Es ist Tag vier dieses EU-Sondergipfels in Brüssel und noch immer gibt es keine Einigung. Es geht vor allem um die Frage, wie 1,8 Billionen Euro verteilt werden sollen: Der EU-Haushalt für die kommenden sieben Jahre beläuft sich auf gut eine Billion Euro, hinzu kommt ein Corona-Wiederaufbauprogramm im Umfang von 750 Millionen Euro.
Aber die Unterschiede unter den 27 Staats- und Regierungschefs scheinen zu groß zu sein. Die sogenannten "sparsamen Länder" – Österreich, die Niederlande, Dänemark, Schweden und Finnland – wollen verhindern, dass ein Großteil der Hilfen als nicht zurückzahlbarer Zuschuss vergeben wird.
Berichten zufolge sieht ein neuer Kompromiss von Ratspräsident Michel vor, den Anteil der Zuschüsse auf 390 Milliarden Euro zu begrenzen. Ursprünglich sollten es 500 Milliarden sein. Diese Gelder müssten nicht zurückgezahlt werden.
Eine Einschätzung von Jean Asselborn, Außenminister von Luxemburg, einem Mann mit viel EU-Erfahrung.
Tobias Armbrüster: Herr Asselborn, haben Sie möglicherweise aktuelle Informationen über einen möglichen Durchbruch nach diesen Verhandlungen?
Jean Asselborn: Man muss aufpassen, glaube ich, mit dem Wort "Durchbruch". Ich habe das gehört heute Morgen von 390 Milliarden. Ich weiß nicht, ob die Kredite dann auch steigen auf 750 Milliarden. Das weiß ich nicht. Aber hier soll man sich aufeinander zubewegen. Und ich habe auch gehört, dass es eventuell auch Fortschritte gibt in Sachen Vetorecht. Sie wissen, dass die Niederländer sehr stark darauf gepocht haben, wenn die Gelder blockiert werden für die Projekte in den verschiedenen Ländern, dass dann ein Land das wieder in Frage hätte stellen können. Da scheint auch Bewegung zu sein, dass man hier eine Lösung findet. Das sind meine Informationen, die ich heute Morgen bekommen habe von meiner Vertretung.
"Europapolitikfähigkeit ist eigentlich die Pflicht"
Armbrüster: Wenn wir uns jetzt mal diesen EU-Gipfel in seiner Gänze bisher ansehen - wir sind immerhin bei Tag vier – und wie lange es da keine Einigung gab. Wie gesagt: Einigung scheint auch jetzt in diesen Minuten immer noch ein sehr großes Wort. Es ist nach wie vor ein Gipfel, bei dem auch ein Scheitern immer noch möglich ist. Kann man dann zusammenfassend sagen, diese Probleme, die sind vielleicht eine Nummer zu groß für diese Europäische Union?
Asselborn: Ich kann Ihnen nicht ganz Unrecht geben. Wenn Sie mir eine halbe Minute erlauben, würde ich sagen: Man hat manchmal den Eindruck, dass die Europäische Union sich in vier Teile aufteilt, den Norden, den Süden, den Osten, den Westen, und man weiß nicht mehr genau, was in der Mitte das Ding zusammenhält. Diese Mentalität, diese politische Einstellung, die ist nicht auf der Höhe, um die Größe der Aufgabe, die sich heute der Europäischen Union stellt, zu meistern. Die Bürger – wir müssen aufpassen, dass sie nicht die Berechtigung der Europäischen Union verlieren.
Ein großer europäischer Luxemburger Kommissar hat einmal von Weltpolitikfähigkeit gesprochen. Das ist ein Ziel. Aber Europapolitikfähigkeit ist eigentlich die Pflicht. Und wenn Sie mir erlauben: Ich glaube, wenn dieser Geist zum Beispiel dominiert hätte 1989, dann bin ich nicht überzeugt, dass die Wiedervereinigung Deutschlands so schnell über die Bühne und so glatt über die Bühne gegangen wäre, ob wir Europa hätten wieder vereinen können, ob wir heute einen Euro hätten, oder ob wir den Schengen-Raum hätten. Das hat alles damals Weitsicht, Risikobereitschaft und auch Überzeugung verlangt und keinen Kleinkrämergeist, wie das heute den Anschein hat.
Ich gebe Ihnen recht: Man muss sich große Gedanken stellen über das Funktionieren der Europäischen Union, vor allem in diesem Europäischen Rat.
"Debatte um Rechtsstaatlichkeit ist unsäglich"
Armbrüster: Wenn Sie schon 1989 erwähnen: War es ein Fehler im Nachhinein, Staaten wie Ungarn und Polen aufzunehmen?
Asselborn: Nein! Das war ja das einzige, was wir machen konnten. Es geht ja auch, glaube ich, nicht um die Staaten, um die Länder, um die Bürger. Es ist haarsträubend, dass wir in der Europäischen Union diese Debatte haben über die Rechtsstaatlichkeit. Das ist uneuropäisch! Das ist unsäglich für die Europäische Union. Das ist das Problem!
Das Problem ist nicht, dass Ungarn, Polen - - Polen war ja die Referenz, um die Osterweiterung hinzukriegen. Aber diese Politiker, die auf dieser illeberalen Schiene sind, oder wie nennt er das selbst, der Herr Orbán, das ist Gefahr, äußerst große Gefahr für die Europäische Union.
Armbrüster: Was raten Sie den Kollegen, die da in Brüssel zusammensitzen? Wie sollen sie mit diesen Staaten und mit diesen Staatenlenkern umgehen, mit einem Viktor Orbán, in so einer Streitfrage, wenn es um so viel Geld geht?
Asselborn: Es ist jetzt oder nie! Wissen Sie, ich habe gesagt, die Debatte ist unsäglich. Das muss man doch Viktor Orbán auch einmal unter die Nase reiben. Das ist ja eine Tautologie, wo wir drin sind, ein Sachverhalt, der doppelt sich wiedergibt. Demokratie ist Rechtsstaatlichkeit und die Europäische Union ist doch auf Demokratie aufgebaut, auf freien Medien, auf unabhängiger Justiz und auf Gewaltentrennung. Die Regierungen in Polen, in Ungarn, in Slowenien, selbstverständlich auch in Luxemburg oder in Deutschland sind ja nicht allmächtig. Sie sind unter der Kontrolle der Justiz und der Presse, denn die Parlamente sind manchmal in diesen Ländern fast ausgehebelt.
Wenn das nicht so ist, wenn wir keine freie Justiz haben, dann sind wir, wie Orbán das vielleicht sieht, in einem illiberalen System, aber das hat nichts verloren in der Demokratie. Und wenn das so weitergeht - Orbán ist jetzt zehn Jahre an der Macht. Wir können nicht noch zehn Jahre weitermachen, der uns nach unten zieht, was die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie in Europa angeht.
"Sparsamen Länder haben Debatte blockiert"
Armbrüster: Herr Asselborn, jetzt sind wir schon wieder bei Viktor Orbán und Ungarn. Dabei wurde in den vergangenen Tagen vor allen Dingen über eine andere Staatengruppe bei diesem EU-Gipfel gesprochen: die sogenannten sparsamen Vier. Manche nennen sie auch die geizigen Vier oder – wir haben das jetzt neu gehört – die frugalen Vier – möglicherweise sind es auch fünf Staaten. Die Staaten, die möchten, dass Europa nicht allzu viel Geld ausgeben soll, und die vor allen Dingen darauf pochen, wenn Geld ausgegeben wird, um diese Corona-Krise zu bekämpfen, dann muss das kontrolliert geschehen. Wie groß ist der Schaden, den diese Staaten angerichtet haben?
Asselborn: Die COVID-Krise ist ja gekommen. Wir hatten kein Budget von_2021 bis _2028. Und dann im Mai ist, wenn ich mir das erlauben darf, wirklich Deutschland ja über seinen Schatten gesprungen und ist auf Macron, auf Frankreich zugegangen und dieses Mammutpaket wurde geboren und die Kommission hat dieses Paket übernommen. Ich glaube, dass damals viele im Süden der Europäischen Union, aber auch überall anderswo Hoffnung geschöpft haben, dass man Ländern, die riskieren, sehr viel Arbeitslosigkeit zu bekommen, die riskieren, wirtschaftlich und sozial einzubrechen, zu helfen.
Aber parallel dazu, fast parallel dazu ist dieser Club der Frugalisten – Sie haben sie genannt – mit jetzt Finnland dabei entstanden, und wenn ich richtig gehört habe, dann hat Herr Rutte (das ist ja der holländische Premierminister) gesagt, die Zeiten sind vorüber, wenn Deutschland und Frankreich etwas vorschlägt, dass alle anderen marschieren müssen.
Das ist eine total falsche Einstellung, glaube ich. Das ist ein Argument, was uns in die Ecke drängt. Deutschland und Frankreich sind die beiden Länder, darum wurde die Europäische Union gegründet, dass die sich nicht mehr bekriegen und alle anderen mitziehen, ein Europa aufbauen, was funktioniert. Da, glaube ich, haben diese zwei Länder das Richtige gezeigt, und jetzt das alles kaputt machen. Ob es am Ende des Tages 500 Milliarden sind oder Ihre 390, ist ja nicht das große Problem. Aber diese Debatte hier, diese sparsamen Länder, die haben die ganze Debatte blockiert, vor dem Rat und auch im Rat, und das ist schlecht. Der Solidaritätsgedanke der Europäischen Union, der Gemeinschaftsgeist der Europäischen Union wurde dadurch lädiert.
"Kleinkrämergeist ist nicht das Richtige"
Armbrüster: Herr Asselborn, hat Herr Rutte da nicht vielleicht recht, wenn er sagt, dass diese Zeit vorbei ist, dass die Europäische Union hier bei diesem Gipfel gerade eine Zäsur erlebt, dass dieser alte europäische Motor Frankreich/Deutschland nicht mehr funktioniert, auch wenn sich die beiden Staatenlenker Merkel und Macron da plötzlich so sehr einig sind, dass sie doch so viele Gegner plötzlich vor sich haben, unter anderem mit den Visegrád-Staaten und mit den Frugalisten, wie Sie sie jetzt nennen?
Asselborn: Ja. Aber stellen Sie sich das Gegenteil vor. Stellen Sie sich vor, Deutschland wäre total auf einer anderen Schiene gefahren wie Frankreich, hätte Italien, was ja kein kleines Land ist, Spanien und so weiter einfach fallen lassen. – Was wäre dann das Resultat gewesen?
Und wir müssen aufpassen. Es geht ja nicht nur, dass die sparsam sind. Die sind gar nicht sparsam für sich selbst. Wir haben eine Debatte auch über Rabatte. Das heißt, 40 Milliarden in sieben Jahren - Beiträge werden nicht bezahlt von verschiedenen Ländern. Da ist auch Deutschland dabei. Deutschland, Österreich, Schweden, Dänemark, Holland. Alle anderen Länder sind eingeladen, sich zu beteiligen, um dieses Loch zu stopfen. 40 Milliarden, glaube ich, sind es in sieben Jahren. Auch das ist etwas, wo man gesehen hat auch in den letzten zwei Tagen: Je mehr die sparsamen Vier, die Frugalisten, je mehr sie Gehör fanden, je mehr haben sie wieder gefragt auch in anderen Gebieten, aber in einem gewissen Moment muss das vorüber sein und man muss sich besinnen, was die Menschen von der Europäischen Union jetzt erwarten. Die Bürger erwarten, dass sie fähig ist, uns aus dieser Krise herauszuführen, und da ist Kleinkrämergeist nicht das Richtige, was man anwenden soll.
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