Wie kam Gertrud Kolmar zu ihren dunklen, gleichwohl festen Gewissheiten?
"Ich bin ein Kontinent, der eines Tages stumm im Meere versinkt."
Dass solches Ende aber nicht sanft sein würde, ahnte sie auch:
"Das wird kommen …; irret euch nicht! / … Dann, wenn sie an blutendem Schopf durch die finsteren / Löcher mich schleifen!"
Erster Lyrik-Band 1917
So ist es aufgrund ihrer jüdischen Herkunft auch gekommen. Dabei deutete zunächst alles auf einen traditionellen Lebenslauf hin: Geboren am 10. Dezember 1894 als Gertrud Käthe Chodziesner und Tochter einer der bekanntesten Anwälte im Deutschland der Kaiserzeit und der Weimarer Republik, besuchte sie nach dem Lyzeum eine Land- und Hauswirtschaftliche Frauenschule und studierte zunächst Russisch, später Englisch und Französisch. Da hatte sie allerdings auch schon zu schreiben begonnen und sich den Nachnamen ihres Pseudonyms der väterlichen, einst polnischen, später zur preußischen Provinz Posen gehörenden und in Kolmar umbenannten Geburtsstadt entliehen. "Gedichte" hieß lapidar ihr erster, 1917 erschienener Lyrik-Band.
"Am blauen Himmel langen Friedens steigen / Die Wolken auf und decken schon den Rand; / Nun hat den Horizont ein schwüles Schweigen / Mit dichten, fahlen Schleiern überspannt."
Der dunkle Ton, der sich durch diese Wort-Musik zog, korrespondierte mit einem der wenigen existierenden, 1928 aufgenommenen Fotos, auf dem die Autorin einen aus dunklen Augen ernst anschaute und manchen auf die Idee brachte, eine leibliche Schwester Franz Kafkas zu erblicken.
"Ich bin die Kröte / Und trage den Edelstein."
Frühe Liebesbeziehung brutal beendet
Dass Gertrud Kolmar sich ausgesetzt und nach eigenen Worten als "einsames, verlorenes Kind" empfand, hing auch mit dem Trauma einer – von den Eltern gewünschten – Abtreibung zusammen, mit der eine frühe Liebesbeziehung brutal beendet worden war. Als wolle sie eine Schuld schreibend wiedergutmachen, versuchte sie später ihr ungeborenes Kind in einem Gedicht-Zyklus mit der ihr zur Verfügung stehenden körperlich-expressiven Kraft ihrer Sprache doch noch auszutragen. Es war der gerade in Augenblicken größter Not beschworene Glaube an "Amor fati", die Liebe des Schicksals, der ihr Leben und Schreiben mit Energien versorgte und ihr die dunklen, gleichwohl festen Gewissheiten einflüsterte. Immer wieder ein beinahe alttestamentarischer Blick und Ton:
"Einst war die Erde wundersam bestreut / Mit Pflanzendickicht, starken bunten Tieren / … Noch ohne Kette, Joch und Herdgeläut …"
Lyrik-Band "Die Frau und die Tiere"
Auf solche Bilder kam sie über die Beobachtung der Tiere und Pflanzen im parkähnlichen Garten eines Hauses in der Villenkolonie Finkenkrug in Falkensee bei Spandau, in das die Eltern 1923 gezogen waren und in dem sie nach dem Tod der Mutter 1928 dem Vater den Haushalt führte und nebenbei ihre einsamen Texte schrieb. Der Lyrik-Band "Die Frau und die Tiere" konnte zwar noch im August 1938 in einem kleinen Verlag erscheinen, wurde jedoch schon zwei Monate später nach der Reichspogromnacht sofort wieder eingestampft. Kurz darauf, nach Beschlagnahme des Hauses in Falkensee und des Vermögens, musste sie mit ihrem Vater in einem überfüllten sogenannten Judenhaus unterkommen. In äußerster Lebensgefahr bekannte sie sich in dem Gedicht "Wir Juden" noch einmal zu ihrem Schicksal und ihrer Herkunft:
"Nur Nacht hört zu. Ich liebe dich, ich liebe dich, mein Volk, / Und will dich ganz mit Armen umschlingen …"
Texte in der Schweiz in Sicherheit gebracht
Am 2. März 1943 in einen Todeszug gepfercht und ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert, verlieren sich ihre Spuren. Vermutlich aber noch am selben Tag wurde sie in einer Gaskammer ermordet. Vorher hatte sie ihre Manuskripte – die meisten ungedruckt – bei einer Schwester in der Schweiz in Sicherheit bringen können. Nach 1945 aus dem Nachlass veröffentlicht, begründeten die Texte Gertrud Kolmars Ruhm als eine der herausragendsten deutschen Autorinnen des 20. Jahrhunderts. In einem Gedicht hatte sie künftige Leser gebeten:
"Du hältst mich in den Händen ganz und gar.// Mein Herz wie eines kleinen Vogels schlägt / In deiner Faust. Der du dies liest, gib acht; / Denn sieh, du blätterst einen Menschen um."