Um es vorweg zu sagen, das Ganze gleicht einem Etikettenschwindel, denn es geht nur am Rande um Theodore Kaczynski und den Fall des Unabombers, der dient allenfalls als publikumswirksamer Aufhänger. Und was jene unheimliche Allianz zwischen Kybernetikern, Sozialforschern, Psychologen, Multimediakünstlern und Informatikern betrifft, sie beruht auf bloßen Spekulationen, für die Dammbeck jeden Beweis schuldig bleibt. Dabei hätte das Thema durchaus Interessantes zu bieten gehabt, denkt man etwa an Strukturähnlichkeiten zwischen künstlerisch-wissenschaftlicher Produktion und gesellschaftlicher Wirklichkeit, doch wie bei Konspirationsphantasien üblich, wird die einmal geäußerte Vermutung schnell zur fixen Idee.
Mir war aufgefallen, dass es im Umfeld meines neuen Computers von Begriffen wimmelte, die ich schon aus anderen Zusammenhängen kannte: "Multimedia", "Virtualität", Grenzüberschreitungen und Revolutionen aller Art, das gehörte auch zum Programm einer in den 60er Jahren revoltierenden Kunst-Avantgarde, die alle Grenzen zwischen Kunst und Leben auflösen wollte: CHANGE NOW!
Pop- und Op-Art, Situationismus, Happenings, Künstler wie John Cage, Nam June Paik oder Andy Warhol, Bands wie Grateful Dead und Velvet Underground – das war ein Cocktail aus Revolte, Rock und Pop, der mich faszinierte. Die Botschaft war: Alles ist möglich, Realität ist beliebig veränderbar, du bist, was du sein willst! Merkwürdig, wie sich diese beiden Welten berührten, Computer und Kunst. Wieso verwendeten Künstler und Wissenschaftler beim Bau ihrer Maschinen anscheinend ähnliche Muster und Begriffe? Gab es ein geheimes Grundmuster oder System?
Diese Frage ist rein rhetorischer Natur, denn noch bevor Dammbeck sich in den USA auf die Suche begab, war er schon fündig geworden. Dass seine Interviewpartner auf die Vermutung, der Unabomber habe solcherart Zusammenhänge vorausgesehen und vor den Gefahren warnen wollen, mit Erstaunen und Kopfschütteln reagieren, ficht ihn nicht an. Unbekümmert spinnt er sein Netz und zieht Verbindungen, wo keine sind, etwa zwischen Kurt Gödels Unvollständigkeitssatz und der Unkontrollierbarkeit kybernetischer Systeme, zwischen Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Studie zum autoritären Charakter und den psychologischen Experimenten eines gewissen Henry A. Murray, zwischen den Mitgliedern der sogenannten Macy-Konferenz, LSD-Experimenten der CIA und der Entstehung des Internet aus dem zu militärischen Zwecken konzipierten Arpa-Net, zwischen Steward Brand, Ex-Hippie, Futurologe und Herausgeber des "One World Catalogue" und Kaczynskis Ausstieg aus dem Wissenschaftsbetrieb, und so weiter und so fort. Doch statt Argumente und Belege für seine Behauptungen vorzulegen, flüchtet sich Dammbeck in nebulöse Andeutungen.
ch habe also einen ehemaligen Mathematiker, über dessen Systemkritik keiner meiner Interviewpartner reden will. Und ich habe Ingenieure und Künstler, die von Technologie besessen sind. All das gehört offensichtlich zu einem System, dessen Konturen ich erst erahne. Anscheinend ein geniales Feedback-System, das jeden Angriff und jede Störung umgehend als Energiezufuhr für seine weitere Perfektionierung nutzt.
Spätestens jetzt gleitet Dammbecks Recherche auf das Niveau von Verschwörungstheorien ab. Und wie der Autor Tatsachen ignoriert beziehungsweise verdreht, dafür ein Beispiel. Als sechzehnjähriger Student nahm Kaczynski an einer psychologischen Versuchsreihe unter Leitung von Henry A. Murray am Departement for Social Relations an der Harvard-Universität Teil. Murray war Vertreter eines brutalen Behaviorismus. Die Probanden wurden einer "Dyadic Interaction" genannten Konditionierungsfolter unterworfen, bei der sie gezwungen waren, einen vorab verfassten Text über ihre persönliche Lebensphilosophie und Wertvorstellungen gegen beredte Profijuristen zu verteidigen. Erwartungsgemäß kam es bei dieser Versuchsreihe zu Zusammenbrüchen und Weinkrämpfen, die dokumentiert und gefilmt wurden. Nun präsentiert Dammbeck dem Zuschauer im Film die leere Filmdose mit dem Kommentar, sämtliche Kaczynski betreffenden Testergebnisse seien aus dem Harvard-Archiv verschwunden. Dass die Filmrollen der übrigen 19 Probanden ebenfalls unauffindbar sind und vermutlich von der Institutsleitung zurückgehalten werden, wird unterschlagen.
Dass Dammbeck schlampig recherchiert hat, lässt sich angesichts der zahlreichen englischsprachigen Publikationen zum gleichen Thema nicht entschuldigen. Dazu gehören solche Behauptungen, wie Kaczynski sei ein "Insider" des wissenschaftlichen Establishments gewesen (S. 22) oder Kaczynski bestreite bis heute, der Unabomber gewesen zu sein (S. 67). Sicher war Theodore Kaczynski ein junger, aufstrebender Mathematiker mit glänzenden Karriereaussichten, bis er 1969 den Campus in Berkeley gegen die Wälder Montanas eintauschte; aber er war auch ein typischer Einzelgänger, sozial und beruflich isoliert und geradezu linkisch im Umgang. Sein Spezialgebiet, die Grenzfunktionen beziehungsweise komplexe Analysis, galt als wissenschaftliches Randgebiet und war für die Computerforschung völlig unerheblich. Er war also alles andere als ein Insider. Was das angebliche Leugnen seiner Taten betrifft, da hätte ein Blick in Michael Mellos Buch über das Gerichtsverfahren "The United States of America Versus Theodore John Kaczynski" genügt, um Klarheit zu schaffen. Darin wird unter anderem die Beweiskraft der privaten Aufzeichnungen Kaczynskis diskutiert. Der hatte nämlich seinen Tagebüchern die Verbrechen anvertraut und jedes einzelne Attentat von der Planung bis zur Ausführung detailliert beschrieben.
Den zweiten und umfangreichsten Teil des Buches nimmt die deutsche Übersetzung des so genannten Unabomber-Manifests ein. Der Text "Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft", dessen Veröffentlichung der Unabomber zur Bedingung für den Verzicht auf weitere Anschläge gemacht hatte, erschien im September 1995 auf Drängen des FBI und auf Geheiß der damaligen Justizministerin Janet Reno in der "Washington Post". Die Rechnung, dem Täter so auf die Spur zu kommen, ging auf. Kaczynskis Bruder David hegte nach der Lektüre Verdacht und meldete seine Vermutung dem FBI. Als Zivilisationskritik, als politisches Manifest gar, wie manch moderner Maschinenstürmer glaubt, taugt Kaczynskis Schrift nun aber ganz und gar nicht.
Die industrielle Revolution und ihre Folgen sind eine Katastrophe für die Menschheit. Zwar ist die Lebenserwartung derer, die in "hochentwickelten" Ländern leben, dadurch bedeutend gestiegen, gleichzeitig aber ist eine Destabilisierung der Gesellschaft eingetreten, das Leben bringt keine Erfüllung mehr, Menschen sind Demütigungen unterworfen, psychische Leiden sind weit verbreitet (in der dritten Welt auch körperliche Leiden), und der Natur ist schwerer Schaden zugefügt worden. Die technologische Fortentwicklung wird die Lage weiter verschlimmern.
Was als Zivilisationskritik anhebt, entpuppt sich schon bald als Schmähschrift des enttäuschten Renegaten Kaczynski, der aus Ressentiment gegen den eigenen Berufsstand wettert und in Naturwissenschaft und Technik die Ursache allen Übels erblickt. Die von ihm dargebotene Alternative eines ökonomisch autarken Lebens in ländlichen Kommunen kommt als ein Gebräu aus Sozialdarwinismus und Naturromantik daher, wozu noch zu allem Überfluss der amerikanischste aller amerikanischen Mythen beschworen wird: Die gewaltsame Selbstbehauptung des Einzelnen. Was bei der Lektüre dieses Unabomber-Manifests verblüfft, ist das zwangsneurotische Geklapper und der gänzlich unbeseelte Tonfall der Sprache.
Kaczynski denkt und schreibt selbst wie jene Labortäter und Technokraten, die er zu hassen glaubt. Die psychischen Manipulationen, denen er sich ausgesetzt sieht, die Überwachungs- und Kontrollnetze, von denen er sich verfolgt fühlt, die individuellen Reglementierungen und universalen Schuldzusammenhänge, in denen er sich wähnt, der ganze paranoide Schwachsinn dient einzig und allein einem Zweck: die aus Hass begangenen Verbrechen zu rechtfertigen. Lutz Dammbecks hochtrabende Erklärungsversuche einer angeblichen Revolte gegen die totale Überwachung halten den Tatsachen nicht stand, seine Konstruktion des Unabombers kann man getrost vergessen.
Zum Schluss noch eine Empfehlung an die Bundesanstalt für Politische Bildung. Sie täte gut daran, den Film samt Begleitheft im Interesse der Schüler so bald wie möglich aus dem Verkehr zu ziehen. Für die Medienerziehung bietet "Das Netz. Unabomber, LSD und Internet" ein denkbar schlechtes Anschauungsmaterial und taugt allenfalls als Negativbeispiel.
Hermann-Christoph Müller war das über 'Das Netz; Die Konstruktion des Unabombers’ von Lutz Dammbeck. Erschienen ist der 184 Seiten starke Band in der Edition Nautilus und kostet 13.90 Euro.