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Machtkampf in Armenien
Revolution mit Bürgerjournalismus

Monatelang kämpfte der Oppositionelle Nikol Paschinjan um die Macht in Armenien. Dabei nutzte er gezielt die sozialen Medien und organisierte Proteste via Internet. Seine Unterstützer sind vor allem junge Internetnutzer, die bei den größten Demonstrationen seit 30 Jahren auf der Straße sind.

Von Jutta Schwengsbier und Ani Matevosyan |
    Der Oppositionsführer Nikol Pashinjan steht bei einer Protestveranstaltung in Armeniens Hauptstadt Eriwan auf der Bühne.
    Oppositionsführer Nikol Paschinjan bei Protesten in Armeniens Hauptstadt Eriwan (dpa/Artyom Geodakyan, TASS)
    In ganz Armenien sind derzeit Hupkonzerte auf den Straßen zu hören. Es ist kein organisierter Protest, sondern Aktionen von zivilem Ungehorsam im ganzen Land. Viele Armenier sind stolz auf ihre eigene, kleine Revolution – ohne ausländische Unterstützung, wie alle betonen. Allein in der Hauptstadt Jerewan sind rund 250.000 Menschen regelmäßig auf den Straßen.
    Größter Protest seit Ende der Sowjetunion
    So eine Massendemonstration hat das kleine Kaukasusland mit knapp drei Millionen Einwohnern seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion noch nicht erlebt. Nach Ansicht der Soziologin Gayane Shagojan haben die sozialen Medien entscheidend zum Erfolg dieser neuen Bürgerbewegung beigetragen.
    "Die Protestbewegung hat in den vergangenen zehn Jahren gelernt, wie gut unsere Bürger über soziale Medien zu organisieren sind. Die soziale und wirtschaftliche Lage der Bevölkerung hat sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert. Die meisten geben der Regierung die Schuld dafür. In der digitalen Welt haben unsere Jugendlichen gelernt, was Freiheit und Selbstbestimmung bedeuten. Sie orientieren sich nicht mehr an ihren traditionell denkenden Eltern oder am Schulsystem. Davon bin ich fest überzeugt."
    Täglich neue Selfie-Videos
    In den ersten Tagen und Wochen der Proteste forderten die meisten: "Lehnt Sarkisjan ab". Nun singen viele "Ni-kol Varchapet" – "Nikol Ministerpräsident". Der 42-Jährige ist Journalist von Beruf und nutzt die sozialen Medien virtuos zur Massenmobilisierung. Er postet täglich auf seiner Facebook-Seite Selfie-Videos, oft bis weit nach Mitternacht. Auch Reden bei seinen Kundgebungen veröffentlicht er selbst über die sozialen Medien.
    Die Zahl der Internetnutzer in Armenien hat sich in der letzten Dekade verzehnfacht und liegt nun bei über 70 Prozent der Bevölkerung. Das ist nur geringfügig weniger als der EU-Durchschnitt. Fast eine Million Armenier und Armenierinnen sind bei Facebook registriert. Das heißt: die Hälfte aller armenischen Internet-Nutzer.
    Kraft des Bürgerjournalismus
    Anders als in Russland könnte die Regierung das Internet auch nicht einfach abstellen, ist die Soziologin Gayane Shagojan überzeugt: "Die meisten Armenier leben von Geldtransfers ihrer Verwandten im Ausland. Die Kommunikation über soziale Netzwerke zu unterbinden, käme deshalb einem politischen Selbstmord gleich. So etwas geht hier nicht."
    Solange die sozialen Medien zugänglich bleiben, kann die armenische Opposition ihre Anhänger jederzeit mobilisieren. Bilder und Videos der Proteste werden mit Freunden und Familienangehörigen inzwischen weltweit im Sekundentakt geteilt. Handystreaming ist dadurch wichtiger geworden als Veröffentlichungen aller klassischen Medienformate zusammengenommen. Der Kraft dieses Bürgerjournalismus kann sich derzeit in Armenien niemand entgegenstellen.