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Lyrik für junge Leser
"Gedichte wollen gehoben werden wie Schätze"

Lyrik für Kinder? Damit können Leseanfänger doch noch nichts anfangen, so das Vorurteil. Die Literatur- und Kunstwissenschaftlerin Christine Knödler beweist mit ihren Lyrik-Anthologien für Jugendliche und Kinder das Gegenteil.

Christine Knödler im Gespräch mit Ute Wegmann |
    Ute Wegmann: Zum Büchermarkt am Samstag begrüßt Sie Ute Wegmann mit einem Gast: Christine Knödler. Sie studierte Theaterwissenschaft, deutsche und französische Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in München und Paris. Sie arbeitet als Journalistin und Lektorin. Seit 2009 ist sie Lehrbeauftragte der Buchwissenschaft an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Gast im Büchermarkt ist sie heute, weil sie seit Jahren Anthologien mit literarischen Kurzformen herausgibt und mehrfach auf der monatlichen Bestenliste des Deutschlandfunks vertreten war. Wir sprechen über Kinder- und Jugendbücher und über die Jugendliteratur im Allgemeinen.
    Christine Knödler, Ihr Schwerpunkt ist die Kinder- und Jugendliteratur, was interessiert Sie an diesem Fachgebiet?
    Christine Knödler: Das ist ein sehr lebendiges Fachgebiet. Für mich ist es ehrlich gesagt, gar kein Fachgebiet. Es ist Literatur. Es lebt von der Fantasie, vom Einfühlungsvermögen und von der Kunst des Erzählens. Das betone ich jetzt, das tut Literatur grundsätzlich, aber in der Kinder- und Jugendliteratur steht das Erzählen doch im Vordergrund. Da kann geschwelgt und erzählt werden, da geht's darum, sich gelegentlich zu identifizieren, Erfahrungen zu machen über das Gelesene und in Beziehung zu treten mit den Büchern, und das alles in einer Zeit, in der doch alles sehr frisch, die Gefühle offen und auch die Menschen sehr offen sind. Das hat sein Gutes und sein Schlechtes. Bei der Literatur hat es sehr viel Gutes, weil es unendliche Spielräume eröffnet.
    Wegmann: Zu Ihrer Herausgebertätigkeit: Es begann mit Geschichten zum Thema Gewalt und dem folgten die sogenannten "Geschichtenkoffer" - großformatige Bücher mit Gedichten, Kurzgeschichten und Illustrationen unterschiedlicher Künstler.
    Wie viele Anthologien sind bisher entstanden?
    Knödler: Circa 15. Angefangen habe ich mit den erzählenden eher für die Jugendliteratur, da war ich auch auf aktuelle Themen aus: Gewalt in der Jugendliteratur und im Leben. Davor war eine Anthologie "Ohne Netz", springen, mitten ins Leben. Ich bin dann zunehmend zu den Gedichten, Geschichten und Illustrationen - das ist der wesentliche Unterschied zu den Geschichtenkoffern zum Beispiel, das war sozusagen das Glücksprojekt, weil Freiheit an allen Orten herrschte ... Ich habe Themen gewählt, die sehr weit gefasst waren: Schatzsucher oder Glückskinder, zwei Themen, die wahnsinnig viel aufmachen. Dann haben mir die Autoren Texte geschickt und die Illustratoren Bilder und ich habe die frei zusammen montiert. Es war im Grunde wie eine Art Inszenierung, so ziehen sich auch Fäden durch die Bücher, das ist wie ein Spiel.
    Man gibt es weiter, mal ist es ein Wort, mal ein Gedanke, mal ein Gefühl. Und auch die Künstler waren überrascht, was da entstanden ist, wenn Bild und Text zusammenmontiert werden. Man wusste es ja vorher nicht. Ich wusste es auch nicht. Und ich pflege immer zusagen: Wenn jemand anderes dieses Buch gemacht hätte, wäre etwas völlig anderes dabei herausgekommen. Das ist mein Ziel: Ich wünsche mir, dass die Leser in diese kreative Art des intensiven Lesens und Schauens miteinsteigen. Dass sie sich fragen, welches Bild würde ich zu welcher Geschichte auswählen. Oder umgekehrt: Wie kombiniere ich. Wie sehr kann ich mich da selber einbringen.
    Wegmann: Nun haben Sie gesagt, die Autoren haben Ihnen die Texte geschickt. Wenn ich jetzt mal auf den "Geschichtenkoffer für Schatzsucher", schaue, im Jahr 2006 erschienen. 80 kleine oder mittellange Texte von renommierten Autorinnen und Autoren wie Isabel Abedi, Paul Maar, Max Kruse, aber auch von damals weniger bekannten: Wieland Freund oder Susan Kreller.
    Da sind ja auch Texte dabei, die vorher schon existierten.
    Knödler: Vor allem wurden die Texte neu geschrieben. Ein paar waren schon da. Es ist aber der Sinn, ein Forum zu bieten, weil es ja auch schwer ist, in den Buchmarkt hineinzukommen. Das klingt jetzt komisch, weil Wieland Freund, einer der wunderbarsten Autoren, die wir derzeit haben, der hat natürlich längst einen Namen. Aber damals war es toll, die fragen zu können und dass alle bei dem Spiel mitmachten. Es sind natürlich in den erzählenden Bänden auch ganz unbekannte Autoren. Ich wollte neuen Stimmen einen Platz bieten.
    Wegmann: Das passt sehr gut zu meiner nächsten Frage: Ich habe zwei fantastische Bilder von Dirk Steinhöfel in diesem Koffer gefunden, aber auch sehr besondere Arbeiten von Regina Kehn, die auf die freien Arbeiten verweisen, die wir auch in Ihrem aktuellen Buch "Das literarische Kaleidoskop" finden, das für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde.
    Sehen Sie sich selber auch als eine Art Entdeckerin?
    Knödler: Das wage ich mir fast nicht ans Revers zu heften, aber ich lass es mir gerne zusprechen. Der Blick in die Schubladen der Künstler - das ist tatsächlich was. Gerade bei Regina Kehn, wir sind befreundet, das war ein großes Privileg und ich wusste, da gibt es Einzelbilder, die kommen nie in ein Buch. Und es ist natürlich etwas anderes, ob für einen Text illustriert wird, oder ob man sich ein Bild aussuchen kann. Deshalb sagte ich, das waren Glücksprojekte, weil die Freiheit enorm groß war.
    Wegmann: Hier waren es die Schatzsucher, nun ein weiteres thematisch gebundenes Buch aus dem Jahr 2013: "Vom Schnurren und Kratzen. Geschichten von Katzen", bebildert von Reinhard Michl. Warum ein Katzenbuch?
    Knödler: Weil ich so gerne mit Reinhard ein Buch machen wollte. Das war tatsächlich eine Anfrage des Verlags. Da hat mich Ulrich Störiko-Blume angerufen, ob ich dazu Lust hätte. Es war eine wunderbare Zusammenarbeit. Er hatte schon ein paar Texte beieinander, den Rest habe ich dazu gesucht. Aber auch da haben wir uns so ganz auf das Text-Bild-Spiel eingelassen: Nicht zu denken, etwas muss auf dem Bild eins-zu-eins zum Text passen, sondern kann auch einen Bruch ergeben, sodass das den Witz ergibt.
    Wegmann: Sie haben sich in Ihrer Auswahl nicht nur auf Gedichte zur Hauskatze beschränkt, sondern die großen Katzen integriert. So findet man auch:
    "Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
    so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
    Ihm ist als ob es tausend Stäbe gäbe
    Und hinter tausend Stäben keine Welt."
    Der erste Vers von Rainer Maria Rilkes "Der Panther".
    Oder das heitere Dialogspiel von Daniil Charms "Im Zoo".
    "Warst du im Zoo?
    Ja, war ich.
    Hast du den Löwen gesehen?
    Du meinst den mit dem Rüssel?
    Nein, das ist ein Elefant. Löwen sind anders.
    Ach so, du meinst den mit den beiden Höckern? ..."
    Man ahnt, worauf es hinausläuft.
    Sie haben erzählt, wie die Auswahl entstanden ist, Sie haben sich mit Reinhard Michl ergänzt. Ich muss unbedingt ein Wort zur Illustration sagen: Reinhard Michl, dessen naturalistische Tierbilder uns aus vielen Büchern bekannt sind, zeigt hier erneut seine brillante Fähigkeit, Eigenschaften der Tier, Mimik und Bewegung im Bild zu erfassen. Er präsentiert verschiedene Stile von der S/W-Zeichnung über Aquarellbilder bis zur Collage. Und hin und wieder taucht das Katzentier dann auch eher als Fabelwesen in Schürze oder mit Gitarre auf.
    Ich vermute, Reinhard Michl konnte aus einem reichen Katzenbildvorrat schöpfen?
    Knödler: Ja, er hatte einen reichen Schatz. Er hat aber auch viel neu illustriert. Hier zeigt er, weil sie den Naturalismus ansprachen, nochmals eine ganz neue Seite. Was heißt neue Seite? Die hat er. Aber das Realistische, so kennt man ihn, dafür wird er oft angefragt, hier sind aber noch mal ganz andere Möglichkeiten drin.
    Wegmann: Kommen wir zu den Besten-7-Büchern! "Mal deine Wünsche in den Himmel" und "Warum ist Rosa kein Wind?" Wen findet man dort: Gedichte von F. W. Bernstein, Rolf Dieter Brinkmann, Hermann Hesse, Klabund, Sarah Kirsch, Mascha Kaleko, Reiner Kunze, arne rautenberg und Joachim Ringelnatz - in dem einen Band, - im anderen Sammelband Bertold Brecht, Paul Klee, Goethe und Pablo Nerude neben Ursula Krechel und Eduard Mörike - das ist nur eine ganz kleine Auswahl.
    "Mal deine Wünsche in den Himmel" - acht Kapitel - inhaltlich unterteilt in Ich & du, dann & wann, hin & weg - dazu circa 70 Bilder renommierter Künstler, Klassiker: Sandro Botticelli, Chagall, Caspar David Friedrich, Gustav Klimt und Niki de Saint Phalle. Einem Kunstwerk sind ein bis zwei Gedichte zugeordnet! Was war zuerst da: Gemälde oder Gedicht?
    Knödler: Tatsächlich war fast immer zuerst der Text da. Ich hatte einen Berg an Texten, den ich gern dabei haben wollte. Und dann bin ich durch die Museen gezogen. Und dachte, das passt dazu, das passt dazu. Es war sozusagen ein wechselseitiges Hin und Her, und am Ende war es die Qual der Wahl, weil es tolle Kombinationen gab. Vieles ist draußen geblieben. Aber auch hier geht es um das Prinzip: Was passiert mit einem Text, wenn er einem bestimmten Bild zugeordnet wird. Und umgekehrt: Was sehen wir, weil da plötzlich dieser Text ist. Manche gehen ganz Hand in Hand, das ist erstaunlich, weil sie ja nicht füreinander gemacht wurden. Und manche leben gerade von dem Widerspruch. Dass sich eine komische Diskrepanz ergibt, die einen einfach auf ein anderes Lesen und Schauen bringt. Das hoffe ich jedenfalls.
    Wegmann: Ein Beispiel: "Sommertag" von Quint Buchholz (ein riesiger weißer Panamahut unter dem gerade noch eine Augenbraue und der Ansatz eines Tuches hervorschauen, die Blickrichtung nach rechts, dahinter Wolken und Himmel. In der Einkerbung des Hutes sitzen Vater und Sohn, der Erwachsene zeigt in Blickrichtung, die Haltung des Sohns neugierig, überrascht.
    Das Gedicht "Alles unter einem Hut" von Jürg Schubiger, erzählt die Geschichte eines Kindes, männlich oder weiblich, das sich eins fühlt mit dem Vater, verbunden mit der Welt. Es identifiziert den Vater über das Kleidungsstück Hut. Wenn der Vater geht, empfindet es das als Verlust der Hälfte von allem.
    Für mich werden hier zwei verschiedene Geschichten erzählt, unabhängig voneinander. Die auch durch die Nebeneinanderstellung nicht anders lese.
    Wie - glauben Sie - verändert das Bild den Text oder der Text das Bild?
    Knödler: Ich hatte da zuerst den Text und ich fand ihn sehr schön und auch sehr traurig. Das ist ja per se so, dass sehr schöne Texte sehr traurig sind. Ich habe gemerkt, der macht was - übrigens versuche ich gar nicht, den Text zu analysieren, sondern die Wirkung sich entfalten zu lassen - und dann wusste ich, das ist der Vorteil, wenn man sich persönlich kennt, ich wusste um dieses Bild. Ich wusste, der Quint hat dieses Bild gemalt. Ich hatte es gesehen. Und das war ein Moment, wo ich dachte, die haben voneinander gewusst. Und das Bild macht nun etwas, die Traurigkeit des Textes, des Verlustes, um den wir ja tatsächlich alle nicht herumkommen, der eigene Weg führt einen weg von des Vaters Hut, des Vaters Haus, von einem Daheimsein - das wird durch das Bild aufgefangen. Da ist der Hut und der Hut wird zum Boot und so beginnt eine Reise, in der Kerbe sitzen die beiden und die Richtung geht in etwas sehr Lichtes. Das hat mir wahnsinnig gut daran gefallen: Einerseits die Verbindung zwischen den beiden, der Hut, der auch im Bild Thema ist, aber die Schwere des Textes wird dadurch erleichtert. Übrigens auch durch die Farbgebung, es ist ein ganz helles Bild ...
    Wegmann: Ein ganz helles Blau ... Hatten Sie nie Angst, dass die bildliche Zuordnung auch zu einer Beschneidung der Fantasie des Lesers führen könnte?
    Knödler: Nein, weil es für mich ganz eindeutig nur eine erste mögliche Antwort ist. Ich bin nie mit dem Anspruch daran gegangen, die beiden müssen zusammen sein, sondern es ist eine Möglichkeit, im Bild zu antworten, beziehungsweise im Text zu antworten. Also für mich ist es eher ein Frage-Antwort-Spiel, aber die Antwort nicht als etwas Fixes. Wie gesagt, ich wünsche mir ja, dass das bei den Jugendlichen - übrigens die Bücher kommen sehr gut bei den Jugendlichen an, für die war es nicht primär gedacht, die sagen, dass sie sich anders, nämlich nicht analytisch sowohl dem Text als auch den Bildern nähern, weil die Art der Kombination was aufmacht: Nämlich: Was macht es mit mir und nicht: Wie ist etwas gemacht.
    Wegmann: Ich möchte noch ein Beispiel( S. 56/57) nennen, ein Gedicht: "Kindheitserinnerung" von Reiner Kunze, er erzählt von den Schwalben auf den Stromleitungen, die das Dorf vom Himmel trennen. Dazu das Gemälde von Henri Rousseau: "Die Telegrafenmasten in Malakoff". Dieses Bild ist ohne Schwalben! Wir haben ein Dorf, die Telegrafenmasten, den Himmel. Telegrafenmast und Schwalben sind nun auf der Textseite plakativ grafisch ins Bild gesetzt.
    Aber das Bild, im besten Fall, in meiner Vorstellung, soll doch gerade nicht abbilden, was der Text wiedergibt, sondern eine Erweiterung des Blickes sein.
    Die grafische Ergänzung auch auf anderen Seiten (Tiere und Elemente) finde ich überflüssig bis störend.
    Knödler: Sie fragen mich jetzt nach meinem persönlichen Geschmack. Für mich hätte es das nicht gebraucht. Ich bin Purist. Mir reichen die Bilder und die Worte vollkommen, aber der Gedanke war, die Reaktionen zeigen, dass es auch sinnvoll zu sein scheint, dass man über die Grafik, die auch Dinge benennt, sie hebt ja auch Sätze hervor, sie lenkt ja, dass dadurch der Zutritt für ein Publikum, das sich sonst von der Dichte und Purheit abschrecken lassen würde, - das sind ja nur Mutmaßungen, um die dadurch zu gewinnen. Und was jetzt die Telegrafenmasten betrifft, da war der Gedanke, eine Seite grafisch einzugrenzen.
    Wegmann: Jetzt gerade ist ein zweiter Band von Ihnen erscheinen: "Ich schenk dir die Farben des Windes" - der Titel. Unterteilung erfolgt nicht nach Themen, sondern nach Farben: Rot- gelb/gold - grün - blau! Wir hören das Gedicht "Palmström" von Christian Morgenstern. Es liest Christine Knödler.
    [Lesung]
    Dazu haben Sie, Christine Knödler, das Bild "Früchte auf rot (oder: Das Schweißtuch des Geigers)" von Paul Klee ausgewählt. Ein orange-rostiges Viereck auf grauem Grund, unregelmäßig die Umrandung, darauf Linien, Bögen, Kreise, ein Notenschlüssel, ein Sägeblatt, ganz zart gezeichnet mittig ein roter Tropfen. Warum das Bild?
    Knödler: Ich habe mich tatsächlich von dem Tuch leiten lassen. Das war das Primäre. Und dann war es: Was findet dieser Palmström. Er will sich Schneuzen, etwas ganz Alltägliches und plötzlich geht die Fantasie mit ihm durch, und er sieht etwas auf dem roten Tuch, da entfaltet sich eine solche Fantasie. Und das ist auf dem Schweißtuch des Geigers ähnlich, es ist eigentlich sehr kindlich und frei und man kann aus den Elementen, sie haben einige genannt, sicherlich auch ganz andere Dinge ablesen. Das war für mich das Pendant zu dem Gedicht.
    Wegmann: Wie auch bei dem anderen Band fällt auf, dass die wenigsten Gedichte für Kinder geeignet sind, sie richten sich schon eher an junge Erwachsene und Ältere? Sie haben es ja auch schon benannt. Auf Jugendliche wirken diese Bücher ganz einnehmend. Die sind begeistert. Das Buch kommt aber daher für Kinder und Familien. Wo genau sehen Sie die Kinderperspektive?
    Knödler: Das ist ein guter Gedanke, das anzusprechen. Sie sagen: Das ist nicht für Kinder. Darüber könnte man ewig diskutieren: Was ist für Kinder? Was eignet sich nicht für Kinder? Was stimmt: Es sind nicht die typischen Kindergedichte.
    Wegmann: Viele Gedichte sind sehr schwierig.
    Knödler: Sie sind schwierig, sie sind reich an Worten und an Bildern. Es sind aber auch Gedichte von Jutta Richter und Paul Maar, und die sind ganz klar dem Kindergedicht zuzuordnen. Aber die Kunst ist ja normalerweise auch nicht für Kinder, aber mir ist ganz wichtig, zu schauen und sich drauf einzulassen. Das ist das was ich damit möchte, weswegen ich auch die Grenze nicht ziehe.
    Wegmann: Jetzt kommen wir zum letzten Buch "Warum ist Rosa kein Wind?", ebenfalls eine Gedichte- und Geschichtensammlung, aber dennoch anders, da es nur von einer einzigen Künstlerin bebildert wurde: von Stefanie Harjes.
    Auch hier der Titel eine Gedichtzeile, in dem Fall aus: "Der artesische Brunnen" von Durs Grünbein, ein Gedicht über Sprache und Schreiben. Und da sind wir auch schon mitten drin im Buch und erneut bei der Frage nach der Zielgruppe. Denn betrachtet man Cover, Titel und Untertitel - das Cover ein Mädchen in einem blütenähnlichen langen rosa Gewand, der Untertitel - Gedichte & Geschichten vom Leben, Lieben & Fliegen - so könnte man schnell assoziieren, dass es sich an pubertierende Mädchen wenden möchte?
    Was war die erste Idee?
    Knödler: Die erste Idee war tatsächlich, dass Stefanie und ich so gerne zusammen ein Buch machen wollten. Dann sprach uns der Ravensburger Buchverlag an und am Anfang stand die Idee: für Mädchen. Ich habe mich schon an dem Begriff aufgehangen, habe es erweitert: Was heißt Mädchen heute? usw. Der Gedanke ist aber, wie bei den anderen auch, anzubieten und vertraut zumachen und in dieses Riesenuniversum eine Tür zu öffnen. Es klingt immer so pathetisch, vielleicht weil es mir selber so geht: Von Texten begleitet zu werden - das ist in meinem Leben so. Es vergeht kein Tag ohne Lyrik. Was Lyrik eben kann. Lyrik kann ja auf kleinstem Raum unglaublich viel freisetzen. Und sie ist die präziseste literarische Form, das ist das, was mich an der Lyrik unendlich reizt. Kombiniert damit, dass sie eine Bildervielfalt im Kopf aufmacht, die eben in der Freiheit der Worte liegt, dass man sich nicht festlegt. Gedichte wollen nicht auf den ersten Blick verstanden werden, sondern sie wollen gehoben werden wie Schätze. Damit hat man zu tun, das ist ein sich immer wieder neu Einlassen. Bei "Warum ist Rosa kein Wind" war auch wieder die Fülle der Texte und ich bin dann auf die Idee gekommen, vier Jahreszeiten korrespondieren mit vier Altersgruppen: Kind sein, Jugend, Erwachsen sein und Abschied nehmen, gehen. Entsprechend sind auch die Texte - ich würde nicht sagen, leicht konsumierbar, aber Texte, die bleiben, ich kann es nicht anders sagen. So sind auch die Bögen innerhalb der Kapitel gespannt. Man muss es nicht am Stück lesen, aber wenn man es tut, sieht man, dass da immer kleine Universen sind, die haben alle eine Dramaturgie in sich, so wie das ganze Buch. Es gibt ein erstes und ein letztes Gedicht und die beiden spannen Bögen und machen eine Aussage über das, was Lesen eben sein kann.
    Wegmann: Wir haben mehr als 50 Gedichte und Geschichten. Auch hier Altbekanntes: Brecht, Heine, Handke, Schubiger, Hohler, Rose Ausländer, Ingeborg Bachmann - das nur eine Auswahl. Wir haben aber auch neu Geschriebenes, Geschichten dann, von Marlene Röder, Marjaleena Lembcke oder auch von Franz Hohler. Ich habe ein Lieblingsgedicht. Von Hilde Domin:
    "Wer es könnte
    die Welt
    hochwerfen
    dass der Wind
    hindurchfährt"
    Ein tolles Gedicht, wie Sie beschrieben haben, das sehr viel aufmacht.
    Stefanie Harjes, lässt einen Telefonhörer zurück und eine junge Frau fliegt rechts oben aus dem Buch.
    Sie haben gesagt, Sie spannen einen Bogen von Bertold Brecht: "Vergnügungen", das erste Gedicht, sie werden uns noch gleich noch eins lesen.
    Kurz zu den Bildern: Stefanie Harjes Bilder bleiben manchmal Skizzen, sind Annäherungen an die Texte oder führen über sie hinaus. Sie arbeitet mit unterschiedlichen Techniken und Materialien, von Aquarell über Tusche, Kohle und Collage, mal expressiv, mal behutsam zart. Ein empfindsames Zusammenspiel von Bild und Text, sehr gelungen und anregend.
    Knödler: Ich glaube auch, dass die Texte auch beim Illustrator Türen öffnen. Wir haben darauf sehr geachtet: Wenn ein Text bei Stefanie keine Bilder freisetzte, wurde der nicht genommen.
    Wegmann: Wir müssen zum Ende kommen. Abschließend liest Christine Knödler ein Gedicht von Rose Ausländer, das ist auch das letzte Gedicht in dem Band ist: "Warum ist Rosa kein Wind?"
    Knödler: Ich hatte von dem Bogen gesprochen. Beide Gedichte sind ähnlich gebaut, Brecht und Ausländer, in dem sie nämlich einfach Welt benennen.
    [Lesung: Rose Ausländer: "Nicht fertig werden!"]
    Christine Knödler, herzlichen Dank für das anregende Gespräch über die bebilderten Anthologien mit Gedichten und Geschichten. Fertig werden müssen wir jetzt. Das war der Büchermarkt. Gast war die Journalistin und Herausgeberin Christine Knödler.
    Wir sprachen über:
    • Geschichtenkoffer für Schatzsucher, 250 Seiten, Boje Verlag.
    • Schnurren und Kratzen. Geschichten von Katzen, von Reinhard Michl und Christine Knödler (Hrsg.), 357 Seiten, Hanser Verlag, 21,90 Euro
    • Mal deine Wünsche in den Himmel, 160 Seiten, Prestel Verlag
    • Ich schenk dir die Farben des Windes, 160 Seiten, Prestel Verlag
    • Warum ist Rosa kein Wind?, 144 Seiten, Ravensburger Buchverlag, 16,99 Euro
    Alle Anthologien wurden herausgegeben von Christine Knödler.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.