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Lyrische Wattwanderung
Schöne Worte im Schlick

Die vielen Tiere und Pflanzen, das spezielle Licht, die frische Luft und die scheinbar endlose Weite: Eine Wanderung durch das Watt ist ein besonderes Erlebnis. In Schillig an der Nordsee kann man dabei zusätzlich noch Reimen und Versen lauschen: Bei einer lyrischen Wattwanderung.

Von Thomas Samboll |
    Eine Gruppe von Wattwanderern geht am 13.07.2016 über den Grund der Nordsee ziwschen der Insel Pellworm und der Hallig Süderoog (Schleswig-Holstein)
    Wattwanderer zwischen der Insel Pellworm und der Hallig Süderoog (dpa / picture-alliance / Carsten Rehder)
    Barfuß oder Strandsocke, Neoprenschuhe oder Gummistiefel? Und wo steht die passende Größe? Beim Treffen der Wattwanderer an der kleinen Strandbude von Wolfgang Gedat geht's erst mal noch nicht um große Poesie, sondern um ziemlich profane Probleme. Und um klare Ansagen. Denn wortkarg, wie es den Friesen ja manchmal nachgesagt wird, ist Wattführer Wolfgang Gedat nun wirklich nicht. Und das hat auch seinen Grund:
    "Bin Wahl-Friese, wie man hört. Eigentlich aus Berlin. Deswegen sind meine Ideen auch ein bisschen über das Friesische hinaus. Sodass ich also sage: Ich möchte hier was Besonderes machen, mal wat Anderes ins Watt reinbringen. Da ich ja nun eigentlich diplomierter Biologe bin, mache ich auf alle Fälle Biologie. Und versuche, das Ganze aber jetzt literarisch mit zu verarbeiten. Auf eine Art ist ja immer Lyrik in der Schule und so: Ööaahh, Gedichte, doof! Weil wahrscheinlich aber es mehr an dem Lehrer liegt, der die Gedichte nicht richtig rüberbringt..."
    Ringelnatz in den Dünen
    Und das will Wolfgang Gedat auf jeden Fall besser machen. Mit Morgenstern, Ringelnatz, Storm und all den anderen Dichtern, die so schöne Worte für das Watt und das Meer gefunden haben. Dieser Abend scheint dafür wie gemalt zu sein: Es ist warm, die tief stehende Sonne strahlt, eine leichte Brise weht aus West-Südwest, und am Himmel ziehen ein paar Schäfchenwolken vorüber. Noch sind die Weite des Watts und die glitzernde Nordsee dahinter aber nur zu erahnen. Den ersten Stopp legt die kleine, achtköpfige Wandergruppe nämlich schon in den Dünen ein. Denn, so Wolfgang Gedat.
    "Hier kann man jetzt natürlich Joachim Ringelnatz mal nehmen. Guckt mal hier, guckt mal hier rüber. Da passt et hier so wunderbar: Zupf Dir ein Wölkchen aus dem wolkenweiß, was über den Himmel schreitet. Und schmücke den Hut, der Dich begleitet, mit einem grünen Reis. Versteck´ Dich faul in die Fülle der Gräser. Weil´s wohltut, weil´s frommet. Und bist Du ein Mundharmonika-Bläser und hast eine bei Dir: Dann spiel´, was Dir kommt. Lass´ Deine Melodien lenken vom frei gegebenen Wolken-Gezupf. Vergiss Dich! Es soll Dein Denken nicht weitergehen als ein Grashüpfer-Hupf... Also wie sagt man immer: Seele baumeln lassen."
    Auf allen Vieren im Sand
    Wolfgang Gedat hat seine Gedichte alle im Kopf, er braucht dafür weder dicke Bücher noch Spick-Zettel. Deshalb ist es auch so fesselnd, wenn er sie scheinbar ganz spontan aufsagt: Einige Wanderer haben die Augen geschlossen, andere blinzeln in die Sonne oder blicken ein wenig träumend in den strahlend blauen Himmel. Man möchte eigentlich noch länger bleiben. Aber schließlich ist dies ja eine Watt-Wanderung. Also weiter zum Strand. Dort fängt der quirlige, etwa eins siebzig große Biologe mit dem weißen Rauschebart, der blauen Matrosenmütze und dem blau-weißen Fischerhemd aber plötzlich an, auf allen Vieren im Sand zu buddeln. Er baut Dämme und zieht Gräben, erzählt über die Eiszeit, mächtige Gletscher und was das alles mit dem Indianer-Häuptling Sitting Bull zu tun hat. Und vor allem aber mit der Entstehung des Wattenmeeres:
    "So und jetzt müsst Ihr Euch das ungefähr so vorstellen: Jetzt haben wir hier eine Moräne, haben hier die nächste Moräne und immer noch eine Moräne, also jede Menge. So und dann haben wir diese Urstromtäler hier durch, und unsere Flüsse suchen sich jetzt hier Wege."
    Wolfgang Gedat gräbt und erklärt, bis jeder über's Watt Bescheid weiß. Und natürlich gibt's dann auch noch einen Ringelnatz dazu:
    "Das Schönste für Kinder ist Sand. Ihn gibt's immer reichlich. Er rinnt unvergleichlich zärtlich durch die Hand. Weil man die Nase behält, wenn man in ihn fällt, ist er so weich. Kinderhände fühlen, wenn sie in ihm wühlen - nichts. Und - das Himmelreich! Kein Kind lacht über gemahlene Macht!"
    Wattwürmer und Krebse in Aktion
    Nun ist das Watt erreicht. Grauer, matschiger Meeresboden, soweit das Auge reicht. Aus der Ferne hören die Wanderer leises Wellenrauschen. Am Horizont ist Wangerooge zu sehen, die große friesische Insel, und dicke Pötte auf ihrem Weg nach Wilhelmshaven. Im Schlick kleine Tierchen: Kurzschwanzkrebse. Pfeffermuscheln. Und natürlich: Wattwürmer!
    "Da gibt's auch so eine nette Sache mit dem Wurm. Weil die Leute immer meinen, der sieht aus wie ein Regenwurm. Aber der Wattwurm hier, da siehst du deutlich den Körper. Und der Schwanz ist richtig abgesetzt, der ist also viel dünner nach hinten. Während beim Regenwurm ja Folgendes passiert ist... Ein Regenwurm ist vor zwei Wochen fröhlich durch die Welt gekrochen. Da kam ihm doch von ungefähr ein fremdes Würmlein in die Quer. Der Regenwurm war gut erzogen und so dem Fremden gleich gewogen. Er fragte voller Sympathie: Gestatten, Wurm! Wie heißen SIE? Darauf knurrt der Andere ganz betroffen: Ich glaube gar, Sie sind besoffen und kriechen blind durch das Gelände! ICH bin doch nur Ihr hinteres Ende. Das kann eben beim Wattwurm nicht passieren, weil das hintere Ende anders aussieht. So los, dann kommt mal."
    Mitwanderer Emanuel Kaufmann braucht aber noch ein bisschen. Der junge Mann aus dem Schwarzwald hat extra eine kleine Schaufel mitgebracht. Neben der Lyrik genießt er nämlich auch die Action:
    "Ich möcht´ die Krebse auch gern ein bisschen in Aktion sehen. Also dass der sich einbuddelt oder was tut und trau' mich dann auch nicht, mit den Händen hinzugehen. Also ich ärgere die manchmal. Und bevor der in die Finger kneift, besser in die Schaufel."
    Und die Gedichte? Machen das Watt noch ein bisschen lebendiger, findet der 30-Jährige:
    "Wo die ganze Sache ein bisschen auflockert. Das schon gut."
    Das findet auch seine Freundin Jasmin Vieth aus Bad Salzuflen:
    "Die anderen Wattführer, die haben das immer so streng durchgezogen. Sind dann immer gegangen, gegangen und haben dann ´n bisschen erzählt. Und dann gegangen. Und er macht das locker, flockig weg."
    Ein Sommerabend wie ein Gedicht
    Locker, flockig, lyrisch geht's dann auch weiter. Und dann wird es plötzlich unheimlich. Wolfgang Gedat sieht auf´s Meer hinaus und erzählt von plötzlich aufziehenden Seenebeln, gewaltigen Sturmfluten und vom sagenhaften Rungholt. Und als könnte er die versunkene mittelalterliche Metropole irgendwo dort draußen noch sehen, zitiert er Detlef von Liliencron:
    "Heute bin ich über Rungholt gefahren. Die Stadt ging unter vor 600 Jahren. Noch schlagen die Wellen da wild und empört, kannst richtig sehen hier, wie damals, als sie die Marschen zerstört. Die Maschine des Dampfers tuckerte, stöhnte, und aus den Tiefen rief es unheimlich und höhnte: Trutz, blanke Hans!"
    Gebannt hören die Wattwanderer zu. Heute bei diesem herrlichen Wetter sind nur kleine Wellen zu sehen. Aber selbst die scheinen plötzlich immer näher zu kommen... Einbildung? Zuviel Fantasie durch die vielen Gedichte? Nein, sagt Wolfgang Gedat, das Wasser kommt tatsächlich wieder zurück.
    Also Zeit, wieder an Land zu gehen. Unterwegs noch mal eben einen "Kuddeldaddeldu" von Ringelnatz - und dann haben die Wattwanderer auch schon wieder festen Boden unter den Füßen. Fast zweieinhalb Stunden waren sie unterwegs. Über Wangerooge geht jetzt gerade die Sonne unter. Ein Sommerabend wie ein Gedicht. Weshalb mancher Mitwanderer auch fast ein bisschen melancholisch nach Hause geht. Und dabei mit den Gedanken immer noch im Watt ist:
    "Ans Haff nun fliegt die Möwe, und Dämmrung bricht herein. Über die feuchten Watten leuchtet der Abendschein. Graues Gefieder huschet neben den Wassern her. Wie Träume liegen die Inseln im Nebel auf dem Meer. Ich höre des gärenden Schlammes geheimnisvollen Ton. Einsames Vogelrufen. So war es immer schon. Noch einmal schauert leise und schweiget dann der Wind. Vernehmbar werden die Stimmen, die über der Tiefe sind."