Jan Wagner ist ein Lyriker, der es wie kaum ein anderer versteht, sich die klassischen Gedichtformen und -traditionen zu eigen zu machen. Das meint nicht allein, dass Wagner diese Formen mit Eleganz und zugleich mit frappanter Leichtigkeit zu erfüllen und zu variieren vermag. Das Berückende an den Gedichten von Wagner ist vor allem der leise, philosophische Witz, der in ihnen steckt. Ein Witz, der gerade durch das Widerspiel von Inhalt und vermeintlich strengem Formenkorsett zur Entfaltung kommt.
Das - scheinbar - Hohe und das - scheinbar - Niedrige liegen bei Wagner nah beieinander. Und mehr noch: Manchmal stößt der Leser erst am Ende eines Gedichts darauf, was oder wer hier eigentlich die Oberhand hat. Schon der Titel seines jüngsten Gedichtbandes deutet auf diese Verkehrungen gewohnter Zuschreibungen hin: "Regentonnenvariationen" heißt er. Und benannt ist damit auch das Terrain, das Wagner in seinen Gedichten vermisst: die Natur, mitunter sogar nur diejenige, die bis zum eigenen Gartenzaun reicht. Selbst dort begegnet man durchaus Überraschendem:
Lesung
nicht zu unterschätzen: der giersch
mit dem begehren schon im namen – darum
die blüten, die so schwebend weiß sind, keusch
wie ein tyrannentraum.
kehrt stets zurück wie eine alte schuld,
schickt seine kassiber
durchs dunkel unterm rasen, unterm feld,
bis irgendwo erneut ein weißes wider-
standsnest emporschießt. hinter der garage,
beim knirschenden kies, der kirsche: giersch
als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch
geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch
schier überall sprießt, im ganzen garten giersch
sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.
Äußerlich wird die Sonett-Form nicht durchbrochen, scheint sie den Giersch zu bändigen. Innerhalb der Verse aber agiert der Giersch - ein Unkraut eigentlich - ganz nach seinem Willen, wächst und fleucht. Nicht nur den Garten, auch die Sprache wird überwuchert vom Giersch. Während es in den ersten beiden Strophen noch gemäßigt zugeht, wimmelt es in den beiden abschließenden nur so von knirschenden Kies, von einem Geräusch, das zum Giebel kriecht, von Kirschen, als würde der Giersch überall zwischen den Wörtern sprießen.
Herrlich schalkhafte Weise
Und während Jan Wagner in den ersten beiden Strophen mit Nonchalance immer um einen Hauch am Reim vorbeigleitet, hat das widerborstige Kraut schließlich selbst den Reim im Griff: Giersch, Giersch, Giersch, so enden die drei letzten Verse.
Der Gärtner wie auch der Dichter haben das Nachsehen angesichts dieser Übermacht. Immer wieder lässt Jan Wagner uns in seinen Gedichten auf herrlich schalkhafte Weise Zeugen dieser Ohnmacht des Menschen gegenüber der Natur werden. Oder auch: seiner relativen Bedeutungslosigkeit. Und womöglich auch noch der relativen Bedeutungslosigkeit dessen, was er in die Welt hineininterpretiert.
Lesung
wie sie dort standen, schienen sie ein gleichnis
zu sein: kurz hinter gangi, das als wolke
aus dem stein gegen den gipfel schlug, ihr eigenes
gemälde hinterm gatter, stumm und völlig
bewegungslos.
Beitrag
Von drei Eseln in den sizilianischen Bergen ist hier die Rede. Zu gern würden die Vorüberkommenden sie ein wenig kraulen, einmal das weiche das Maul berühren vielleicht.
Lesung
(...)
wir winkten, riefen, stichelten – sie standen,
auf nichts als auf ihr eselsein bedacht.
wir lockten sie wir schmeichelten – sie standen,
als wurzelten, als wüchsen sie in lehm, (...)
Woran diese Esel wohl denken, worauf sie lauschen mögen, fragen sich die Ignorierten am Gatter. An Bethlehem vielleicht? An Karthago? Und flugs läuft ihnen einmal, in Stichworten, die halbe Weltgeschichte durch den Kopf. Die gedanklichen Brücken, die hier geschlagen werden, könnten erhabener kaum sein. Die Esel beeindruckt das wenig. So steigen die Reisenden schließlich ins Autor und fahren weiter, ohne dass die Tiere sich gerührt hätten.
Lesung
und sie noch immer reglos, ein riegel aus
grau, wir selbst mehr narren als heroen
und längst vergessen und verdrängt, während im spiegel
jenes beharrlich sanfte V der ohren
noch serpentinenlang zu sehen war,
ein victory, vittoria, victoire.
Natur im Mittelpunkt
In den Gedichten von Jan Wagner steht die Natur im Mittelpunkt, überfordert den Menschen, weist ihn in seine Grenzen: wie etwa auf einem beschwerlichen Spaziergang durch eine Torflandschaft, die das lyrische Ich vollends überfordert, schließlich gar in Tränen auf die Knie sinken lässt, obgleich die Wanderung doch als "für Anfänger" versprochen war.
In der Welt, wie Jan Wagner sie uns zeigt, werden die Menschen zu Randgestalten, souverän sind Pflanzen und Tiere.
Lesung
(...)
als wir uns umdrehten, war es
der kakadu, der unserer spur
aus maiskörnern gefolgt war,
mit all seinem weiß am sims,
den klugen wacholderbeerenaugen
und einer gelben haube
aus federn, die er aufschlug
wie trickspieler ihr blatt
die tänzerin ihren fächer;
seeanemonenhaupt
und schwarze schnabelzange –
bevor er sich fallen ließ
und über die bäume glitt,
kreischend in die dächer schmolz –,
die uns in die finger zwackte,
als wollte, müßte er prüfen,
ob es uns wirklich gab.
und wirklich gab es uns.
Durch eine kleine Wendung in den letzten Zeilen kehrt Jan Wagner die Perspektive um. Nicht mehr Menschen beobachten hier die zauberische Vogelgestalt. Plötzlich ist der Vogel der Beobachter, und die Menschen, diese eigenartigen Wesen, werden durch seinen Blick erst existent.
Beobachtungen über das - womöglich - wahre Wesen des Daseins bringt Jan Wagner aus allen Teilen der Erde mit, sammelt sie auf dem nordschwedischen Meer, in Sarajewo oder eben in der Regentonne im Garten hinter dem Haus.
So unaufdringlich und doch präzise Wagners Blick ist, so luzide und fein gearbeitet sind seine Gedichte. Sie zeugen von einer Passion für die Form, aber auch vom Wissen um deren Beschränktheit. Genauso wie von der Einsicht in die eigene Nebensächlichkeit. Immer wieder will man diese Gedichte lesen, in der Hoffnung, dass ihre Weisheit zumindest ein wenig fruchten möge.
Jan Wagner: "Regentonnenvariationen". Gedichte. Hanser Berlin, Berlin 2014. 112 S., geb., 15,90 €.