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Machtkampf in Venezuela
"Guaidó hat intensiv um Soldaten und Unteroffiziere geworben"

In Venezuela dauert der Machtkampf zwischen Präsident Maduro und Parlamentspräsident Guaidó an. Entscheidend seien am Ende die Proteste der Menschen auf den Straßen - und das Militär, sagte der Lateinamerika-Experte Hubert Gehring im Dlf.

Hubert Gehring im Gespräch mit Christine Heuer |
    Venezuelas selbsternannter Interimspräsident Juan Guaidó spricht nach einem Gottesdienst für die Opfer der gewaltsamen Zusammenstöße bei den Protesten gegen die Regierung mit Journalisten.
    Venezuelas selbsternannter Interimspräsident Juan Guaidó spricht in Caracas mit Journalisten. (AFP / Luis Robayo)
    Christine Heuer: Der Machtkampf in Venezuela geht weiter. Letzte Woche hatte sich in Caracas Parlamentspräsident Juan Guaidó selbst zum Interimspräsidenten ernannt. Dabei gibt es ja schon einen Präsidenten in dem südamerikanischen Land, jedenfalls betrachtet sich Nicolás Maduro als gewählter Regierungschef. Und noch, scheint es, hält das Militär ihm die Stange. Spätestens, wenn sich das ändert, dürften Maduros Tage als Venezuelas Präsident gezählt sein. Wie ist die Lage in dem Land? Welcher Präsident wird sich durchsetzen? Darüber habe ich heute früh bereits mit Hubert Gehring sprechen können. Er ist Lateinamerikaexperte und arbeitet für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Venezuelas Nachbarstaat Kolumbien. Ich habe Hubert Gehring zuerst gefragt, was er in Bogotá von der Situation im Nachbarland Venezuela mitbekommt.
    Hubert Gehring: Es gibt natürlich vielfältige Kanäle von und nach Venezuela. Im Moment kann man vielleicht die Stimmung in Caracas und im Land umschreiben mit den Worten Hoffnung, etwas Ungläubigkeit und noch Zweifel, wie dann die Entwicklung in den nächsten Tagen weitergehen wird.
    Mehr Hoffung als Angst
    Heuer: Haben die Menschen keine Angst davor, dass die Gewalt eskaliert, es vielleicht zu einem Bürgerkrieg kommt?
    Gehring: Ja, es gibt natürlich Angst, aber im Moment noch viel mehr Hoffnung vor allem aufgrund der Entwicklungen der letzten Tage, in denen ja der zweite Präsident, wie Sie gesagt haben, also Herr Guaidó doch relativ klug agiert hat, unter anderem ein Amnestiegesetz auf den Weg gebracht hat, um auch den Verantwortlichen aus dem Chavismo, also aus dem jetzigen Regime, zu signalisieren, es ist eine Verständigung möglich. Was aber nicht möglich ist, ist, dass Herr Maduro und die führenden Köpfe des jetzigen Regimes weiter an der Macht bleiben können.
    Heuer: Aber Herr Gehring, sieht das die Bevölkerung in Venezuela denn auch so? Sind die Mehrheitsverhältnisse tatsächlich so, dass alle oder fast alle auf Guaidó hoffen und mit Maduro schon abgeschlossen haben?
    Gehring: Ja, eine übergroße Mehrheit im Moment ist wohl auf der Seite nicht nur von Herrn Guaidó als Übergangspräsident, sondern einfach auf der Seite der Gruppen, die fordern, wir wollen freie, geheime Wahlen. Und vor allem, was noch viel wichtiger ist für eine übergroße Mehrheit der Venezolaner: Wir wollen wieder etwas zu essen haben. Und Öl allein kann man halt nicht essen.
    Heuer: Was ist denn mit den Chavisten, also mit den Anhängern von Maduro? Wie verhalten die sich in dieser Situation nach Ihrer Beobachtung?
    Gehring: Viele Chavistas, die jetzt nicht in führenden Positionen zum Beispiel des Militärs oder auch des Kabinetts von Herrn Maduro sind, sind inzwischen zu der Opposition übergelaufen, also zu oppositionellen Gruppen. Viele Chavistas befinden sich im Übrigen auch unter den Flüchtlingen, die über die Grenze von Venezuela nach Kolumbien gekommen sind, im letzten Jahr über eine Million.
    "Sie wollen einen Wechsel"
    Heuer: Aber Sie sagen uns heute Morgen, die Menschen in Venezuela, die, die dort sind, die wollen Neuwahlen, und eigentlich möchten Sie Juan Guaidó als neuen Präsidenten?
    Gehring: Ja. Sie wollen einen Wechsel, einfach weil von den Lebensverhältnissen auch her, unabhängig jetzt von der großen Politik, ob von links oder von rechts, die Menschen verzweifelt sind. Wir können in Venezuela letztendlich eine humanitäre Krise konstatieren. Neun von zehn Familien können mit ihren Einkommen nicht einmal mehr die Grundnahrungsmittel kaufen. Das Gesundheitssystem ist am Kollabieren. Inzwischen schätzt man, dass über die Hälfte des medizinischen Personals an Kliniken in diesem Land ins Ausland gegangen sind.
    Heuer: Aber Herr Gehring, würde das denn alles tatsächlich besser mit Juan Guaidó an der Spitze des Staates?
    Gehring: Wenn es de facto zu einem Wechsel kommen sollte in der nächsten Zeit, dann wird es einige Zeit dauern. Und wenn ich sage, einige Zeit, dann spreche ich auch von Jahren, bis dieses Land sowohl im Bereich Wirtschaft, aber auch in anderen Bereichen wieder einigermaßen stabilisiert werden kann.
    Heuer: Also schnell ändert sich gar nichts, auch nicht mit einem neuen Präsidenten?
    Gehring: Diese Hoffnung wäre viel zu verfrüht und wäre auch nicht richtig. Venezuela ist de facto am Boden, und wer immer dann letztendlich gewählt werden wird – hoffentlich in freien, geheimen Wahlen –, der wird eine Sisyphos-Arbeit vor sich haben.
    Heuer: Im Westen sehen ja viele Juan Guaidó schon deshalb positiv, weil er kein Chavist ist. Aber wofür steht der eigentlich politisch?
    Gehring: Das ist ein 35-jähriger jüngerer Politiker, verheiratet, mit einem Baby, der letztendlich die Aufgabe angenommen hat seitens der doch manchmal auch unterschiedlichen, zerstrittenen Oppositionsgruppen, die Rolle des Übergangspräsidenten zu übernehmen und hoffentlich dann in näherer Zukunft auch in Richtung freier Wahlen zu führen. Ob aber Herr Guaidó dann infolge dieser freien Wahlen wieder Präsident sein wird oder eine größere politische Rolle spielen wird, das ist im Moment natürlich nicht absehbar, ist aber auch nicht seine Aufgabe.
    Heuer: Na ja, wenn man Präsident sein möchte, dann sollte das schon die Aufgabe sein. Aber Herr Gehring, unbestritten, Guaidó hat die Opposition, so weit das im Moment möglich scheint, geeint, in Venezuela? Ist er aber auch ein überzeugter Demokrat?
    Gehring: Davon kann ausgegangen werden. Nach all dem, was man von ihm hört, ist er ein Vertreter, der aus der Mittelschicht kommt und nicht von irgendeiner politischen Elite. Ein Mensch, der auch sehr geerdet und sehr bescheiden ist. Ich denke, man kann schon davon ausgehen, dass er wirklich ein seriöser Politiker ist, der im Übrigen auch ein großes persönliches Risiko jetzt auf sich nimmt.
    "Das Militär ist auch nicht so homogen und so einig"
    Heuer: Das Militär, heißt es immer wieder, gibt am Ende den Ausschlag. Wie sicher steht denn das Militär hinter Maduro?
    Gehring: Es gibt in Venezuela in so gut wie keinen gesellschaftlichen Gruppen monolithische Blöcke, und ich denke, das gibt es auch im Militär nicht. Wir haben in Venezuela circa 2.000 Generäle, so viel, wie wahrscheinlich in keinem anderen Land. Und da gibt es eben Generäle, die sind gleicher als andere. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass es selbst in diesen oberen Rängen durchaus unterschiedliche Meinungen gibt. Und Guaidó als Übergangspräsident hat ja jetzt in den letzten zwei Tagen sehr intensiv auch um die Soldaten und um Unteroffiziere geworben, und nicht nur um Generäle. Weil, wenn es wirklich zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen sollte – schießen tun nicht die Generäle, sondern die Soldaten und Unteroffiziere. Insofern hat er gerade bei diesen Gruppen sehr stark geworben.
    Heuer: Mit Erfolg? Glauben Sie, das Militär fällt um?
    Gehring: Das ist seriös nicht zu prognostizieren. Sicher ist jedoch, das Militär ist auch nicht so homogen und so einig, wie es vielleicht scheinen mag. Allein die Tatsache, dass es durchaus ein, zwei Tage gedauert hat nach dem 26., also nachdem Guaidó sich zum Übergangspräsidenten dann proklamiert hat, bis das Militär sich geäußert hat, spricht schon dafür, dass es da durchaus nicht nur eine Meinung pro Maduro gibt.
    Heuer: Aber Sie sagen auch, am Ende wird das Militär die Sache entscheiden?
    Gehring: Letztendlich gibt es zwei Faktoren, die am Ende entscheidend werden. Das sind die Menschen, die auf die Straße gehen, und auch natürlich das Militär. Es bleibt zu hoffen, dass da letztendlich durchaus auch ein Denkprozess jetzt in den nächsten Tagen in Bewegung gekommen ist und dann auch das Militär sich pro Zukunft und nicht in Richtung Vergangenheit entscheidet.
    Heuer: Hubert Gehring, der Lateinamerika-Experte der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kolumbien war das im Interview mit dem Deutschlandfunk.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.