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Lutherische Kirche in Chile
Unter Spannung

Vor allem die Nachfahren deutscher Einwanderer engagieren sich in den lutherischen Gemeinden Chiles. Die evangelische Kirche des Landes ist gespalten. Die Streitthemen sind dieselben wie in Europa: Wie liberal darf das Abtreibungsrecht sein? Sollen homosexuelle Paare heiraten dürfen? Ein Besuch in Valparaiso.

Von Sophia Boddenberg |
    Sonntag, 10 Uhr, evangelischer Gottesdienst in der Hafenstadt Valparaíso in Chile. Dunkles, leicht verziertes Gebälk, Empore und Bänke. Roter Teppich und rote Sitzkissen, ein Kronleuchter. "Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege", steht in altdeutscher Schrift an der Empore. Psalm 119, Vers 105 der Lutherbibel. Auch die hölzerne Tafel, die die Lieder anzeigt, ist auf Deutsch beschriftet. Pastor Olivera sagt:
    "Wir sind hier in der Kirche Santa Cruz in Valparaíso. Sie wurde 1897 von den deutschen Siedlern erbaut. Heute feiern wir, denn die Kirche wird 150 Jahre alt. Sie ist die erste protestantische Kirche mit Glockenturm und Glocke."
    "Wir entstanden als Kirche von Deutschen für Deutsche"
    Rodolfo Olivera ist 39 Jahre alt und ein sehr beliebter Pastor in Valparaíso. Er macht gerne Witze und lacht viel. Viele nennen ihren Pastor "Rudy". Sein zweiter Nachname ist Obermöller, denn seine Mutter ist Deutsche und sein Vater Chilene. Er ging auf eine deutsche Schule, aber lieber als Deutsch spricht er Spanisch. Die Kirche Santa Cruz sei sein zweites Zuhause, erzählt er.
    "Ich wurde in dieser Kirche getauft, konfirmiert, verheiratet, ordiniert und hoffentlich werde ich auch hier beerdigt. Als ich klein war, war ich nicht sehr gläubig. Ich fand die Kirche schrecklich. Sie war für mich ein Ort, an dem ich nichts verstanden habe, keiner hat mir etwas erklärt. Es war ein sehr verschlossener Ort, sehr deutsch. Ich wollte chilenisch sein und mit meinen chilenischen Freunden in die Kirche gehen. Damals war die Kirche nicht so offen wie heute. Der Ursprung unserer Kirche ist die deutsche Kolonie. Wir enstanden als Kirche von Deutschen für Deutsche. Heute, 150 Jahre später, machen wir alles auf Spanisch."
    Bis vor 10 Jahren wurden die Gottesdienste in der Kirche Santa Cruz auf Deutsch gehalten. Viele lutherische Kirchen in Chile machen das heute noch. Denn viele Gemeindemitglieder sind Deutsche oder Nachfahren deutscher Einwanderer.
    So auch Hildegard Fischer. Sie ist über 80 Jahre alt und eines der ältesten Gemeindemitglieder der Kirche Santa Cruz in Valparaíso. Sie wurde in Chile geboren und in der Kirche Santa Cruz getauft. Auch sie spricht lieber Spanisch als Deutsch.
    "Ich bin Chilenin, aber meine Eltern waren Deutsche. Mein Vater kam 1931, er war damals 23 Jahre alt. Die Situation in Deutschland war gefährlich. Hier in der Kirche war früher alles auf Deutsch, viele Immigranten kamen hierhin, vor allem Geschäftsmänner. Denn Valparaíso ist eine Hafenstadt."
    "Er will, dass wir glücklich sind"
    Die Kirche Santa Cruz liegt auf dem Cerro Concepción, einem der 46 Hügel Valparaísos. Die Hafenstadt am Pazifik ist bekannt für ihre vielen bunten Häuser, die an den steilen Hügeln zu kleben scheinen. Cerro Concepción gehört zum historischen Kern der Stadt, die Altstadt ist seit Weltkulturerbe. Die Kirche ist eine Touristenattraktion. Häufig hält Pastor "Rudy" Hochzeiten oder Taufen auf Englisch oder Deutsch. Er will die Kirche aber mehr für die Chilenen öffnen. Deshalb hält er den Sonntagsgottesdienst auf Spanisch. Volksnähe und Verständlichkeit - dazu verpflichte die Erinnerung an Luther.
    "In diesem Jahr feiern wir 500 Jahre der Reformation. Für uns geht es dabei nicht nur darum, unseren Glauben zu teilen und zu feiern, sondern darum, dass die Leute die lutherische Kirche kennenlernen und unsere Ideen für die Welt. Das hier ist nicht nur eine Kirche, wo Gottesdienste gefeiert werden, sondern hier gibt es Gemeindeleben und eine Ethik für unser Leben als Bürger. Wir glauben an eine verantwortungsvolle Freiheit, an ein Leben in Vertrauen in Gott. Ohne so viele moralische Gesetze, die die Freiheiten der Leute einschränken und ihnen sagen, was sie machen sollen. Und zwar nicht das, was Gott will. Denn er will, dass wir glücklich sind und in Freiheit und Frieden leben."
    "Für mich ist das nicht die Kirche"
    Pastor "Rudy" genießt einen Ruf als progressiver Pfarrer. Die evangelische Kirche gilt in Chile eher als konservativ. Erst vor wenigen Wochen machte sie Schlagzeilen nach dem sogenannten "Te Deum", einem feierlichen Gottesdienst, an dem alle wichtigen Politiker und Kirchenvertreter teilnehmen.
    Als Chiles Präsidentin Michelle Bachelet an der evangelischen Kirche in Santiago ankam, riefen ihr die Demonstranten die Wörter "Mörderin" und "nationale Schande" zu. Bachelet hatte sich für ein neues Abtreibungsrecht stark gemacht, das Abtreibung erlaubt, wenn die Frau vergewaltigt wurde oder durch die Schwangerschaft Lebensgefahr besteht. Bis vor wenigen Wochen drohte auch in diesen Fällen noch eine Gefängnisstrafe. Aber nicht nur dieses neue Gesetz wird von evangelischen Würdenträgern kritisiert, sondern auch alles, was mit Genderfragen zu tun hat. Der evangelische Pastor Eduardo Durán behauptete:
    "Bewegungen von Minderheiten haben es geschafft, eine politische Agenda zu installieren, die nicht von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. Geschlechteridentität, gleichgeschlechtliche Ehe und Legalisierung der Abtreibung. Das sind Gesetze, die nicht unsere christlichen Werte respektieren."
    Befürworterinnen des Rechts auf Abtreibung in Santiago de Chile
    Die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Sonderfällen spaltet die chilenische Gesellschaft (AFP / MARTIN BERNETTI )
    Pastor Rudolfo Olivera schämt sich für diesen Auftritt der evangelischen Kirche. Er veröffentlichte daraufhin einen Brief in der nationalen Zeitung "El Mercurio", in dem er sich für die Worte der evangelischen Pastore entschuldigte.
    "Was die Kirche da gezeigt hat, war peinlich. Es hat nichts mit der Bibel zu tun, Menschen zu beleidigen, und erst recht nicht die Institutionen eines Landes. Die Präsidentin der Nation zu beleidigen, können wir nicht akzeptieren. Deswegen war es sehr wichtig, etwas zu schreiben und eine andere Meinung zu zeigen. Sonst behalten die Leute dieses Bild von der Kirche. Und für mich ist das nicht die Kirche."
    Offenheit für alle
    Heute lädt seine Kirche zu einem Gitarrenkonzert ein. Das homosexuelle Paar Alexis und Ignacio, beide Ende Zwanzig, feiert außerdem ein kleines Jubiläum. Vor einem halben Jahr haben sie eine Lebenspartnerschaft geschlossen, heiraten dürfen sie bisher in Chile nicht. In Rudys Kirche Santa Cruz haben sie sich kennengelernt. Ignacio sagt:
    "Wir sind Mitglieder dieser lutherischen Kirchengemeinde seit der Osterwoche 2016. Wir kommen beide aus unterschiedlichen Gemeinden, ich aus einer traditionellen evangelischen Kirchengemeinde und Alexis aus einer katholischen Gemeinde. Wir sind hier hingekommen, weil die Kirche unserer Sexualität gegenüber offen ist, die in anderen Gemeinden als Sünde angesehen wird. Hier haben wir einen Ort gefunden, an dem wir unserem Glauben leben können."
    Die Offenheit und Toleranz der Gemeinde verkörpern für Igancio den Geist der lutherischen Reformation. Genau deshalb will Ignacio Pfarrer werden.