Aus der Sicht der Kirchen ist es heute wunderbar bestellt um ihr Verhältnis zu Staat und Politik. Der Göttinger Theologieprofessor Reiner Anselm diagnostiziert eine breite Unterstützung der Kirchen durch die Politik. Noch nie sei in der bundesrepublikanischen Geschichte auch die programmatische Unterstützung für die Kirchen so groß gewesen. Früher waren da noch ganz andere Töne zu hören:
"Positionen wie die der Vor-Godesberger-SPD oder der DKP, aber auch die kirchenkritischen FDP-Papiere der 70er-Jahre kann ich momentan gar nicht erkennen, sondern das gesamte politische Spektrum ist auf der Ebene im Verhältnis zu den Kirchen enorm wohlwollend."
Reiner Anselm erinnert an die kirchenpolitischen Thesen der Liberalen, die vor 40 Jahren eine strikte Trennung von Kirche und Staat und unter anderem die Abschaffung der Kirchensteuer forderten.
Keine Reformation ohne die Politik
Obwohl Staat und Kirche in der Bundesrepublik verfassungsrechtlich getrennt sind, gibt es eine enge Beziehung zwischen beiden - und die ist vor allem historisch begründet. Schon die Reformation und die Entstehung protestantischer Kirchen waren im 16. Jahrhundert auf politischen Beistand angewiesen:
"Ohne den Staat und ohne den Schutz der Fürsten und ihrer auch eigenen Interessen wäre die Reformation mit Sicherheit nicht durchsetzbar gewesen."
Die evangelischen Fürsten garantierten den Schutz der neuen Konfession nach außen, sie übernahmen zugleich die Kirchenaufsicht und waren zuständig für die Durchsetzung einer evangelischen Lebensführung. Nur für den theologischen Bereich forderten die Kirchenleute eine eigene Zuständigkeit. Ansonsten zitierten sie den Apostel Paulus und den Römerbrief:
"Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen."
"Was man nicht kritisiert hat, ist die Obrigkeit als Obrigkeit."
Luthertum und Nationalismus
Indem die evangelischen Kirchen jahrhundertelang die Politik und deren auch unchristliches Wirken nicht kritisierten, sondern als gottgegeben unterstützten, gingen sie nolens volens einen engen Schulterschluss mit der Obrigkeit ein. Das zeigte sich von den Anfängen der Reformation in den Fürstentümern bis zum Kaiserreich nach 1871.
"Denn faktisch sind die Landesherren die höchste kirchliche Autorität [...] und von der Organisation her werden die Kirchen in die Staatsverwaltung integriert. Im 19. Jahrhundert kommt dann eine neue Dimension dazu [...] über den Gedanken der Nationalstaaten und dann verbindet sich das Luthertum mit dem Nationalstaat Preußens, [...] sodass es da zu der berühmten Allianz von Thron und Altar kommt."
Protestantismus, Pietismus und Nationalismus formen eine quasi religiöse Einheit, die zu Beginn des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren einen Höhepunkt erreicht. Zu Kriegsbeginn wird von den kirchlichen Kanzeln der von Theologen verfasste kaiserliche Erlass verlesen:
"Reinen Gewissens über den Ursprung des Krieges, bin ich der Gerechtigkeit unserer Sache vor Gott gewiss."
"Man hat den Protestantismus als Nationalreligion und für den gilt als Schutzmacht Preußen und dementsprechend konnte man besonders gegen Frankreich sein [...] Frankreich hatte den moralischen Verfall und das sind Katholiken und man sieht ja, wo das hinführt."
Anlässlich des Reformationsjubiläums 1917, gegen Ende des Ersten Weltkrieges, wurde Generalfeldmarschall von Hindenburg zu dem evangelischen Christen in der Nachfolge Luthers stilisiert. In dem Gedicht eines Protestanten heißt es:
"Du stehst am Amboss, Lutherheld,
Umkeucht von Wutgebelfer
Und wir, Alldeutschland, dir gesellt
Sind deine Schmiedehelfer,
wir schmieden, schmieden immerzu
Alldeutschland, wir und Luther du,
das deutsche Geld und Eisen,
und wenn die Welt in Schutt zerfällt,
wird deutsche Schwertschrift schreiben:
Das Reich muss uns doch bleiben."
Umkeucht von Wutgebelfer
Und wir, Alldeutschland, dir gesellt
Sind deine Schmiedehelfer,
wir schmieden, schmieden immerzu
Alldeutschland, wir und Luther du,
das deutsche Geld und Eisen,
und wenn die Welt in Schutt zerfällt,
wird deutsche Schwertschrift schreiben:
Das Reich muss uns doch bleiben."
Das Ende des Kaiserreichs war für die meisten Lutheraner ein schwerer Schlag. Denn die Vorstellungen über das politische System leiteten die Protestanten bis dahin aus ihrer Theologie ab: so wir es nur einen göttlichen Herrscher geben konnte, so konnte auch im weltlichen Bereich nur einer das Sagen haben: im Staat der Landesherr, in der Familie der Vater.
"Wo man immer sehr kritisch war, ist im Blick auf die Herrschaft des Volkes. Also demokratische Elemente, das fand man immer hoch problematisch. [...] Im engen Sinne begründet wird es mit der Grundfigur des Protestantismus, dass der Christenmensch zwar ein freier Christenmensch sei, aber durch die Sündhaftigkeit in seiner Erkenntnisfähigkeit des Guten hochgradig eingeschränkt und dementsprechend selbstsüchtig. Und die Lösung dieses Problems bestand im Protestantismus darin, die Gebote und dann auch die staatlichen Gebote als Grenzziehung und als Schutz gegen die Selbstsucht der Sünde zu rechtfertigen. Wenn man das so macht, dann kann das ja nicht angehen, dass derjenige, der durch die Gesetze im Zaum gehalten werden soll, die Gesetze selber setzen kann."
Die Kirche im Dritten Reich
Aufgrund ihres unkritischen Verständnisses der Obrigkeit waren nur wenige evangelische Christen in der Lage, den nationalsozialistischen Verbrechen Protest und Widerstand entgegenzusetzen.
Im Oktober 1945 kam die Führung der evangelischen Kirche in der Stuttgarter Schulderklärung zu der späten Erkenntnis:
"Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. [...] Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben. Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden."
Obwohl noch im autoritären Denken verhaftet, versuchte sich die evangelische Kirche auf die bundesrepublikanische Wirklichkeit einzulassen. Doch es dauert bis 1985, bis die EKD in einer Denkschrift erklärte:
"Als evangelische Christen stimmen wir der Demokratie als einer Verfassungsform zu, die die unantastbare Würde der Person als Grundlage anerkennt und achtet. [...] In der Demokratie haben alle Bürger und so auch die evangelischen Christen den von Gott dem Staat gegebenen Auftrag wahrzunehmen und zu gestalten."
Der Göttinger Theologieprofessor Reiner Anselm zu der Frage, wann die evangelische Kirche in der Demokratie angekommen ist?
"Lange Zeit hat man ja gesagt, das war erst 1985 der Fall mit der Demokratiedenkschrift. Ich würde sagen: Das stimmt nicht. Es ist erstaunlich, wie schnell die evangelische Kirche ihren Frieden mit der Demokratie gemacht hat nach dem Zweiten Weltkrieg. Das hängt damit zusammen, dass im Kontext der Bruderräte eine neue Form der Kirchenleitung propagiert worden ist. [...] Da kommt es zu einem starken erwachenden Selbstbewusstsein des Gemeinde- und Laienelements im Protestantismus."
Etwas anders verlief die Entwicklung in der DDR. Hier mussten sich die evangelischen Christen, Gemeinden und Landeskirchen oft in Auseinandersetzung mit der Staatsmacht behaupten. Doch die kirchliche Abgrenzung von Staat und Partei ermöglichte Freiräume, in denen sich demokratische Strukturen etablieren konnten, berichtet Katrin Göring-Eckardt, die Ende der 80er-Jahre die neue Freiheitsbewegung in Erfurt miterlebte:
"Mit allem Möglichen hatte die Staatsmacht gerechnet, aber nicht damit, dass die Leute mit Kerzen ihnen gegenüberstehen, und dass es Räume gab und dass es Pastorinnen, Pfarrer gab, die den Menschen Halt gegeben haben, die ihnen das sichere Gefühl gegeben haben: Man kann widerstehen, man kann aufstehen, und es gibt noch was Größeres, was Anderes als die Staatsmacht, die jetzt gerade dran ist."
Katrin Göring-Eckardt hat wie viele ehemalige Kirchenaktivisten in der DDR Karriere in der Politik gemacht. Kein Zufall, meint die ehemalige Präses der EKD-Synode und jetzige Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion.
"Ich glaube, dass die ostdeutschen Protestanten deswegen in die Politik gekommen sind, weil wir in der DDR-Kirche einen Freiraum hatten, auch demokratische Strukturen zu lernen. Und das hatten viele andere nicht."
Der hannoversche Bischof Ralf Meister weiß zwar um die Problematik theologischer Begründungen bestimmter politischer Systeme, aber er sieht durchaus eine Schnittmenge zwischen Demokratie und Evangelium:
"Das beginnt mit der Frage der Würde des Menschen, es beginnt mit den Artikeln unseres Grundgesetzes, die einen gewissen Ewigkeitscharakter haben, [...] dass die Freiheit des Individuums so hoch gehängt wird, das korreliert auch mit dem Freiheitsbegriff in Christus. Aber was mir fast noch wichtiger ist, dass die Einsicht in das Scheitern des Menschen - wie es in der christlichen Religion - als eine Schlüsselerfahrung auch formuliert worden ist, dass sich diese Frage des Scheiterns auch in einer demokratischen Willensbildung, in einem demokratischen Rechtsstaat auch wiederfindet."