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Luzerner Umfrage
Musikkritiker sind keine aussterbende Spezies

Kritiken klassischer Tonträger und klassischer Musik in Radio oder Print - interessiert die überhaupt noch jemand? Das haben Luzerner Forscher Interessierte aus verschiedenen Ländern gefragt. Das Ergebnis: Differenzierte Einschätzungen von Musikkritikern sind nach wie vor erwünscht.

Von Torsten Möller |
    Neuheiten-Regal in einem Berliner Schallplattenladen
    Die Luzerner Forscher beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Musikkritik und Kaufverhalten (imago stock&people / Müller-Stauffenberg)
    Musikkritik ist schwer auf den Punkt zu bringen. Mal handelt es sich um Konzert- oder Opernkritik, mal um eine Festivalumschau oder eine CD-Rezension. Je nach Kritiker fallen Urteile scharf aus, dann wieder gemäßigter bis hin zum nüchtern beschreibenden Bericht, zur mehr oder minder objektiven Reportage. Angesichts solch einer Vielfalt ging es an der Hochschule Luzern - Musik erstmal um eine Eingrenzung des heiklen Forschungsgegenstands, um eine Fokussierung durch konkrete Ausgangsfragen. Die "Rolle der Musikkritik im Klassik-Musikmarkt" stand zumindest anfangs im Zentrum. Und so lag es nahe, dass sich Elena Alessandri, Antonio Baldassare und ihr Team von der Hochschule Luzern-Abteilung Musikforschung auf kürzere CD-Rezensionen in Radiosendern und Zeitungen konzentrierten. Hörer und Leser wurden im ersten Schritt befragt: Interessieren überhaupt noch Kritiken klassischer Tonträger und klassischer Musik? Und wenn ja: Was erwarten Leser und Hörer? Elena Alessandri:
    "Das war auch eine sehr erfreuliche Erkenntnis für mich. Also tatsächlich wird Musikkritik immer noch respektiert und gebraucht und erwünscht. Wir haben Stichproben gehabt von etwa 1200 und etwa zwei Drittel davon haben gesagt, sie lesen und hören regelmäßig Musikkritik. Und sie haben ziemlich klare Meinungen in Bezug auf: Was soll besprochen werden in Musikrezensionen, was sind die wichtigen Eigenschaften einer guten Musikkritik, welche Kompetenzen und Erfahrungen soll ein guter Kritiker auch mit sich bringen?"
    Teilnehmer der Umfrage kamen aus verschiedenen Ländern
    Ihre Daten erhielten die Luzerner Kritikforscher über einen längeren Fragebogen, den sie in Internetportalen der englischen BBC oder schweizerischen Musikmagazinen bereitstellten. Die Teilnehmer der Umfrage kamen aus verschiedenen Ländern und waren zwischen 17 und 85 Jahren alt; es handelte sich um keine Experten, sondern eher um Gelegenheitshörer, die trotz ihres in der Regel breiten Musikgeschmacks lebhaftes Interesse an klassischer Musikkritik zeigten. Dies ist ein erstaunlicher Befund. Und überraschend ist auch die recht differenzierte Bewertung von CD-Rezensionen. Es geht ihnen nicht um Pro und Kontra, um Daumen rauf oder runter. Überzeugender für Hörer und Leser ist das Engagement von Kritikern, deren differenzierte Argumentation und vor allem: die subjektive Verbindlichkeit eines ausgebildeten Experten. Offenbar – das meint Antonio Baldassare – haben sich die Erwartungen an Musikkritik im Lauf der Zeit kaum verändert. Nach wie vor will man sich gern von einem versierten Experten leiten lassen. Gerade unter den Vorzeichen von Twitter und anderen Internet-Oberflächlichkeiten.
    "Was ich dann doch auch spannend fand: Die Frage danach, wie objektiv ein Urteil ist, ist völlig irrelevant. Es wird über den Arbeitsethos vermittelt beziehungsweise über das, was die Hörerinnen und Hörer an Erwartungen an eine Kritik haben. Und wenn diese Erwartungshaltung erfüllt wird erfüllt wird – diese Begründung. Dann ist das genügend."
    Musik wir viel über digitale Kanäle gehört
    Sehr viele Daten sammelten Antonio Baldassare und Elena Alessandri. Es ging im Fragebogen um Informationsquellen, um Musikmedien, auch ums Bezahlen für Musik. Die Ausgangsfrage, wie CD-Rezensionen das Kaufverhalten beeinflussen, wurde durch die Umfrage relativiert; denn 45 Prozent aller Befragten, also fast die Hälfte, gaben an, für klassische Musik nie direkt zu zahlen. CD-Labels wird es nicht freuen, aber man hört die rezensierte Musik in der Regel über digitale Kanäle, also über YouTube, Spotify oder iTunes. Bei der häuslichen Musiknutzung im Allgemeinen leben klassische Medien nach wie vor weiter: 54 Prozent aller Befragten hören weiterhin CDs, zehn Prozent nutzen noch (oder wieder) Vinylplatten, niedliche zwei Prozent legen weiterhin die gute alte Mikrokassette ein. Antonio Baldassare betont, dass die Ausleuchtung privater Medien nichts über Art des Musikkonsums aussagt. Wie konzentriert, auch wie lange jemand zu Hause Musik hört, wurde nicht erhoben. Dennoch ergibt sich ein überraschendes Bild eines Klassik-Hörers, der mit dem oft von der Musikwissenschaft untersuchten Konzertbesucher nichts zu tun hat. Auch viele jüngere und sogenannte bildungsferne Menschen hören zu Hause klassische Musik. Insofern ist das Lamento einer "Krise klassischer Musik" eher eine Krise des klassischen Konzertformats.
    "Was wir festgestellt haben, wäre, um es ganz einfach zu sagen: Die Leute springen eigentlich zwischen den Genres hin und her und kümmern sich recht wenig darum, ob das jetzt Klassik, Jazz oder Funk ist oder populäre Musik, auch Volksmusik, sondern eher darum bemüht sind, einerseits das zu hören, was sie wollen, auch was sie interessiert, und dort ihre Informationen zu holen. Das ist für sie wichtig. Und wenn ich daran denke, dass ja gerade Radio und Fernsehen noch immer so in Genres denken, das das jetzt ein Resultat wäre – aber immerhin, das geht so in die Richtung."
    67 Prozent hören Musikbesprechungen im Radio
    Woher der klassische Gelegenheitshörer seine Informationen bekommt, ist klarer festzustellen. 67 Prozent hören Musikbesprechungen im Radio; in der Regel die in den verschiedenen Ländern etablierten Radiosender. Ein Grund dürfte sein, dass das Radioformat unmittelbarer und lebendiger ist als ein Printtext, da die besprochene Musik ja gleich mitklingt. Auf der anderen Seite sind nach Informationen suchende Hörer auf das Radio geradezu angewiesen. Noch vor 20 Jahren bot der Feuilleton-Teil überregionaler Zeitungen Rezensionen vieler Uraufführungen, Premieren oder neu erschienener CDs. Heute sieht es eher mau aus in der "Süddeutschen", der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" oder der "Neuen Zürcher Zeitung". Elena Alessandri:
    "Und wir haben gesehen, wie schwierig es ist, insbesondere im deutschen Sprachraum, Rezensionen von Fachzeitschriften oder insbesondere von Newspapers zu finden. Also wir haben ziemlich gezielt gesucht nach klassischen Rezensionen, wir wollten Klavierrepertoire auswählen – und teilweise war das fast unmöglich. Wir mussten jahrelang zurückgehen und unterschiedliche Newspapers schauen, um zu einer gewissen Menge von Material zu kommen. Und das fanden wir auch ziemlich interessant, weil dieser Fragebogen war auf Englisch und Deutsch verfügbar, und zwischen den Leuten, die den Fragebogen auf Deutsch ausgefüllt haben, waren viele, die auch gesagt haben, sie lesen Rezensionen – weil wir gefragt haben: Wo lesen Sie Musikkritik? – in englischsprachigen Fachzeitschriften. Wir haben gesehen, sie gehen zum Beispiel zum Grammophone oder zur BBC Music. Wir haben uns auch gefragt, was bedeutet das? Gibt es vielleicht noch einen größeren Wunsch nach dieser Art von Produkt, von Musikkritik, als was im Moment angeboten wird?"
    Musikkritiker sind keine aussterbende Spezies
    Reich sind die neuen Erkenntnisse, reich sind die Perspektiven der Luzerner Forschungen. Seltsam durchkreuzen sich neue Entwicklungen mit dem traditionell Etablierten. Die Forschungen aus Luzern zeigen: Heutige Musikkritiker sind keine aussterbende Spezies; ihre differenzierten Einschätzungen sind nach wie vor erwünscht, vielleicht sogar erwünschter denn je angesichts des Diktats des Populären, auch des Oberflächlichen. Wie sich das Bedürfnis nach qualitativ hochwertiger Information und guter Musik verhält zur Bereitschaft, dafür auch Geld zu zahlen – das bleibt offen. Nur User und Musikliebhaber können beantworten, was ihnen Musik und gute Information künftig wert sind. Dass Qualität kostet sollte zumindest im Hinterkopf bleiben.