Ein poetischer Vogel ist die Lietze nicht. Weder ihr schwarz-weißes Federkleid noch weniger ihr Gesang. Der krächzende Ruf des rundlichen Blässhuhns ist in Tümpeln und Teichen wie dem Lietzensee in Berlin-Charlottenburg zu Hause. Vielleicht wurde der sichelförmige See im gleichnamigen Park sogar nach der Lietze benannt, wie die Ralle in Berlin heißt. Oder aber nach dem historischen Dorf Lietzow, das im Jahr 1719 in die damalige Stadt Charlottenburg eingemeindet wurde. Einer Sage nach soll in dem Teich sogar vor vielen Jahren ein ganzer Ort versunken sein, bei dem es sich um das Dorf Lietzow gehandelt habe. Sicher ist: Der Name stammt aus dem Slawischen. Das verwandte Wort "Luccina" heißt dort so viel wie "Sumpf" oder "Lache".
"Lietzenlieder" nennt der Berliner Lyriker Uwe Kolbe seinen neuen Gedichtband und lässt damit gleich in einem einzigen Wort eine Vielzahl von Bedeutungen anklingen. Die Lietze als Alter Ego, stellt sich der Poet hier nicht als edler Singvogel, sondern selbstironisch als krächzendes Berliner Blässhuhn dar. Aber die "Lietzenlieder" sind auch eine ganz ernst gemeinte sprachhistorische und kulturgeschichtliche Verortung der eigenen poetischen Lebensarbeit: in der bewussten Rückbesinnung auf die slawischen Ur-Siedler Brandenburgs, ihre Sprache, die von Naturgottheiten und heidnischen Bräuchen geprägte Mythologie. Dort bei seinen slawischstämmigen Vorfahren, viele Jahrhunderte vor der als Ostberliner Bürger erlebten zeitgenössischen Geschichte des geteilten und wieder vereinigten Deutschlands, findet der Autor seine poetische Urverfassung – das Lietzenlied:
"Aus allen Wolken Rettung bei Gefahr:
Sprewanen, Stodoranen, in den Adern,
in uns plätschern die unbekannten Ahnen.
Ob du es spürst, ist gleich, es bleibt doch wahr.
Was fragst du, kurz den Blick gewandt zu jenen,
den Spiegel, der die alte Antwort gibt,
dass jeder am Geborensein verdirbt,
organisch lebhaft gestern, heut zu Steinen?
Im leicht gewellten märkischen Gebiet
Der wohlgeformte See, umringt von Bäumen.
Nimm deins, wenn dir an dieser Freundschaft liegt.
Nichts hält dich, nur die Melodie, das Lied,
darin die Slawen ihre Schimmel zäumen,
ein Echo aus den eignen, frühen Träumen."
Das Lietzenlied ist eins von 15 Sonetten. Sie bilden die siebte Gedichtreihe und damit das Herzstück des Bandes. Zusammen mit der achten und letzten Reihe geben die "Lietzenlieder" als zweiter Zyklus dem Band seinen Namen. Die formvollendeten Sonette besingen in stilechter barocker Tradition Vergänglichkeit und Tod. Aber ihr Ton ist leicht und spielerisch, ja, fast heiter. Vielleicht, weil sie in den slawischen Wurzeln ihre unerschöpfliche Quelle gefunden haben, die eine Fortdauer in der Überlieferung möglich macht. So besingt ein Sonett die slawischen Volksstämme, ein anderes die mythische slawische Wahrsagerin "Libuše", ein drittes die märkische Seenlandschaft.
Komplementär zur Harmonie und beschwingten Wehmut der Sonette wirken die Gedichte der achten und letzten Reihe wie "Geknebelt, gekettet, im Innern zerrissen". Mit diesen Worten beginnt das Gedicht "Deutsch". Es ist, wie die anderen Gedichte dieser Reihe, Ausdruck einer nach wie vor gespaltenen nationalen, persönlichen und poetischen Identität.
Die Zweiteilung des Lietzenlieder-Zyklus in heitere, klangvoll gereimte Sonette einerseits und düstere, disharmonisch freie Rhythmen andererseits ist symptomatisch. Der lyrische Sprecher definiert sich selbst als biografisch und poetisch zweigeteiltes Subjekt. Er ist und bleibt ein Zwischenwesen: als Mensch und Poet zwischen zwei deutschen Staaten, zwischen Herrschafts-Sprache und literarischem Widerstand, zwischen dem Zweifel am Gedicht und der Utopie von einer Erzählung vor jedem trennenden Wort, am ewig unbekannten Ort…
"Nach der Stille
Ob einer einfach so erzählen könnte.
vom Tag, dem er gerade beigewohnt,
der andere hörte zu, ergötzte sich,
und mehr bedürfte es nicht?
Vom lichten Himmel, rasch missdeutet,
zu grauer Stimmung ausgemalt,
und von der Überraschung dann,
ja von der Freude an dem Licht,
von Ausfahrt an den Wassern,
im Rücken alles Stadtgewühl,
von kaum erhoffter Abkehr, Einkehr,
von Küssen, lachend übern Herbst,
betrachtend statt zu trachten,
so unverbunden dem Woher, Wohin,
dann überhaupt vom Unverbundensein
als einem Weg inmitten.
Und ob der so erzählen könnte
vom Tag, dem er nur beigewohnt,
und ob der andre hörte und
spät nach der Stille ging."
Doch die Übereinstimmung von Zeit, Sprache und Subjekt bleibt ein unerreichbarer Traum angesichts einer unüberwindbar geteilten Realität. Was bleibt, ist der kontinuierlich fortzuschreibende Prozess einer größtmöglichen Annäherung an eine Gegenwart, die mit jedem Wort immer schon vergangen ist.
Die "Lietzenlieder" sind eine Standortbestimmung. Und sie stellen eine Entwicklung dar. Nicht zufällig ist auch der gesamte Gedichtband zweigeteilt: Vor den eigentlichen "Lietzenliedern" beschreibt ein erster Zyklus aus sechs Gedichtreihen unter dem Titel "Lust, Umgang, Sprache" den Weg bis dorthin. Aus verschiedenen Blickwinkeln entwirft das lyrische Subjekt rückblickend seinen persönlichen poetischen Lebenslauf. Kindheit und Jugend im damaligen Ost-Berlin werden in sieben Gedichten in Siebenersprüngen als "kleines Einmaleins" dargestellt.
Uwe Kolbes "Lietzenlieder" sind eine poetische Selberlebensbeschreibung vom Standpunkt eines immer nur vorläufigen Ankommens. Die lyrisch-biografische Selbstvergewisserung mündet in den "Lietzenliedern" in einer Art "Privatmythologie", die, so Kolbe in einem Interview, mit großräumigeren Begriffen von Ost und West umgehe. Im Hintergrund gebe es eine teilweise slawische Mythologie. Uwe Kolbes "Lietzenlieder" sind der literarische Versuch einer poetischen Wiedervereinigung auf gleicher Augenhöhe und ohne Verlust der eigenen Identität. Ein gelungener Versuch. Und ein Projekt, das fortgeschrieben werden will.
"Lietzenlieder" nennt der Berliner Lyriker Uwe Kolbe seinen neuen Gedichtband und lässt damit gleich in einem einzigen Wort eine Vielzahl von Bedeutungen anklingen. Die Lietze als Alter Ego, stellt sich der Poet hier nicht als edler Singvogel, sondern selbstironisch als krächzendes Berliner Blässhuhn dar. Aber die "Lietzenlieder" sind auch eine ganz ernst gemeinte sprachhistorische und kulturgeschichtliche Verortung der eigenen poetischen Lebensarbeit: in der bewussten Rückbesinnung auf die slawischen Ur-Siedler Brandenburgs, ihre Sprache, die von Naturgottheiten und heidnischen Bräuchen geprägte Mythologie. Dort bei seinen slawischstämmigen Vorfahren, viele Jahrhunderte vor der als Ostberliner Bürger erlebten zeitgenössischen Geschichte des geteilten und wieder vereinigten Deutschlands, findet der Autor seine poetische Urverfassung – das Lietzenlied:
"Aus allen Wolken Rettung bei Gefahr:
Sprewanen, Stodoranen, in den Adern,
in uns plätschern die unbekannten Ahnen.
Ob du es spürst, ist gleich, es bleibt doch wahr.
Was fragst du, kurz den Blick gewandt zu jenen,
den Spiegel, der die alte Antwort gibt,
dass jeder am Geborensein verdirbt,
organisch lebhaft gestern, heut zu Steinen?
Im leicht gewellten märkischen Gebiet
Der wohlgeformte See, umringt von Bäumen.
Nimm deins, wenn dir an dieser Freundschaft liegt.
Nichts hält dich, nur die Melodie, das Lied,
darin die Slawen ihre Schimmel zäumen,
ein Echo aus den eignen, frühen Träumen."
Das Lietzenlied ist eins von 15 Sonetten. Sie bilden die siebte Gedichtreihe und damit das Herzstück des Bandes. Zusammen mit der achten und letzten Reihe geben die "Lietzenlieder" als zweiter Zyklus dem Band seinen Namen. Die formvollendeten Sonette besingen in stilechter barocker Tradition Vergänglichkeit und Tod. Aber ihr Ton ist leicht und spielerisch, ja, fast heiter. Vielleicht, weil sie in den slawischen Wurzeln ihre unerschöpfliche Quelle gefunden haben, die eine Fortdauer in der Überlieferung möglich macht. So besingt ein Sonett die slawischen Volksstämme, ein anderes die mythische slawische Wahrsagerin "Libuše", ein drittes die märkische Seenlandschaft.
Komplementär zur Harmonie und beschwingten Wehmut der Sonette wirken die Gedichte der achten und letzten Reihe wie "Geknebelt, gekettet, im Innern zerrissen". Mit diesen Worten beginnt das Gedicht "Deutsch". Es ist, wie die anderen Gedichte dieser Reihe, Ausdruck einer nach wie vor gespaltenen nationalen, persönlichen und poetischen Identität.
Die Zweiteilung des Lietzenlieder-Zyklus in heitere, klangvoll gereimte Sonette einerseits und düstere, disharmonisch freie Rhythmen andererseits ist symptomatisch. Der lyrische Sprecher definiert sich selbst als biografisch und poetisch zweigeteiltes Subjekt. Er ist und bleibt ein Zwischenwesen: als Mensch und Poet zwischen zwei deutschen Staaten, zwischen Herrschafts-Sprache und literarischem Widerstand, zwischen dem Zweifel am Gedicht und der Utopie von einer Erzählung vor jedem trennenden Wort, am ewig unbekannten Ort…
"Nach der Stille
Ob einer einfach so erzählen könnte.
vom Tag, dem er gerade beigewohnt,
der andere hörte zu, ergötzte sich,
und mehr bedürfte es nicht?
Vom lichten Himmel, rasch missdeutet,
zu grauer Stimmung ausgemalt,
und von der Überraschung dann,
ja von der Freude an dem Licht,
von Ausfahrt an den Wassern,
im Rücken alles Stadtgewühl,
von kaum erhoffter Abkehr, Einkehr,
von Küssen, lachend übern Herbst,
betrachtend statt zu trachten,
so unverbunden dem Woher, Wohin,
dann überhaupt vom Unverbundensein
als einem Weg inmitten.
Und ob der so erzählen könnte
vom Tag, dem er nur beigewohnt,
und ob der andre hörte und
spät nach der Stille ging."
Doch die Übereinstimmung von Zeit, Sprache und Subjekt bleibt ein unerreichbarer Traum angesichts einer unüberwindbar geteilten Realität. Was bleibt, ist der kontinuierlich fortzuschreibende Prozess einer größtmöglichen Annäherung an eine Gegenwart, die mit jedem Wort immer schon vergangen ist.
Die "Lietzenlieder" sind eine Standortbestimmung. Und sie stellen eine Entwicklung dar. Nicht zufällig ist auch der gesamte Gedichtband zweigeteilt: Vor den eigentlichen "Lietzenliedern" beschreibt ein erster Zyklus aus sechs Gedichtreihen unter dem Titel "Lust, Umgang, Sprache" den Weg bis dorthin. Aus verschiedenen Blickwinkeln entwirft das lyrische Subjekt rückblickend seinen persönlichen poetischen Lebenslauf. Kindheit und Jugend im damaligen Ost-Berlin werden in sieben Gedichten in Siebenersprüngen als "kleines Einmaleins" dargestellt.
Uwe Kolbes "Lietzenlieder" sind eine poetische Selberlebensbeschreibung vom Standpunkt eines immer nur vorläufigen Ankommens. Die lyrisch-biografische Selbstvergewisserung mündet in den "Lietzenliedern" in einer Art "Privatmythologie", die, so Kolbe in einem Interview, mit großräumigeren Begriffen von Ost und West umgehe. Im Hintergrund gebe es eine teilweise slawische Mythologie. Uwe Kolbes "Lietzenlieder" sind der literarische Versuch einer poetischen Wiedervereinigung auf gleicher Augenhöhe und ohne Verlust der eigenen Identität. Ein gelungener Versuch. Und ein Projekt, das fortgeschrieben werden will.