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Macht und Ordnung, Sinn und Zeitgeist

Woher erfahren wir, was Menschen in der Vergangenheit dachten? Wie sahen sie etwa im frühen Mittelalter die gottgewollte Ordnung, den König und sein Reich? Ja, gab es überhaupt ein Reich? Man spricht zwar vom Reich der Merowinger oder der Karolinger, aber Historiker streiten seit langem: War das Reich tatsächlich eine eigene Institution, neben dem König?

Von Matthias Hennies | 18.01.2007
    Wie man das im Mittelalter sah, untersucht Bernhard Jussen in zeitgenössischen Schriften. Der Historiker, Professor an der Universität Bielefeld, will die allgemeine gesellschaftliche Grundhaltung zur politischen Ordnung ermitteln. Daher analysiert er nicht die einschlägigen Werke von Denkern und Gelehrten, sondern alltägliche Texte, in denen die politischen Begriffe selbstverständlich und unreflektiert verwendet werden.

    " Das bedeutet zum Beispiel, wenn ich mich dafür interessiere, was bedeutet "Reich, Staat, Ordnung", dass ich dann nicht an die Stellen wandere, wo ein Autor oder ein Redner diesen Begriff definiert. Sondern ich schaue mir alle die Stellen an, an denen er oder sie den Terminus automatisch benutzt. Und an diesen Stellen finde ich dann eine "Entourage" an Worten: Ich finde einen Haufen Attribute, ich finde bestimmte Präposition, Verben - und dieses Netz an Worten um eine Leitvokabel herum, das hat System. Und dieses System, das gewissermaßen mit dem Spracherwerb verinnerlicht wird, das ist aussagekräftig für die Grundhaltungen von den Sprechern. "


    Das "Netz an Worten" zeigt, was die Autoren über den gesuchten Begriff denken. Darin spiegeln sich die Einstellungen, die nicht hinterfragt, sondern automatisch vorausgesetzt werden.

    "Historische Semantik" heißt diese Methode in der Geschichtswissenschaft, also Historische Bedeutungslehre von Begriffen, die gerade nicht ausdrücklich von den Autoren thematisiert werden. Jussen hofft, damit endlich Licht in alte Streitfragen zu bringen - wie die Debatte über die Entstehung eines selbständigen Reiches. Bisher haben Historiker das lateinische Wort "Regnum" in der Regel mit "Reich" übersetzt. Doch der Bielefelder Wissenschaftler hat aber nun die Umgebung des Wortes "Regnum" in früh-mittelalterlichen Schriften genau angesehen.

    " Das heißt, in welchen Fällen taucht das Wort auf, was für Adjektive finde ich rundherum, was für Verben, taucht dieser Terminus "Regnum", den man üblicherweise mit "Reich" übersetzt, eigentlich irgendwann mal als Subjekt auf, also handelt es oder handelt es nicht? Hat mal ein Regnum irgendwas gemacht, zum Beispiel sich einen neuen König gewählt oder nicht? Und wenn Sie das untersuchen würden, würden Sie feststellen, dass sich das nicht zeigen lässt. "

    Das heißt: Zur Zeit der Karolinger gab es kein "Regnum", das unabhängig vom König war. Man sah es nicht als eine eigenständige Institution an, es kann also nicht als "Reich" bezeichnet werden.

    Anders wenn man zum Beispiel die Wortumgebung von "ecclesia" analysiert. In der Kirche sahen die Zeitgenossen sehr wohl eine selbständige Einrichtung, mit bestimmten Eigenschaften und wechselndem Personal. Was soll man also unter "Regnum" verstehen, wie soll man das Wort übersetzen?

    " Sie können es als "Herrschaft", als "Herrschaftsbereich" übersetzen, also die Pointe ist, dass Sie es als etwas übersetzen müssen, das gewissermaßen dem König gehört. "

    Das Konzept eines "Reiches" tritt später auf, erklärt Jussen. Erst im 11. und 12. Jahrhundert setzte sich der Gedanke durch, dass das Reich eine eigenständige Institution sei.

    Jussen kann sein Ergebnis auf eine umfassende Analyse stützen: Er hat sowohl Urkunden und juristische Texte ausgewertet als auch erzählende Quellen wie Chroniken, Predigten und die verbreiteten Lebensbeschreibungen von Heiligen. Mithilfe der Historischen Semantik hat er eine feste empirische Basis für einen seit 20 Jahren ergebnislosen Streit geliefert.

    " Also die übliche geschichtswissenschaftliche Argumentationsweise in solchen Fragen ist, dass man Texte liest, sich lesend gewissermaßen auf sein Gefühl verlässt und Beispiele heraussucht, die man für exemplarisch erklärt. Und das große Problem ist, dass mein wissenschaftlicher Opponent sich eine andere Stelle heraussucht. Und die Frage, welche Reichweite hat ein Textbeleg, die ist das methodische Problem. Wie wird eine Textstelle eigentlich zum Beispiel? Sie wird nur dann zum Beispiel, wenn es viele davon gibt. Und was mich interessiert ist, auf methodische saubere Weise aus einer Textstelle ein Beispiel zu machen. "

    Das Projekt gehört zum Bielefelder Sonderforschungsbereich "Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte". Mit diesem Thema befasst sich Bernhard Jussen auch in anderen Forschungsarbeiten. Er hat sich auf politische Geschichte spezialisiert und untersucht auch an anderen Medien die politische Kommunikation, die politische Landschaft unterschiedlicher Zeiten - insbesondere an Bildern.

    Jussen beobachtet etwa , wie heute historische Themen in der zeitgenössischen Malerei behandelt werden, er sammelt Zeugnisse der populären Kultur wie Werbeplakate oder Zeitschriften der Jugend-Szene. In einem weiteren großen Forschungsprojekt untersucht er die bunten Sammelbilder, die seit Ende des 19. Jahrhunderts Produkten des Massenkonsums beigelegt werden: den Packungen mit Fleischextrakt, Schuhcreme, Zigaretten oder Süßigkeiten. Wie werden welche historischen Ereignisse darauf dargestellt? Auch dabei sucht der Historiker nach einem neuen, empirisch besser fundierten Zugang. Denn seine Fachkollegen analysieren üblicherweise nur die großen Werke der Historienmalerei: Wandgemälde in Rathäusern, Bilder in Museen - aber nicht die weit verbreiteten, populären Medien.


    " Meine Grundfrage war: Welche Bilder hatten die verschiedenen Bevölkerungsteile im Zeitalter vor dem Fernseher wirklich zuhause? Also was lag im Ruhrgebiet 1920 in einer Arbeiterfamilie wirklich im Wohnzimmer auf dem Tisch? Und was in Köln bei einem Bourgeois? Was mich interessiert, ist der Zusammenhang zwischen kollektivem Bildwissen und politischem Diskurs. "

    Der Historiker kennt Serien über Opern und große Männer der Antike aus der Zeit um 1870, ein vollständiges Verzeichnis der deutschen Stadtwappen von einem Kaffeeröster, Bilder von der deutschen Flotte und von Alpenblumen aus Zigarettenschachteln der Dreißiger Jahre. Noch nach 1970 verteilten Sparkassen dicke Sammelalben für Bilder von historischen Ereignissen, aufgemacht wie Schulbücher - aber ohne staatliche Kontrolle des vermittelten Geschichtsbildes. Jussen hat schon rund 50.000 historische Bilder gesammelt - und nach aktuellen Serien, den Pokémon-Figuren oder Spielern der Fußball-WM, kann er seine Kinder fragen.