Die Rückführung und Rückbesinnung auf Luthers Zeit hat der neue Luther-Biograf Heinz Schilling in vorbildlicher Weise praktiziert. Das ist auch der Grund, warum sein Buch umfangreicher geworden ist, als es herkömmlicherweise nötig gewesen wäre. Nein, der Berliner Historiker Schilling mutet dem Leser zu, sich nicht nur in Luthers Person einzuarbeiten, sondern auch in die Denkweise der Renaissance. Damit wirbt er auch um Verständnis für die politischen Gegenspieler Luthers, Kaiser Karl V. und Papst Leo X. Und mahnt zu Beginn seines Buches:
Nicht um einen Luther, in dem sich unser eigener Geist spiegelt, soll es im Folgenden gehen, sondern um den "fremden" Luther, dessen Denken und Handeln sich sperrig zu den Interessen nachfolgender Generationen verhält.
Heinz Schilling hat seine Biografie klassisch aufgebaut: von der Wiege bis zur Bahre des Reformators. Viel Raum gibt er der geistigen Entwicklung des jungen Augustinermönchs, die der Historiker "die Geburt des freien Luther" nennt. Stichtag für diese Wandlung ist der 31. Oktober, Anno Domini 1517, der Tag vor Allerheiligen. Der Augustinermönch Martin Luther nagelt mit lauten Hammerschlägen 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg. So zumindest präsentierte 400 Jahre lang die evangelische Kirche den Beginn der Reformation. Doch dieses Bild ist eine Legende. Wahr ist vielmehr, dass Luther seine Klagen über den Ablasshandel 1517 an zwei Bischöfe geschrieben und dem Brief 95 Thesen beigelegt hatte, die er mit seinen Kirchenoberen diskutieren wollte. Dies ist heute anerkannter Forschungsstand, nicht aber verbreitetes Wissen in der Öffentlichkeit. Welche weiteren Legenden sich um den deutschen Reformator ranken, was Dichtung und was Wahrheit ist, hat Heinz Schilling in seiner Luther-Biografie grundlegend erörtert. Er hat sich auf mehr als 700 Seiten vorgenommen, den Leser zum wahren Reformator zu führen:
"Man muss Luther in seiner Zeit zunächst einmal verstehen und dann die 500 Jahre Wirkungsgeschichte durcharbeiten, um den Menschen zu verstehen, und nicht wieder sich, wenn ich es mal lax formulieren darf, einen Luther backen, wie er einen gerade passt."
Luther in seiner Zeit verstehen, das heißt, auch deutsche und europäische Fürstenpolitik verstehen. Schilling führt den Leser kundig durch die deutsche Politik am Anfang des 16. Jahrhunderts bis hin zum Wendepunkt auf dem Reichstag in Worms im Jahr 1521. Zu diesem Zeitpunkt war Luther bereits durch Kirchenbann zum Ketzer erklärt worden. Dennoch erhielt er von Kaiser Karl V. eine Chance, vor den versammelten deutschen Fürsten seine Kritik an der Kirche zu widerrufen. Doch der "christliche Wotan", wie er fortan tituliert wird, weicht nicht und ruft trotzig in die Fürstenrunde:
"Hier stehe ich, ich kann nicht anders."
Von nun an nimmt die Geschichte der Kirchenspaltung ihren Lauf. Die politische Folge ist, dass durch Luthers Unbeugsamkeit im Grunde genommen das Deutsche Reich zerschlagen wurde, wie Schilling nachvollziehbar darlegt:
Im Reich selbst war 1555 mit der religiösen Einheit des "Heiligen Reiches" auch der Traum eines deutschen Kaiserstaates zerbrochen. Statt einer neuzeitlichen Monarchie mit einem starken Kaiser an der Spitze, eigneten sich im Reich die Fürsten die neuzeitlichen Herrschaftsrechte an, sodass Deutschland fortan durch eine Vielzahl von Territorialstaaten geprägt wurde.
Es sind Schlussfolgerungen wie diese, mit denen der Historiker Schilling in seinem ausführlichen Epilog das Wirken Luthers über dessen Tod hinaus eindrucksvoll zusammenfasst. Heinz Schilling beschreibt in seiner Biografie, wie in der Vergangenheit, je nach Zeitgeschmack und Ideologie, Luther mal ein aufrechter Rebell war gegen eine scheinbar vom rechten christlichen Weg abgekommene katholische Kirche, für andere als deutscher Nationalist auftrat, als Deutschland noch gar keine Nation war. Deshalb und aufgrund seiner feindlichen Haltung gegenüber Juden konnte er von den Nazis leicht missbraucht werden. Doch der Geschichtsprofessor Heinz Schilling unternimmt den Versuch, dem Leser deutlich zu machen, dass diese Sichtweisen zu simpel und damit irreführend sind. Und dass es beispielsweise einen Unterschied gibt zwischen dem modernen Antisemitismus und dem, wie er es nennt, "Anti-Judaismus" Luthers:
"Er hoffte ja anfangs, alle Juden würden sich zu seiner Spielart des Christentums bekehren, dann sind sie volle Mitglieder der abendländischen Gesellschaft. Und just dieses ist ja im Dritten Reich nicht möglich. Und es gibt sogar schlimme Formulierungen lutherischer Bischöfe: Wenn die Juden sich taufen ließen, sie blieben immer noch Juden. Und das ist bei Luther nicht gegeben."
Auch wenn Heinz Schilling, anders als Luther, nicht bereit war, in der Sprache des Volkes für das Volk zu schreiben, sondern durchweg eine anspruchsvolle Wissenschaftssprache pflegt, ist seinem Buch eine breite Öffentlichkeit zu gönnen. Denn Schillings Stärke liegt im Herausarbeiten der Entwicklungsstufen, die Luther durchlief. Der Reformator schrieb Weltgeschichte, weil er zeigte, was ein Einzelner zu bewegen vermag. Deshalb muss jede Generation immer wieder neu versuchen, ihn zu verstehen.
Buchinfos:
Heinz Schilling: "Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs", C.H.Beck, 714 Seiten, 29,95 Euro, ISBN: 978-3-406-63741-4
Nicht um einen Luther, in dem sich unser eigener Geist spiegelt, soll es im Folgenden gehen, sondern um den "fremden" Luther, dessen Denken und Handeln sich sperrig zu den Interessen nachfolgender Generationen verhält.
Heinz Schilling hat seine Biografie klassisch aufgebaut: von der Wiege bis zur Bahre des Reformators. Viel Raum gibt er der geistigen Entwicklung des jungen Augustinermönchs, die der Historiker "die Geburt des freien Luther" nennt. Stichtag für diese Wandlung ist der 31. Oktober, Anno Domini 1517, der Tag vor Allerheiligen. Der Augustinermönch Martin Luther nagelt mit lauten Hammerschlägen 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg. So zumindest präsentierte 400 Jahre lang die evangelische Kirche den Beginn der Reformation. Doch dieses Bild ist eine Legende. Wahr ist vielmehr, dass Luther seine Klagen über den Ablasshandel 1517 an zwei Bischöfe geschrieben und dem Brief 95 Thesen beigelegt hatte, die er mit seinen Kirchenoberen diskutieren wollte. Dies ist heute anerkannter Forschungsstand, nicht aber verbreitetes Wissen in der Öffentlichkeit. Welche weiteren Legenden sich um den deutschen Reformator ranken, was Dichtung und was Wahrheit ist, hat Heinz Schilling in seiner Luther-Biografie grundlegend erörtert. Er hat sich auf mehr als 700 Seiten vorgenommen, den Leser zum wahren Reformator zu führen:
"Man muss Luther in seiner Zeit zunächst einmal verstehen und dann die 500 Jahre Wirkungsgeschichte durcharbeiten, um den Menschen zu verstehen, und nicht wieder sich, wenn ich es mal lax formulieren darf, einen Luther backen, wie er einen gerade passt."
Luther in seiner Zeit verstehen, das heißt, auch deutsche und europäische Fürstenpolitik verstehen. Schilling führt den Leser kundig durch die deutsche Politik am Anfang des 16. Jahrhunderts bis hin zum Wendepunkt auf dem Reichstag in Worms im Jahr 1521. Zu diesem Zeitpunkt war Luther bereits durch Kirchenbann zum Ketzer erklärt worden. Dennoch erhielt er von Kaiser Karl V. eine Chance, vor den versammelten deutschen Fürsten seine Kritik an der Kirche zu widerrufen. Doch der "christliche Wotan", wie er fortan tituliert wird, weicht nicht und ruft trotzig in die Fürstenrunde:
"Hier stehe ich, ich kann nicht anders."
Von nun an nimmt die Geschichte der Kirchenspaltung ihren Lauf. Die politische Folge ist, dass durch Luthers Unbeugsamkeit im Grunde genommen das Deutsche Reich zerschlagen wurde, wie Schilling nachvollziehbar darlegt:
Im Reich selbst war 1555 mit der religiösen Einheit des "Heiligen Reiches" auch der Traum eines deutschen Kaiserstaates zerbrochen. Statt einer neuzeitlichen Monarchie mit einem starken Kaiser an der Spitze, eigneten sich im Reich die Fürsten die neuzeitlichen Herrschaftsrechte an, sodass Deutschland fortan durch eine Vielzahl von Territorialstaaten geprägt wurde.
Es sind Schlussfolgerungen wie diese, mit denen der Historiker Schilling in seinem ausführlichen Epilog das Wirken Luthers über dessen Tod hinaus eindrucksvoll zusammenfasst. Heinz Schilling beschreibt in seiner Biografie, wie in der Vergangenheit, je nach Zeitgeschmack und Ideologie, Luther mal ein aufrechter Rebell war gegen eine scheinbar vom rechten christlichen Weg abgekommene katholische Kirche, für andere als deutscher Nationalist auftrat, als Deutschland noch gar keine Nation war. Deshalb und aufgrund seiner feindlichen Haltung gegenüber Juden konnte er von den Nazis leicht missbraucht werden. Doch der Geschichtsprofessor Heinz Schilling unternimmt den Versuch, dem Leser deutlich zu machen, dass diese Sichtweisen zu simpel und damit irreführend sind. Und dass es beispielsweise einen Unterschied gibt zwischen dem modernen Antisemitismus und dem, wie er es nennt, "Anti-Judaismus" Luthers:
"Er hoffte ja anfangs, alle Juden würden sich zu seiner Spielart des Christentums bekehren, dann sind sie volle Mitglieder der abendländischen Gesellschaft. Und just dieses ist ja im Dritten Reich nicht möglich. Und es gibt sogar schlimme Formulierungen lutherischer Bischöfe: Wenn die Juden sich taufen ließen, sie blieben immer noch Juden. Und das ist bei Luther nicht gegeben."
Auch wenn Heinz Schilling, anders als Luther, nicht bereit war, in der Sprache des Volkes für das Volk zu schreiben, sondern durchweg eine anspruchsvolle Wissenschaftssprache pflegt, ist seinem Buch eine breite Öffentlichkeit zu gönnen. Denn Schillings Stärke liegt im Herausarbeiten der Entwicklungsstufen, die Luther durchlief. Der Reformator schrieb Weltgeschichte, weil er zeigte, was ein Einzelner zu bewegen vermag. Deshalb muss jede Generation immer wieder neu versuchen, ihn zu verstehen.
Buchinfos:
Heinz Schilling: "Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs", C.H.Beck, 714 Seiten, 29,95 Euro, ISBN: 978-3-406-63741-4