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Macht kaputt, was Euch kaputt macht!

Mai 1968. Fast alle Universitäten der Bundesrepublik werden bestreikt. Gießener Studenten benennen ihre Hochschule nach dem revolutionären Dichter in "Georg-Büchner-Universität" um, die Kölner entscheiden sich für "Rosa-Luxemburg-Universität". In Frankfurt wird Namensgeber Johann Wolfgang von Goethe kurzerhand durch Karl Marx ersetzt. Bei Konstanz ziehen Schüler gemeinsam mit Studenten in einem symbolischen Auswanderungsmarsch über die deutsch-schweizerische Grenze. Innerhalb weniger Tage werden in Freiburg zehntausend Unterschriften gegen die Notstandsgesetze gesammelt. Auch Schriftsteller und Gewerkschaftler beteiligen sich an den Protesten. An vielen Theatern unterbrechen Schauspieler die Aufführungen, um mit dem verdutzten Publikum über den Sinn und Unsinn der Notstandsgesetze zu diskutieren.

Sara Friedheim | 20.05.1998
    In keinem Monat der Geschichte der Bundesrepublik wurde mehr demonstriert als im Mai 1968. Dieser Monat machte die "68er" zum geflügelten Begriff, ja zum Mythos: Seitdem bezeichnet diese Redewendung die antiautoritäre Bewegung der studentischen Rebellen, die auch schon vor 1968 die erstarrten gesellschaftlichen Strukturen in der Bundesrepublik "zum Tanzen bringen" lassen wollten.

    Rolf Uesselers Rückblick auf die bewegte Zeit Ende der sechziger Jahre ist fürwahr spannend zu lesen, aber der Autor stellt die Ereignisse nicht als ein unparteiischer Chronist dar. Unverkennbar gilt seine Sympathie den Angehörigen der damaligen Studentenbewegung. Rudi Dutschke und Co. werden in den Himmel der Seligen gehoben. Ernstzunehmende Kritik an der Außerparlamentarischen Opposition der 68er scheint es für Uesseler auch dreißig Jahre danach nicht zu geben. Nur die Kritik der Vertreter des Establishments wird zitiert, um sie als Ausgeburt des Bösen schlechthin an den Pranger zu stellen.

    Uesselers Weltbild ist ebenso schematisch simplifizierend wie dasjenige der von ihm nicht ohne Grund beklagten Springerpresse. Hier die guten Weltverbesserer, dort die bösen Ausbeuter oder aus der Perspektive der Springerpresse: Hier die guten Bewahrer des Rechtsstaates, dort die bösen Weltverbesserer. Sind diese pauschalen Verurteilungen der jeweils anderen Seite nicht nur zwei Seiten einer Medaille? Solche Schwarz-Weiß-Malerei paßt nicht zu den Ansprüchen einer differenzierenden kritischen Vernunft.

    Daß die Studentenbewegung von den selbst gewählten geistigen Vorreitern der Bewegung - wie zum Beispiel von Horkheimer und Adorno - offen und mit durchaus ernst zu nehmenden Argumenten kritisiert wurde, wird bei Uesseler nicht erwähnt. Die von Habermas stammende Warnung vor einem Abgleiten der Studentenrebellion in einen "linken Faschismus" wird undifferenziert mit den markigen Sprüchen von Franz Josef Strauß auf eine Ebene gerückt – und nicht als Habermas-Zitat ausgewiesen und diskutiert. Die Studenten um Rudi Dutschke, Hans Jürgen Krahl und Daniel Cohn-Bendit geraten so zu unanfechtbaren Heroen einer besseren Gesellschaft. So einfach kann es nicht gewesen sein!

    Wenn man einmal von seiner pauschal bewertenden Betrachtungsweise absieht, gibt es an dem Uesselers Buch auch positive Seiten: Deutlich arbeitet der Autor die Motivation und Beweggründe der Studenten heraus. Damit leistet er einen historisch notwendigen Beitrag zur Rehabilitation der von der Springerpresse einseitig als Helfershelfer Moskaus denunzierten Rebellen. Viele Indizien belegen nämlich, daß erst durch das massive Aufgebot der Polizei und durch die von der Springerpresse betriebene überzogene Polarisierung die Studenten zu immer radikaleren Aktionen getrieben wurden. Am 2. Juni 1967 war der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten durch einen Schuß in den Hinterkopf ermordet worden. Das (auch im Nachhinein noch immer fragwürdig erscheinende) Urteil lautete auf Freispruch. Am 11. April 1968 wurde Rudi Dutschke niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt. Der Attentäter bekannte später, von der BILD-Zeitung gegen den Studentenführer aufgehetzt worden zu sein. Dutschke war von der Springerpresse als "Volksfeind Nr. 1" dargestellt worden. Bis auf Bundesjustizminister Gustav Heinemann waren die damaligen Repräsentanten der Regierung nicht bereit, den Studenten Verständnis entgegenzubringen. In ihrer pauschalen Ablehnung der 68er-Demonstranten waren sich Bundeskanzler Kiesinger und Außenminister Willy Brandt - wie auch die Große Koalition insgesamt - einig.

    Uesseler zeigt, daß Studenten zu allen Zeiten in extremen Positionen eine Möglichkeit sahen, ihre eigene Haltung gegenüber der Generation der Väter zu konturieren. An der Revolution von 1848 waren sie ebenso mitbeteiligt, wie an den Aufmärschen rechtsradikaler Korporationen, die den Sieg des Nationalsozialismus vorbereiten halfen. Man kann diese immer wieder in Erscheinung tretende Radikalisierung der Studentenschaft als gefährlich bezeichnen. Verdeckt man mit dieser abwehrenden Deutung nicht aber nur den in der Radikalisierung zu Tage tretenden Generationskonflikt? Gibt es nicht einen historisch nachweisbaren Zusammenhang zwischen extremer studentischer Radikalität auf der einen Seite und verfestigter geistiger Starrheit der Autoritäten auf der anderen Seite? So war es 1848. Und so war es auch wieder im Jahre 1968.

    Uesseler weist daraufhin, daß niemand im damaligen Wirtschaftswunderland der Bundesrepublik mit Widerstand, geschweige denn mit massiven Protesten, gerechnet hatte: Erlebte die Bundesrepublik nicht gerade einen unvergleichlichen wirtschaftlichen Aufschwung? Schon Ende der 50er Jahre war Adenauer mit dem Slogan "Keine Experimente!" erfolgreich gewesen. Mitte der sechziger Jahre wollte man den durch erste rezessive Anzeichen bedrohten Wohlstand um jeden Preis bewahren.

    In diesen Tendenzen zu einer formierten Gesellschaft sahen die Studenten erste Anzeichen einer geistigen Erstarrung und - damit verbunden - eines Verlustes an Demokratie. Obwohl sie selbst vom Wohlstand ihrer meist gutbürgerlichen Eltern profitierten, konnten sie sich in ihrer jugendlichen Rastlosigkeit nicht damit begnügen, den Sinn des Lebens nur in der Erhaltung des einmal erreichten Status Quos zu sehen, zumal dieser Status Quo keineswegs so unschuldig war, sondern – wie man bald erkannte – auf der Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt basierte. Eben darum bot der Vietnamkrieg, den die USA gegen ein scheinbar ohnmächtiges kleines Entwicklungsland führte, einen weiteren Stein des Anstoßes, der weltweit zu Protesten führte – auch in den Vereinigten Staaten.

    Rolf Uesseler unterscheidet innerhalb der Studentenbewegung drei verschiedene Strömungen: Da waren auf der einen Seite die Berliner Kommunarden um Rainer Langhans, Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann. Wegen ihrer subversiven Aktionen schienen sie selbst der Trägerorganisation der 68er, dem SDS, zu radikal und wurden ausgeschlossen. Die Kommunarden bildeten gleichsam die "Hippiefraktion" innerhalb der 68er. Mit ihren ebenso provokativen, wie im Grunde unpolitischen Happenings verschreckten sie erfolgreich die Spießbürger, indem sie sich z.B. nackt fotografieren ließen, die freie Liebe propagierten und öffentlich Joints rauchten.

    Aus dem zweiten Kreis der 68er Bewegung sind später die Terroristen der sogenannten RAF oder auch "Rote Armee Fraktion", hervorgegangen. 1968 gehörte Jan Carl Raspe zu ihren Wortführern. Orientiert an den revolutionären Theorien von Mao Tse Tung propagierten sie den gewaltsamen Guerillakampf auf den Straßen und riefen zum Umsturz auf. Diese Gruppe entsprach am ehesten dem Bild, das die Springerpresse pauschal auf sämtliche 68er bezog.

    Der dritte Kreis der Studentenbewegung orientierte sich an Marx und den Klassikern des revolutionären Sozialismus. Zu ihren Gurus gehörten Herbert Marcuse, Che Guevara und Fidel Castro. Als Sprecher traten Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit und Bernd Rabehl in Erscheinung. Leider wird die Unterscheidung der drei Gruppen ziemlich schematisch dargestellt. Es wird nicht weiter diskutiert, was z.B. Rudi Dutschke von Jan Carl Raspe unterschied. Bekannten sich etwa beide gleichermaßen zur gewaltsamen Revolution? Auch läßt der Autor die vom Verlag grau hervorgehobenen Zitate des RAF-Kollektivs um den späteren Terroristen Raspe unkommentiert. Dort heißt es zum Beispiel, daß "falsche Antworten" kritisiert und "richtige Antworten hervorgehoben werden sollten". Unter richtigen Antworten verstanden die selbsternannten Führer der RAF "die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes... als Mittel des Klassenkampfes".

    Uesseler versäumt die kritische Diskussion dieses Zitats und anderer mehr und ignoriert damit, daß sich große Teile der 68er über die Gewaltfrage durchaus uneins waren, abgesehen davon, daß die totalitär anmutende schematische Unterscheidung der führenden RAF-Kader zwischen angeblich "richtig" und "falsch" die demokratischen Ansprüche der 68er konterkariert. Habermas Warnung vor einem linken Faschismus wird dadurch nur bestätigt.

    Dieser immer wieder auftretende Mangel an Differenziertheit und die verklärende Darstellung der Apo können eventuell bestehende nostalgischen Erwartungen der Leser durchaus befriedigen. Eine unvoreingenommene und sachliche Analyse der 68er als ein historisches Phänomen mit durchaus aktuellen Bezügen steht allerdings noch aus.