du bist ja ein Thomist, also ein Anhänger des Thomas von Aquin, du bist ein Römer, du bist ein Italiener. Damit ist alles gesagt. Das heißt, wir müssen uns mit den Ideen der anderen Seite eigentlich gar nicht mehr auseinandersetzen, die können nichts taugen.
    Main: Luther als Nationalheld - ist das Ergebnis nachträglicher Geschichtsbilder oder basiert das bereits auf einer Selbststilisierung Luthers als Nationalheld?
    Reinhardt: Beides, aber sehr stark auf einer Selbststilisierung. Luther war ein Mediengenie, wie es sehr selten in der Menschheitsgeschichte aufgetreten ist. Er selbst hat sich ja sehr als etwas tapsig tollpatschiger Mönch in seiner Zelle stilisiert, der gar nicht versteht, was da für ein Sturm durch seine Ideen losbricht. Das ist eine sehr durchsichtige Imagebildung. Luther war ein genialer Kommunikator – in Deutschland. Was er denkt, wird zu Papier gebracht, in die Druckerpresse geliefert und erscheint auf dem Medienmarkt des 16. Jahrhunderts. Er hat auch immer die Nase voraus. Das ärgert seinen Hauptgegner, den Humanisten Aleandro, ja auch. Das passt auch nicht in sein Bild vom rückständigen Barbaren, dass ausgerechnet ein Barbar in der Mediengesellschaft dieser Zeit die Nase vorn hat. Luther stilisiert sich sehr früh zum deutschen Mann, zum Vertreter des armen, von Rom an der Nase herumgeführten, betrogenen, manipulierten, ausgebeuteten Deutschland. Das ist eine sehr geschickte Pose, es ist mehr als ein Pose - es sicher auch sein genuines, echtes Selbstverständnis.
    Main: Das Mediengenie Luther - das ist ein wichtiger Punkt auf dem Weg zum Erfolg Luthers. Denn anfangs hätte sich ja niemals jemand ausmalen wollen, dass aus einem Ort wie Wittenberg etwas hervorgeht, das Weltgeschichte schreibt. Gibt es noch weitere Gründe für diesen Erfolg?
    "Wir sind bisher betrogen worden vom Papst"
    Reinhardt: Natürlich, Luther ist auch der Erbe einer langen Tradition. Er macht sich zum Wortführer von Forderungen, die seit mehr als einem Jahrhundert gestellt, aber nicht erfüllt sind. Forderungen nach einer Reform der Kirche an Haupt und Gliedern. Das ist ein Dauermotiv der Kirchengeschichte. Aber speziell ab etwa 1370, 1380 steht es auf der Tagesordnung. Man will vor allem nördlich der Alpen, aber auch in Reformkreisen Italiens, man will eine pastoralere, eine stärker seelsorgerisch ausgerichtete Kirche, die sich nicht in die Machtkämpfe der Zeit einmischt, die keine neuen Staaten für Papstverwandte erkämpft, die sich weniger weltlich gibt, die also weniger glamouröse Hochhaltung und High Society Luxus hat. Man will eine andere Kirche, man will eine stärkere Rekrutierung von Führungspersonal nach Sittlichkeit, nach Bildung. Das alles macht Luther sich zu eigen, und das ist auch ganz ohne jede Frage sein Wunsch, sein Desiderat. Es kommen politische Motive hinzu, die auch in Luthers Forderungen einfließen. Die deutschen Fürsten wollen eine stärkere Verfügungsgewalt über ihre Landeskirche. Sie wollen Zugeständnisse von Rom bei der Nennung von Bischöfen und Kanonikern und so weiter. Also Luther ist auch in vieler Hinsicht ein Sammler von Traditionen. Wie jedes Mediengenie hat er ein sehr sensibles Gespür für aktuelle Themen, für Stimmungen, Trends – würde man heute sagen. Das alles will ich gar nicht negativ verstanden wissen. Das macht einen großen Teil seiner ungewöhnlichen historischen Rolle aus.
    Main: Umgekehrt: Theologische Finessen wie "sola sciptura", "sola fide", das was den Kern von Luthers Theologie ausmacht, das dürfte doch das Gros der Menschen, die hinter ihm standen, nicht verstanden haben?
    Reinhardt: Ganz sicher nicht. Das können wir ja auch belegen, wenn wir einmal schauen, wie Luthers Botschaften verstanden worden sind. Man hat einige Dinge ganz klar verstanden. Wir sind bisher betrogen worden vom Papst. Der Papst hat uns eine falsche Lehre verkündet, mit der wir nicht in den Himmel, sondern in die Hölle kommen. Luther, der Lautere, vergessen wir nicht, dass Luther als Hans Luder geboren wurde. Luther, der Lautere, der Befreier, hat die wahre Lehre wieder hergestellt und führt uns zu Gott. Das ist eine Botschaft, die auch ganz unabhängig von Luther Erfolg hatte. Calvin hat in Genf so gelehrt, Zwingli in Zürich. Das hat die Leute überzeugt, viele Leute überzeugt, dass da in einem anderen fremden Land mit fremder Kultur, dass da böse Mächte am Werk waren. Die Finessen, die Feinheiten, die hat man ganz sicher nicht verstanden. Dass "sola fide" letztlich auf eine Prädestinationslehre hinausläuft, wonach jeder Mensch nach seiner Geburt zum Heil oder zur Verdammnis vorherbestimmt ist – nein, das haben die einfachen Leute nicht verstanden.
    Main: Wir Heutigen verstehen ja vermutlich zum großen Teil auch nicht mehr, wieso etwas wie Ablass-Briefe zu einem - ich sage mal ganz bewusst etwas umgangssprachlich - zu einem Aufreger werden konnten. Was machte zum Beispiel diese Fragen rund um Sündenschuld und Sündenstrafen und Vergebung zu solch einem - wieder umgangssprachlich - Megathema?
    Reinhardt: Ich würde sagen: Es ist die Angst. Das Christentum ist eine Religion, die auf Sünde gegründet ist, auf die Erbsünde des Menschen nach dem Sündenfall im Paradies, auf die Angst vor dem Jüngsten Gericht. Werde ich nach meinem Tod am Ende der Zeit verdammt oder erlöst? Wer das glaubt, wirklich religiöse Menschen, leben in dieser Furcht, die ja wirklich eine existenzielle Angst wird, wenn man sie ernst nimmt. Und wenn dann eine Institution wie das Papsttum auftritt und sagt: Hört mal Leute, wir können euch helfen, wir können euch zwar nicht, wenn ihr durch und durch böse seid, vor der Hölle bewahren, aber wir können euch vor einem jahrelangen peinvollen Aufenthalt im Purgatorium, im Fegefeuer bewahren – dann ist das ein Angebot, das natürlich gerne wahrgenommen wird. Zumal es dann im 15. Jahrhundert auch noch für die Verstorbenen galt. Also wenn jemand die Möglichkeit hat, seinen verstorbenen Vater oder seine geliebte verstorbene Mutter aus einer Art Zuchthaus zu befreien – und zwar dadurch, dass er etwas Geld opfert – wer würde das nicht tun? Das war ein Renner, weil es genau den Nerv der Zeit traf, weil es auf die Mentalitäten der Menschen gemünzt war. Wir haben Angst vor der Verdammnis in allen Formen, auch vor der vorrübergehenden Strafe im Purgatorium. Und wenn da unserer Schuld gegen einen Ablassbrief erlassen wird, dann kaufen wir den.
    Erasmus - von beiden Parteien mit Lehm beworfen
    Main: Sie hören den Deutschlandfunk, die Sendung Tag für Tag. Aus Religion und Gesellschaft. Und wir sprechen mit Volker Reinhardt über sein neues Luther-Buch. In diesem Konflikt ging es um Theologie, um Nationalstolz – aber es ging auch um Macht und Geld. Das haben wir bisher ein wenig vernachlässigt.
    Reinhardt: Ja, auch darum geht es. Die Kirche ist ein Teil des Staates, der öffentlichen Ordnung - und sie ist sehr nah an der Macht. Der Papst ist ja ein mehrfacher Machthaber. Er beansprucht die Herrschaft der Kirche, beansprucht auch eine Art Oberaufsicht über die Politik. Einen eigenen Staat hat er sowieso. Kirchenfragen sind Machtfragen und Fragen von Geld und Einfluss. Rom ist ein gigantischer Pfründenmarkt. Im Rom wird ein großer Teil von Führungspositionen der Kirche ausgehandelt, was Luther auch sehr witzig und sehr treffend mit sehr guten Kenntnissen im Einzelnen kritisiert hat. Warum löst sich gerade Deutschland ab, warum kommt es zu diesem Abstoßungsprozess in Deutschland? Nun, schon ein dreiviertel Jahrhundert vor Luther wird von deutscher Seite immer wieder ein Argument vorgebracht: Wir zahlen zu viele Abgaben nach Rom. Rom plündert uns aus. Jeder Geistliche, der etwas werden will, einen neuen Posten bekommt, muss horrende Steuern nach Rom zahlen. Moderne Historiker haben das nachgerechnet und sind zu dem Ergebnis gekommen, es stimmt nicht. Die Deutschen zahlen sogar weniger als Spanier und Franzosen. Aber sie bekommen auch weniger. Die Deutschen haben an der Kurie keine besonders guten Chancen auf Führungspositionen. Sie sind einfach schlecht vertreten. Und sie sehen sich als Verlierer dieses Geschäfts. In einen Deal, von dem man weniger bekommt als man reinsteckt, in den investiert man nicht mehr.
    Main: Könnte man diesen Konflikt zwischen Rom und Wittenberg im weiteren Verlauf so deuten: Zwei Züge rasen aufeinander zu, ohne Kenntnis einer Notbremse?
    Reinhardt: Ja, das ist ein schöner Vergleich. Man versucht zu bremsen. Es gibt ja das berühmte Verhör Luthers durch einen römischen Kardinal, der in einigen Positionen durchaus nicht so anders denkt als Luther – das ist das allerunheimlichste. Dieser Kardinal – Tommaso de Vio genannt, Gaëtanus oder Cajetan, der Luther 1518 verhört und ihn am besten gleich als Gefangenen mitbringen soll, hat auch kein gutes Gefühl, was den Ablass gegenüber den Verstorbenen angeht. Das Gespenstige ist, dass man sich aber über die wirklich gemeinsam interessierenden Fragen gar nicht unterhält. Auch hier, wo es eigentlich zu einer Kommunikation kommen könnte, kommen müsste, kommt es nicht dazu. Also ich würde sagen, es sind zwei Züge, die aufeinander zu rasen, obwohl es diverse Versuche, sie zu bremsen, gibt.
    Main: Eine liberalere Haltung auf beiden Konfliktseiten, die dem anderen die Freiheit einer konträren Meinung gelassen hätte, die hätte eine Zuspitzung verhindern können?
    Reinhardt: Ja, das ist ja die Position des großen Erasmus von Rotterdam, der wirklich zwischen den Parteien steht und von beiden Parteien mit Lehm beworfen wird. Beide Parteien hassen ihn, sogar noch mehr als den jeweiligen Gegner, weil er den Versöhner, den Vermittler spielt. Erasmus sagt: Ja, es gibt gravierende Missstände in der Papstkirche. Die müssen behoben werden. Die Kleriker, die Geistlichen brauchen eine bessere Ausbildung, sie müssen vor allem sehr viel toleranter miteinander umgehen. In der Bibel stehen viele Dinge, die dunkel bleiben müssen, die auch nicht glaubensverbindlich sind. In der Bibel stehen einige wichtige Dinge, die man glauben muss, aber viele andere nicht. Und die Theologen zanken sich vor allen Dingen über die unwichtigen Dinge. Erasmus spielt diese Rolle des Versöhners und des Vermittlers: Man hat sie ihm nicht gedankt. Also, die Polarisierung schreitet voran und beide Seiten lehnen diese Vermittlungsversuche ab. Warum? Die Antwort, die ich darauf gebe: weil eben das Misstrauen durch diese kulturellen Vorprägungen im Rahmen der Nationenbildung, des Nationalismus bereits zu weit vorangeschritten ist. Man traut der anderen Seite einfach keine Einsicht und keine vernünftigen Meinungen zu
    Main: Die Reformation quasi als Prototyp dafür, wie sich Konfliktparteien nicht verhalten sollten?
    Reinhardt: Ja, das würde ich unbedingt so unterschreiben. Dieser Konflikt geschieht. Er ist im historischen Rückblick unvermeidlich. Und wir sollten uns selber, uns Menschen des 21. Jahrhunderts heraushalten – das macht es eigentlich nur noch spannender.
    Main: Und die sich auch ein wenig herausgehalten haben, das sind eher die Reformer, auch in Rom, auch gebildete Humanisten, die eine andere Kirche wollten, die aber eben ohne Hass-Tiraden oder Schwarz-Weiß-Malerei das Ganze begleitet haben.
    Reinhardt: Ja, die gab es natürlich auf Wittenberger Seite auch. Philipp Melanchthon ist unendlich viel entgegenkommender, versöhnungsbereiter. Aber es gibt auf römischer Seite diese ebenfalls zu Kompromissen bereite Gruppe, die auch noch zu Lebzeiten Luthers auf Religionsgesprächen auftritt, bei denen man dann eine letzte Verständigung sucht – in Regenburg etwa. Hier erkennt man zumindest den guten Glauben an, das gute Gewissen der anderen Seite. Man akzeptiert sogar gewisse Versatzstücke der Theologie, also dass der Mensch vor allem – nicht allein – aber vor allem durch den Glauben vor Gott gerecht wird. Aber diese verständigungsbereiten Gruppen haben in Rom ja auch keine Chance. Dann werden sie mit der Verhärtung der konfessionellen Fronten ab der Mitte des 16. Jahrhunderts in Rom auch von der Inquisition verfolgt. Also die Gemäßigten haben auf beiden Seiten keine Chance.
    Main: Blicken wir mal in unsere Zeit – auf die Auswirkungen dessen, was Luther losgetreten hat. Jetzt zum Schluss unseres Gesprächs. Was die evangelische als auch katholische Kirche betrifft – die sind Lichtjahre entfernt von dem, was Luther und seine Kontrahenten seinerzeit dachten. An dem Punkt dominiert eher die Unterbrechung und nicht die Kontinuität des Konflikts?
    Reinhardt: Ja, das ist schwer zu sagen. Die berühmten Versuche, Ökumene wieder herzustellen, die ja bekanntlich gescheitert sind – man geht sehr viel freundlicher miteinander um und findet auch nette Worte füreinander. Und dass Luther ein religiöses Genie war oder ein großer religiöser Denker war, das würde man von römischer Seite nicht bestreiten. Aber die Wesenszüge des Abweichlers, der Ketzers scheinen eher hinter dieser Zuckerguss-Einkleidung durchaus noch sichtbar. Ich glaube auch, dass das Papsttum heute an seinem doppelten Primat, also an der Vorherrschaft über die Kirche und seiner moralischen Aufsichtsfunktion festhält. Umgekehrt finden auch protestantische Theologen freundliche Worte für den Papst, aber die alten negativen Klischees sind im Gegenlicht noch sichtbar, glaube ich.
    Main: Volker Reinhardt war das. Sein neues Buch "Luther, der Ketzer. Rom und die Reformation" erscheint in dieser Woche im Verlag C.H.Beck. Vielen Dank, Herr Professor Reinhardt!
    Reinhardt: Ich danke Ihnen!