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Lyrik zum Wendejubiläum
Wir sind ein Volk!?

Die Erinnerungen an die Wende sind so verschieden wie die Menschen, die sie erlebt haben. Im 30. Jahr des Mauerfalls hat das Literaturhaus Berlin Lyrikerinnen und Lyriker aufgefordert, ihre damaligen Erlebnisse literarisch darzustellen. Die Parole "Wir sind ein Volk" wurde in eine Frage umformuliert.

Von Cornelius Wüllenkemper | 05.09.2019
Ein verwitterter Aufkleber aus der deutschen Wendezeit von 1990 mit der Aufschrift "Wir sind ein Volk", aufgenommen am 10.08.2015 in Stendal (Sachsen-Anhalt).
Verwittert und verblichen? Die Parole "Wir sind das Volk" (dpa / Jens Wolf)
"Es ist nicht leicht mit wenigen Worten zu umschreiben, wie einschneidend die Wende war. Trotz aller Mühen, trotz Wende und Wandlung: Die Ereignisse widersetzen sich noch immer."
In einer Audiobotschaft brachte Kerstin Preiwuß die Gegenwart auf den Punkt. Die 1980 in Mecklenburg-Vorpommern geborene Autorin verließ sich nicht auf ihre eigene Erinnerung, sondern stellte mithilfe des 1990 erschienenen "Wörterbuchs zum öffentlichen Sprachgebrauch" der "Schlüsselwörter der Wendezeit" eine lexikologische Untersuchung der Ereignisse an:
"Nach Jahrzehnten der Unfreiheit Gerede, Gequatsche, Geschrei, Getöse, Palaver. Anschlussdrama. Vereinigungskater."
Der Vereinigungskater, so war es zumindest bei der preisgekrönten Lyrikerin Kerstin Hensel zu beobachten, wirkt auch dreißig Jahre nach dem Mauerfall fort. Hensels Prosa-Gedicht "Wendeschleife" erkundet die einst geteilte und jetzt neu erstrahlende Hauptstadt aus der Straßenbahn:
"Was ihr hier seht, das geile Gestern, die Hystorie aus Macht und Money, ein bisschen Hölle im Himmel Berlin Berlin! nicht betreten! Den über alles gewachsenen Rasen, das große Bewusstdesign, wollt ihr? Den geharkten Schrecken? den Edelrost Erinnerung? Hey, alles ist buchbar."
Ungreifbares Phänomen
In gewohnt ironischem Tonfall führte Hensel lautmalerisch und physisch vor, wieso Lyrik sich vielleicht am besten dazu eignet, sich gegenüber einem noch immer unendlich vielstimmigen und ungreifbaren Phänomen wie der friedlichen Revolution zu positionieren:
"Sie ist eine ganz andere Art der Kommunikation, eben eine ganz andere als die, wo man über etwas spricht, referiert oder befindet. Gerade durchs Geheimnis, durch die Vielschichtigkeit, die Lyrik hat, wenn sie gut ist, ist es eine andere Wahrnehmung als die übliche und auch als die offizielle. Und das ist, glaube ich, gerade das Gute daran, dass sie eben nicht dazu da ist, um über etwas zu referieren."
Das war eine zentrale Erkenntnis dieses an lyrischen Formen und Färbungen reichen Abends: Es gibt nicht die eine politische Wahrheit über die friedliche Revolution und ihre Folgen, sondern eine Vielzahl an persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen. Die "Fremdheit zwischen Ost und West", die Arne Born in seiner aktuellen Studie über die Literatur der Nachwendezeit nachweist, habe heute keinen Platz mehr, so merkte der Literaturwissenschaftler am Rande des Lyrik-Abends kritisch an:
"Wir sind dreißig Jahre danach, aber da kommen die gleichen Stereotype, die Scham des Ostlers, wenn er in den Westen kommt, das Grau des Ostens, der glitzernde, aber seelenlose, kalte Westen. All das ist in den Neunzigerjahren geschrieben worden. Und ich sage mal ganz brutal: Das brauchen wir heute nicht mehr."
Kein Trauma, sondern Lebenserfahrung
Für die Generation derjenigen, die den Mauerfall als Jugendliche miterlebten, spielt die Erinnerung an den Kollaps des DDR-Systems, an Konsumrausch und "abstumpfende Sensationen" im Westen noch immer eine Rolle. Der gebürtige Ostberliner Carl-Christian Elze etwa beschrieb das in seinem Gedicht sehr poetisch und sehr persönlich nicht als Trauma, sondern als Lebenserfahrung. Monika Rinck hingegen trat in ihrer Videoeinspielung zurückhaltend auf:
"Als die Mauer fiel, war ich in Deutschland so weit wie möglich davon weg. Im Saarland. Genauer: in Wemmetsweiler. Es war ein fader Abend, eia. Wir lungerten herum und versuchten die These zu illustrieren, dass man auch von alkoholfreiem Bier betrunken werden kann. Das war alles. Niemand von uns schaltete das Radio ein."
Rinck zog daraus den einzig richtigen Schluss und widmete ihren Text einer der wichtigsten ostdeutschen Dichterinnen, Elke Erb. Der vieldeutige Slogan "Wir sind ein Volk", das wurde an diesem Lyrik-Abend zum dreißigsten Jahr des Mauerfalls deutlich, ergibt nur dann einen Sinn, wenn wir bereit sind, uns Geschichten zu erzählen und zuzuhören.