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Lydie Salvayre: "Weine nicht"
Der Spanische Bürgerkrieg aus zwei Perspektiven

Vor 80 Jahren brach der Spanische Bürgerkrieg aus. Die französische Schriftstellerin Lydie Salvayre beleuchtet den Krieg in ihrem 2014 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman "Weine nicht" aus zwei Perspektiven: Dem Zeitzeugnis des Schriftstellers Georges Bernanos stellt sie die Erzählungen ihrer Mutter siebzig Jahre nach den Ereignissen entgegen.

Von Christoph Vormweg |
    Rotspanische Kavalleristen kehren nach einem erfolgreichen Aufklärungsritt in ihre Stellung zurück (1936). Auf den drei Pferden sitzen zwei Männer und eine Frau.
    Lydie Salvayre beweist in "Weine nicht" einen schonungslosen Blick für die Realitäten des Bürgerkriegs. (picture alliance / dpa / dpa)
    Kriege spielen sich nicht nur auf den Schlachtfeldern ab. Sie erobern auch die Gehirne und Gefühle der Menschen fernab der Fronten. Angeheizt von Propaganda-Meldungen, Todesnachrichten und Gerüchten laufen die Fantasien und Ängste Amok. Mit anderen Worten: Im Hinterland gärt ein ganz eigenes, vielstimmiges Kopfkino – in großer Eindringlichkeit zum Beispiel vorgeführt von Philippe Claudel in seinem Roman "Die grauen Seelen", der während des Ersten Weltkriegs spielt.
    Auch Lydie Salvayre stellt in ihrem Roman "Weine nicht" Nebenschauplätze abseits der großen Gefechte des Spanischen Bürgerkriegs ins Zentrum: zum einen das katalanische Dorf, in dem ihre Mutter die Kindheit verbracht hat; zum anderen Palma de Mallorca, wo der französische Schriftsteller Georges Bernanos 1936 lebte und schrieb. Die Zerrissenheit der spanischen Bürgerkriegsgesellschaft wird also aus zwei völlig verschiedenen Perspektiven beleuchtet: der Innenperspektive einer katalanischen Bauerntochter und der Außenperspektive eines hochgebildeten Ausländers.
    Dieses Wechselspiel gibt dem Roman "Weine nicht" seine ganz eigene, atmosphärisch sehr intensive innere Dynamik – und zwar auch sprachlich. Denn der Schriftsprache des Zeitzeugen Georges Bernanos, der seine Beobachtungen 1936/37 im Buch "Die großen Friedhöfe unter dem Mond" festgehalten hat, steht das umgangssprachliche sogenannte "fragnol" gegenüber. Diese im Roman dominierende, fehlerdurchsetzte und wortschöpferische Mixtur aus Französisch und Rest-Spanisch hat sich Lydie Salvayres Mutters nach ihrer Flucht 1938 in siebzig Jahren Exildasein angewöhnt.
    Präsenz und Direktheit verschafft dem Roman erzählerische Zugkraft
    "Meine Mutter ist eine schlechte Arme. Eine schlechte Arme ist eine Arme, die das Maul aufmacht. […] Am 18. Juli 1936 stellt sich meine Mutter in Begleitung meiner Großmutter bei den Burgos vor, die ein neues Hausmädchen einstellen wollen. […] Als die Entscheidung gefällt werden soll, wendet Don Jaime Burgos Obregón seiner Gemahlin ein zufriedenes Gesicht zu und verkündet, nachdem er meine Mutter von Kopf bis Fuß gemustert hat, in diesem Ton voller Selbstgerechtigkeit, den sie nicht vergessen hat: Sie sieht recht bescheiden aus.
    Meine Großmutter dankt ihm, als hätte er sie beglückwünscht, aber mich bringt dieser Satz zur Raserei, sagt meine Mutter zu mir, er wirkt auf mich wie eine Beleidigung, wie ein Tritt in den Hintern, meine Liebe. […] Als wir dann wieder auf der Straße stehen, beginne ich zu schreien: Sie sieht recht bescheiden aus, verstehst du, was das heißen soll? Nicht so laut, um Himmels willen, fleht meine Mutter, die es gewohnt ist, immer im Schatten von anderen zu stehen. Das heißt – ich habe gekocht, meine Liebe, ich habe gekocht – das soll heißen, dass ich ein sehr dummes und sehr gehorchsames (so sagt sie) Hausmädchen sein werde!
    Das heißt, dass ich alle Anordnungen von Doña Sol widerspruchslos ausführen und ihre Kacke widerspruchslos aufwischen werde! […] Das heißt, dass Don Jaime mir einen – wie nennst du das – Hungerlohn bezahlen wird und dass ich dann mit diesem bescheidenen Gesichtsausdruck, der mir so gut steht, muchísimas gracias sagen muss. […] Und ich schreie noch lauter: Es ist mir egal, ob man mich hört, ich will nicht Mädchen für alles bei den Burgos sein, lieber werde ich Hure in der Stadt!"
    Nicht nur das Präsenz, auch die zuweilen vulgäre Direktheit des mütterlichen Tons verschafft Lydie Salvayres Roman "Weine nicht" seine erzählerische Zugkraft. Schon auf den ersten Seiten katapultiert sie uns hinein ins Bürgerkriegsgeschehen. Alles steht infrage: die politischen Machtverhältnisse, die sozialen Hierarchien, die moralische Herrschaft der Kirche. Ihre Mutter, die damals 15-jährige Montserrat, genannt: Montse, hat sich vom revolutionären Elan ihres älteren Bruders José anstecken lassen.
    Während eines Ernte-Einsatzes in Lérima hat er miterlebt, wie Anarchisten den Großgrundbesitzer kurzerhand enteignet und neue, gewaltfreie Formen des Zusammenlebens erprobt haben. Seither erwartet auch Montse mehr vom Leben als ihre eigene Mutter, die in Beruf und Ehe nur das Dienen gelernt hat. Freiheit ist das große, neue Hoffnungswort. Statt ihre Arbeit bei der reichen Familie Burgos aufzunehmen, folgt Montse ihrem Bruder in die Anarchisten-Hochburg Barcelona.
    "Auch heute Abend höre ich ihr zu, wie sie in der Asche ihrer verlorenen Jugend rührt, und sehe, wie ihr Gesicht lebendig wird, als wäre ihre ganze Lebensfreude auf diese wenigen Tage im Sommer 36 in der großen spanischen Stadt zusammengeschrumpft. […] Ich lausche ihren Erinnerungen, die durch meine gleichzeitige Lektüre von Bernanos' 'Großen Friedhöfen unter dem Mond' verdüstert und vervollständigt werden. Und ich versuche die Ursachen dieser Unruhe zu ergründen, die diese beiden Erzählungen in mir auslösen. Eine Unruhe, die mich, wie ich fürchte, an einen Punkt führen wird, zu dem ich mich eigentlich gar nicht hinbewegen wollte.
    Aktualisierende Bekenntnisse der Erzählerin sind überflüssig
    Es sind widersprüchliche und letztlich ziemlich wirre Gefühle, die durch unbekannte Schleusen auf mich einströmen. Während die Schilderung der anarchistischen Erfahrung von 1936 durch meine Mutter in meinem Herzen eine unbestimmte kindliche Freude und ein unbestimmtes Entzücken auslöst, rufen die Gräuelbeschreibungen von Bernanos, der sich mit der Nachtseite der Menschen konfrontiert sah, mit ihrem Hass und ihrem Wüten in mir die Angst wach, dass heute einige Schweinehunde diese infamen Ideen wieder aufgreifen könnten, die ich seit Langem für begraben hielt."
    Die "Schweinehunde" von heute: das sind in Frankreich die Rechtsradikalen des "Front National", die Fremdenhasser. Solche aktualisierenden Bekenntnisse der Erzählerin sind gewiss gut gemeint, aber völlig überflüssig. Sie wirken aufgesetzt, wie platte Relikte einer falsch verstandenen engagierten Literatur. Denn der Text von Georges Bernanos braucht keinen aktuellen Verstärker. "Die Großen Friedhöfe unter dem Mond" sprechen für sich - und das mit ungeheurer Wucht.
    Hier versteht ein katholischer, reaktionär denkender Schriftsteller die Welt nicht mehr. Denn die katholische Kirche Spaniens deckt nicht nur den Putsch von General Franco gegen die Republik, sondern auch die "präventiven Säuberungen" seiner Falangisten: die völlig willkürlichen, systematischen Exekutionen potenzieller Gegner. Die Bischöfe erteilen Massenmördern in vollem Bewusstsein der Tatsachen ihren Segen. Und das entsetzt den tief gläubigen Georges Bernanos zutiefst.
    Er publiziert in Frankreich eine Streitschrift, die zwei Attentatsversuche zur Folge hat. Mit anderen Worten: Die Kommentare von Lydie Salvayres Erzählerin - etwa dass die spanische Kirche so wörtlich "zur Hure der militärischen Säuberer" geworden sei - sind postum und risikofrei und entwerten sich schon deshalb von selbst. Ihre präzisen, resümierenden Beschreibungen hätten vollauf genügt.
    "Bernanos weiß genau, dass es nicht gut ist, diese Wahrheiten auszusprechen, die man ihm vorwerfen wird. Doch er beschließt, diesen Schritt zu gehen, nicht um zu überzeugen, sagt er, und noch weniger, um Entrüstung hervorzurufen, sondern um sich selbst bis ans Ende seiner Tage in die Augen sehen zu können und dem Kind, das er einst war und das Ungerechtigkeit unerträglich fand, treu zu bleiben. Er entschließt sich dazu, weil er gesehen hat, wie sein eigener Sohn Yves weinend das blaue Hemd der Falange zerriss, nachdem zwei arme Teufel, zwei brave Bauern aus Palma vor seinen Augen ermordet worden waren. […]
    Es handelt sich, sagt [Bernanos], um öffentlich bekannte Fakten, die kein Leugnen auf der Welt ungeschehen machen kann und die in der Geschichte einen Blutfleck hinterlassen werden, den ein Meer von Weihwasser nicht auswaschen kann. Sie sind die schlimmste Beleidigung, die Christus angetan wurde. Seine absolute Verleugnung."
    Lydie Salvayre überzeugt durch psychologisches Gespür
    Georges Bernanos besticht mit seinem Buch "Die Großen Friedhöfe unter dem Mond" auch deshalb, weil er sich weigert, das eine Unrecht gegen das andere aufzurechnen. Denn er weiß: Die Republikaner machen sich ebenfalls durch Massaker und die Ermordung katholischer Priester schuldig. Der Bürgerkrieg provoziert Taten, die es in Friedenszeiten nie gegeben hätte. Das zeigt sich auch in dem abgelegenen katalanischen Dorf, das im Zentrum des Romans "Weine nicht" steht.
    Im Kleinen spiegelt sich dort die große Geschichte. Wie schon in früheren Romanen – zum Beispiel in "Die Macht der Fliegen", wo ein Mörder seinem Untersuchungsrichter die Philosophie von Blaise Pascal erläutern will – überzeugt Lydie Salvayre erneut durch ihr psychologisches Gespür, ein Gespür, das nicht nur intuitiv, sondern auch professionell erprobt ist.
    Denn die heute 68-Jährige hat nach Literaturwissenschaft noch Medizin und Psychologie studiert und als Psychiaterin gearbeitet. An den Bürgerkriegsverhältnissen reizt sie vor allem die Radikalisierung der Figuren. Denn die existenziellen Karten werden – so scheint es – völlig neu gemischt. Den Etablierten droht der Absturz, während die seit Jahrhunderten Ausgebeuteten vom Paradies auf Erden träumen.
    So wird für Montse der Ausflug mit ihrem Bruder José nach Barcelona, wo die Anarchisten das Sagen haben, zur großen Glücksverheißung. Die 15-Jährige bändelt mit einem Franzosen an, während für ihren Bruder José nach den ersten Wonnen der Euphorie bereits der Kater einsetzt:
    "Während Montse über die Schönheit der Welt in Entzücken gerät, verbringt José, der sich ein paar Tage Urlaub gönnen will, bevor er sich bei den Milizionären verpflichtet, seine Zeit faulenzend auf den Terrassen der Cafés und diskutiert mit Gleichgesinnten über die Revolution, die das Universum neu gestalten wird.
    Doch José spürt, wie ihn langsam ein Unbehagen überkommt. Unwillkürlich hört er hinter den lauten Reden, den Predigten der revolutionären Propaganda, mit denen die Mauern der Stadt bedeckt sind und die dem Katechismus von Don Miguel, dem Pfarrer seiner Kindheit, in nichts nachstehen, einen vereinfachenden, nachplappernden, verlogen optimistischen Katechismus heraus, mit dem man diesen schwärmerischen jungen Menschen in großspurigen Phrasen alles Mögliche verkaufen kann: Der Wall der tapferen Helden gegen die faschistische Pest. Der Triumphzug der huldvollen Gladiatoren, die den Samen einer neuen Generation von Arbeitern im Dienste des Ideals ausbringen ... Der ganze verquaste große Bluff.
    Ermahnung, auf jedes Selbstmitleid zu verzichten
    Ihm wird klar, dass auch er wie die anderen bis zum Anschlag diese gerade angesagten Klischees und diese mitreißenden Vorträge herunterspult, die man neuerdings anstelle einer Krawatte trägt. Und das beunruhigt ihn zutiefst. Noch mehr allerdings beunruhigt ihn das Gefühl, das er niemandem anzuvertrauen wagt, das er sich kaum selbst einzugestehen wagt: Die Ahnung, dass es sinnlos wäre, sich den Milizen anzuschließen.
    José hat zwar noch nie eine so große Sehnsucht empfunden, sich hinzugeben, aber er hat sich auch noch nie so nutzlos gefühlt und war sich noch nie so deprimierend sicher, dass sein Bauernwissen, seine Bauernkraft und sein Bauernmut in diesem Krieg zu nichts anderem gut wären, als ihn in den sicheren Tod zu führen. Im Augenblick aber will er leben, verdammt noch mal, leben."
    "Weine nicht" - der Titel von Lydie Salvayres Roman ist die Ermahnung, auf jedes Selbstmitleid zu verzichten. Entsprechend schonungslos ist der Blick für die Realitäten des Bürgerkriegs. Parteiisch zu sein, heißt im Grunde nur, den Weisungen von oben blind zu gehorchen. Deshalb bekommen manche Porträts auch unwillkürlich einen ironischen Zug.
    So ist Doña Pura, die tiefgläubige Franco-Anhängerin und jungfräuliche Schwester des Großgrundbesitzers, am Ende nur noch eine hysterische Karikatur ihrer selbst. Auch bringen sich die Republikaner selbst um ihre Siegeschancen. Denn Kommunisten und Anarchisten bekämpfen sich gegenseitig, weil sie unterschiedliche Träume von einer idealen Gesellschaft hegen. Die einen wollen gar keine Hierarchien, die anderen einen autoritären, zentralistischen Staat.
    Diesen Konflikt personifiziert Lydie Salvayre im Zweikampf zwischen dem ernüchtert heimkehrenden Anarchisten José und dem neuen kommunistischen Dorf-Bürgermeister Diego. Beide begehren sie gegen den Vater auf: José gegen den bäuerlichen Familiendiktator, Diego gegen den Großgrundbesitzer Burgos. Trotzdem sind sich die jungen Männer seit Kindertagen spinnefeind.
    Geschichte von politischem und privatem Hass
    "Auf der einen Seite […] empörte sich [José] über Stalin, dessen Versprechen, den anarchistischen Milizen Waffen zu schicken, sobald sie bereit waren, sich eine militärische Ordnung zu geben, in seinen Augen nichts als eine infame Erpressung war. Auf der anderen Seite verkörperte Diego die Ordnung, die Institution, […] die bedingungslose Gefolgschaft gegenüber der Sowjetunion.
    Seitdem er Bürgermeister war, beschäftigte er sich neben anderen erhabenen Pflichten mit der wöchentlichen Abfassung von Berichten für die Führungsinstanzen. Denn er hatte sich in das Abfassen seiner Berichte regelrecht vernarrt und hing mit solcher Leidenschaft an diesem Papierkram, dass er manchmal sogar an einem einzigen Tag mehrere Berichte schrieb, in denen er notierte, dass im Dorf dank des angeborenen gesunden Menschenverstands der einheimischen Bauern Ruhe herrschte, und zwar trotz der Bedrohungen durch eine kleine Bande bestens bekannter Agitatoren – diese Notizen wurden durch eine Fülle ebenso banaler wie nutzloser Details über Letztere ergänzt: Tagesablauf, Bewegungen, Kleidung, Witze, Äußerungen vom bloßen Hörensagen, konsumierte Getränke und so weiter. [...]
    [Diego] saß im Büro des ehemaligen Bürgermeisters, wo er ein riesiges Porträt Stalins hatte aufhängen lassen, und empfand offensichtlich, obwohl er sich um ein Angst einflößendes Auftreten bemühte, eine gewisse Lust beim Abnehmen des Telefonhörers (sein bürokratischer Orgasmus, sagte José, sagt meine Mutter zu mir), denn das Bürgermeisteramt war der einzige Ort im Dorf, der mit einer Telefonzentrale verbunden war und die Benutzung des Telefons somit ein unwiderlegbarer Machtbeweis."
    Die Ironie steigert sich im Roman "Weine nicht" oft zu Sarkasmus. Denn die Radikalisierung nimmt immer groteskere Züge an. Bürgerkriege wie der spanische sind dabei so aufschlussreich, weil es neben der Geschichte des politischen Hasses auch die des privaten Hasses zu erzählen gibt. Schließlich kennt man sich ja schon länger.
    So wird auch die Feindschaft zwischen José und Diego auf die Spitze getrieben. Denn der Bürgermeister erklärt sich bereit, die schwanger aus Barcelona heimgekehrte Montse zur Ehefrau zu nehmen. Ein Dorf-Skandal ohnegleichen: Eine Bauerntochter zieht ins Haus der reichen Familie Burgos ein – und das auch noch ohne den Segen der Kirche. Denn der Dorfpriester hat aus Furcht, ermordet zu werden, die Flucht ergriffen. Sinnigerweise entwickelt aber gerade das Alltägliche im Privaten eine unerwartet heilsame Dynamik. Ausgerechnet die Bauerntochter Montse und ihr großbürgerlicher Schwiegervater Don Jaime lernen, sich zu respektieren.
    Politisch und emotional bewegender Roman
    "Don Jaime war ein kluger Kopf, sagt meine Mutter zu mir. Er verbrachte Stunden hinter verschlossenen Türen in seiner Bibliothek, und in Montses Augen, die nie zuvor gesehen hatte, dass Menschen in ihrer Umgebung sich nur zum Vergnügen der Lektüre widmeten, umgab ihn diese Beschäftigung mit einem glanzvollen Nimbus, der sie lähmte.
    Er sprach ein unverfälschtes Kastilisch von perfekter Reinheit, auch wenn er es gelegentlich mit einem wohlklingenden Fluch würzte. Und Montse erkannte in seiner wortgewandten, brillanten, spirituellen Sprache eben jenen Luxus der Gegenstände im Haus wieder, der sie so tief beeindruckte, und sie sah darin den unwiderlegbaren Beweis für seinen herausragenden Verstand.
    Um sich auf seine Höhe zu erheben oder wenigstens auf das Niveau einer eifrigen Schülerin (also um höher zu furzen als mein Hintern, erläutert meine Mutter, die sich eine so schöne Gelegenheit für eine unflätige Bemerkung nicht entgehen lässt), sprach sie ihn fortan in gekünstelten Phrasen an, die geschraubt und geziert waren. Sie nahm dann den verkniffenen Ton ihrer Lehrerin Schwester María Carmen an, die 'Örtchen' sagte anstelle von 'WC', 'in den Himmel fahren' anstelle von 'krepieren', 'dem Weg des Herrn folgen' anstelle von 'seinen Mund halten'."
    Es sind Fernsehbilder, die am Anfang des Romans im Gehirn der greisen Montse die Erinnerungen an den Spanischen Bürgerkrieg freisetzen. Mit welcher Wucht die Vergangenheit zurückdrängen kann, hat Lydie Salvayre bereits 1997 in ihrem Roman "Das Gewicht der Erinnerung" vorgeführt. Dort manifestieren sich die Gräueltaten französischer Nazi-Schergen während der Zeit der deutschen Besetzung von 1940 bis 1944 in den Wahnvorstellungen des Opfers.
    Im Roman "Weine nicht" ist das anders. Montse will durch das Fixieren der Glücksmomente zu Beginn des Bürgerkriegs die Tragödien ausblenden. Doch hält Lydie Salvayre diese Tragödien immer präsent: zum einen durch ihre Seitenblicke auf die Erfahrungen von Georges Bernanos, zum anderen durch die eingestreuten Vorgriffe auf den späteren Heimatverlust ihrer Mutter.
    "Weine nicht" ist ein bewegender, vielstimmiger Roman: politisch wie emotional. Man kann ihn indirekt auch als Beitrag zu der zuletzt oft diskutierten Frage lesen, wie sich die Kriegserfahrungen der Eltern unbewusst auf die Kinder übertragen. Lydie Salvayres Mutter hat die totale Desillusionierung durch den Spanischen Bürgerkrieg erlebt, die Erstickung ihrer Träume und Hoffnungen durch die mörderische Machtpolitik General Francos. Aber sie hat eben auch die erlebten Momente des Glücks ganz pragmatisch als Kraftreserve für das eigene Überleben und das ihres Kindes eingesetzt.
    Schade nur, dass ihr "fragnol", diese skurrile französisch-spanische Mischsprache im Deutschen nicht die gleiche Poesie entfalten kann wie im Original. Der guten Übersetzung von Hanna van Laak jedenfalls kann man diesen Verlust nicht anrechnen.

    Lydie Salvayre: "Weine nicht"
    Roman. Aus dem Französischen von Hanna van Laak,
    Karl Blessing Verlag, München 2016, 252 Seiten, 19,99 Euro.