Sie fordern demokratische Reformen – Freiheit, Menschenrechte. Doch die Staatsmacht antwortet mit äußerster Härte. Es gab und gibt Straßenschlachten, Prügelszenen mit Uniformierten, es brennen Polizeiautos, Barrikaden, und noch weiß niemand, wie viele Opfer seit den Freitagsgebeten heute Mittag in Ägypten zu beklagen sind. Am Abend zogen Militäreinheiten auf strategisch wichtigen Plätzen in Kairo auf, Präsident Mubarak verhängte eine nächtliche Ausgangssperre über Kairo, Alexandria und Sues, sie ist seit 18 Uhr unserer Zeit in Kraft, seit 40 Minuten also. Die Menschen – sehen wir auf Fernsehbildern – scheinen sich nicht daran zu halten, in Kairo sind Schüsse zu hören, und Präsident Mubarak will sich noch am Abend an die Öffentlichkeit wenden, während Tausende von Menschen versuchen, das Außenministerium in Kairo zu stürmen, direkt an der Corniche el-Nil. Wie ein Lauffeuer hat sich seit der Jasmin-Revolution in Tunesien vor 14 Tagen der Ruf nach Freiheit, Demokratie, nach Menschenrechten verbreitet. Ägypten hat allerdings ein ganz eigenes, ein ganz besonderes Gewicht: Es ist der bevölkerungsreichste, der größte, der politisch und geostrategisch wohl wichtigste Staat in der arabischen Welt. Ich begrüße Sie zu unserem "Hintergrund" an diesem Freitagabend, am Mikrofon ist Thilo Kößler.
Und bei der Einschätzung der aktuellen Situation und der Analyse der Lage hilft uns der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, Volker Perthes, den wir aus Davos zugeschaltet haben. Schönen guten Abend, Herr Perthes!
Volker Perthes: Guten Abend, Herr Kößler!
Haben Sie denn damit gerechnet, dass es zu so einer schnellen Eskalation kommt?
Volker Perthes: Ich habe nicht damit gerechnet, dass so schnell die Dinge sich eskalieren, die Dinge so schnell in Bewegung kommen, aber klar war, dass das ägyptische Regime sich nicht ewig wird halten können. Hier ist halt die Beispielwirkung Tunesiens und die Frustration der Ägypter, insbesondere der jungen Generation in Ägypten zusammengekommen.
Thilo Kößler: Herr Perthes, Mubarak will sich an sein Volk wenden – was wird er ihm sagen können, wie wird er es beruhigen können?
Volker Perthes: Ich denke, er wird noch versuchen, den Landesvater zu geben, der sagt, geht wieder nach Hause, wir werden euch helfen, wir haben euch verstanden – ein Wort, das wir ja auch von Ben Ali gehört haben vor Kurzem. Möglicherweise wird er ein paar Maßnahmen ankündigen wie etwa billigere Lebensmittel, höhere Löhne, möglicherweise sogar – das weiß man nicht, wie weit er geht – eine neue Regierung, also einen neuen Ministerpräsidenten.
Thilo Kößler: Steht Mubarak am Ende seiner Amtszeit, Herr Perthes?
Volker Perthes: Tatsächlich geht die Amtszeit, für die er gewählt worden ist, im Herbst dieses Jahres zu Ende. Ich glaube, das Regime in Ägypten ist noch lange nicht am Ende, aber Mubarak als Person und die Familie Mubarak, die sind mit ihrer Macht am Ende – selbst wenn Mubarak noch einige Monate im Präsidentenpalast sitzen bleibt.
Thilo Kößler: Lassen Sie uns zunächst einen kurzen Blick auf die aktuelle Lage werfen. Cornelia Wegerhoff hat uns aus Kairo vor wenigen Minuten diesen Beitrag überspielt:
Cornelia Wegerhoff: Jetzt wird scharf geschossen in Kairo, die Lage spitzt sich dramatisch zu. So wie vorher in den Städten Sues und Ismailia wurde das Gebäude der ägyptischen Regierungspartei NDP von Demonstranten in Brand gesetzt. Auch Polizeifahrzeuge brennen. Trotz der Ausgangssperre sind immer noch Tausende Menschen auf der Straße, gegen die Polizei und Sicherheitskräfte in aller Härte vorgehen. Sogar das Ägyptische Museum in der Kairoer Stadtmitte, in dem unter anderem der weltberühmte Schatz des Pharaos Tutenchamuns ausgestellt ist, könnte von Feuern bedroht sein, so die letzten Meldungen. Militärfahrzeuge stehen bereit. Das staatliche Rundfunk- und Fernsehgebäude in Kairo wurde weiträumig abgeriegelt. Staatspräsident Hosni Mubarak soll in Kürze eine Rede zur Lage der Nation halten.
Thilo Kößler: Cornelia Wegerhoff mit aktuellen Informationen aus Kairo. Herr Perthes, die labile Lage in Ägypten ist ja seit Jahrzehnten Grund für Spekulationen, irgendwann wird das Pulverfass hochgehen, hieß es. Was hat dazu geführt, dass es jetzt passiert, welche Faktoren kamen da zusammen?
Volker Perthes: Also tatsächlich kommt zusammen die Beispielwirkung von Tunesien, das hat in gewisser Weise die Mauer der Furcht nicht nur in Ägypten, sondern in einer ganzen Reihe von arabischen Staaten durchbrochen. Leute, die nicht eigentlich zur organisierten Opposition gehört haben, wo es überhaupt eine organisierte Opposition gab, Leute, die zur Mittelschicht gehören, die sonst eher zu Hause sich geärgert haben oder sich mit europäischen und amerikanischen Freunden unterhalten haben, die haben plötzlich gesehen: In Tunesien klappt das, man kann auf die Straße gehen, ja, die Polizei schlägt zurück, aber man kann ohne Furcht tatsächlich politisch etwas verändern. Und da ist tatsächlich was durchbrochen worden. Das sehen wir auch im Jemen, das sehen wir auch in Jordanien. Das heißt nicht, dass es überall genauso verläuft wie in Tunesien, aber diese Mauer der Furcht, die ist durchbrochen.
Thilo Kößler: Das ist eine Protestbewegung, die immer weitere Kreise zieht, sagen Sie – heißt das, dass es hier möglicherweise auch zu einer Koalition mit den verarmten Massen kommt?
Volker Perthes: Die Verarmten in den ärmeren oder auch in den Elendsvierteln von Kairo sind wahrscheinlich relativ leicht zu mobilisieren, das ist ja auch nicht das erste Mal, dass sie auf die Straße gehen oder dass sie Brotkioske anzünden oder mal eine Polizeistation angreifen – so eine gewisse Haltung zur Anarchie unterstellen die Ägypter sich gegenseitig oft ganz gerne. Tatsächlich ist aber diese Bewegung ja ausgegangen von Leuten, die nicht üblicherweise auf die Straße gehen. Das sind eben eher relativ gut gebildete, moderne, wenn Sie so wollen, Hochschulabsolventen und Gymnasialabsolventen.
Thilo Kößler: Gestern ist Mohammed el-Baradei, der Chef der internationalen Atomenergiebehörde, aus Wien zurückgekehrt nach Kairo, um an diesen Demonstrationen teilzunehmen – er ist festgesetzt worden heute Nachmittag. Wie ist seine Rolle einzuschätzen, Herr Perthes, ist er der mögliche neue Hoffnungsträger für die Opposition?
Volker Perthes: Er könnte dazu gemacht werden. Eigentlich hat er wenig dazu mitgebracht, weil er hat ja sein berufliches Leben im Wesentlichen nicht in Kairo verbracht hat, sondern in internationalen Organisationen. Aber ist ein Ägypter geworden, gewesen, der weltbekannt ist, der den Friedensnobelpreis bekommen hat für die Atomenergieorganisation, der er vorgesessen hat, und der vielen Ägyptern einfach als ein glaubwürdiger, anständiger, würdevoller Vertreter ihres Volkes gilt, der nicht korrupt ist und wo man sagt, wenn dieser Ministerpräsident oder gar Präsident würde, dem würden wir vertrauen.
Thilo Kößler: Unser Wiener Korrespondentin Andreas Meyer-Feist, Herr Perthes, hat Mohammed el-Baradei porträtiert – hier ist sein Stück!
Mohammed el-Baradei gibt sich gerne bescheiden. Im unauffälligen dunklen Mantel sieht man den 68-Jährigen manchmal durch Wien spazieren. Eigentlich gefalle es ihm hier am besten, doch ein ruhiges Leben als Pensionär liegt ihm wohl nicht. In Wien bereitete er sich vor auf seine Rolle als Mutmacher der ägyptischen Opposition. Mut hat er schon in seiner Amtszeit als oberster Atomwächter gezeigt. Er wagte es, sich mit George Bush anzulegen im Streit um angebliche Massenvernichtungswaffen im Irak. Er spürte aber auch immer die Ohnmacht der Diplomatie, etwa im Konflikt mit dem Iran und mit Nordkorea. Sein Lieblingssatz: "The door is still open." Er vertraute seinem für ihn typischen, routiniert abgespulten Verhandlungsmuster nach der Devise: Wenn einer nicht so will, wie ich will, versuche ich es mit Zuckerbrot und Peitsche. Ich locke ihn mit Vorteilen und drohe ihm mit Nachteilen.
"Wir sollten geduldig sein, solange ein Staat mit uns zusammenarbeitet, sollten wir es mit Diplomatie und Kontrolle versuchen, bevor wir an irgendwelche Sanktionen denken, etwa im Weltsicherheitsrat. Am Ende war Mohammed el-Baradei immer nur so einflussreich wie die Mitgliedsstaaten der Internationalen Atomenergiebehörde und wie es die Vereinten Nationen zuließen. Er leitete die Atomenergieorganisation von 1997 bis 2009. Vor sechs Jahren bekam er den Friedensnobelpreis. "Der Preis erinnert an die großen Gefahren dieser Zeit. Die Gefahr, dass Atomwaffen weiter verbreitet werden, die Tatsache, dass noch Tausende Atombomben existieren und die Gefahr, dass Terroristen versuchen könnten, Atomwaffen einzusetzen."
Thilo Kößler: Andreas Meyer-Feist über Mohammed el-Baradei, der möglicherweise zum Hoffnungsträger in Ägypten wird. Sie hören den Deutschlandfunk, die Sendung "Hintergrund", die Unruhen in Ägypten sind unser Thema, und zugeschaltet ist der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik aus Berlin, Volker Perthes. Herr Perthes, Sie haben es gesagt, es ist eine Protestbewegung, die immer weitere Kreise zieht, man fragt sich aber: Gibt es denn demokratische Strukturen in Ägypten, ein gefestigtes institutionelles Gefüge, ein ernst zu nehmendes Parteiensystem, auf das man nun aufbauen könnte nach 30 Jahren Mubarak-Regime?
Volker Perthes: Nein, das gibt es eben nicht, und es ist genau das Regime, was das verhindert hat und was eine Kulisse aufgebaut hat, weil es keine organisierte demokratische, liberale, sagen wir mal Mitte-Rechts-, Mitte-Links-Opposition gegeben hat, uns den Eindruck vermittelt hat, die einzige politische Kraft, die das Regime herausfordern könnte, seien die Islamisten, seien die Muslimbrüder. Hier sehen wir, in den letzten Tagen haben wir gesehen, dass diese Muslimbrüder praktisch nicht präsent waren, dass sie diesen Aufstand genauso verschlafen haben oder genauso davon überrascht worden sind wie das Regime. Sie gehören nicht zu der Generation, sie gehören nicht zu denen, die jetzt auf die Straße gegangen sind, aber die, die jetzt auf die Straße gegangen sind, haben keine Parteien, keine Institutionen, die es ihnen erlaubt hätten, sich friedlich politisch zu organisieren.
Thilo Kößler: Allerdings haben sich die Muslimbrüder heute solidarisch erklärt mit der Bewegung. Inwieweit droht denn Gefahr, dass sie sich diese Bewegung zu eigen machen und die Islamisten das Heft doch in die Hand nehmen können?
Volker Perthes: Selbstverständlich werden die Islamisten versuchen, auf den Zug aufzuspringen. Sie werden die Chance nutzen. Sie sind im Prinzip eine populistische Organisation, also sie haben natürlich eine Ideologie – sie sind fromm, sie wollen einen von religiösen Gesetzen angeleiteten Staat und eine entsprechende Gesetzgebung –, aber sie wissen, dass sie eine Basis brauchen in der Bevölkerung. Und wenn Sie sehen, die Bevölkerung bewegt sich weg vom Mubarak-Regime, dann werden sie ihre stille Koalition mit diesem Regime aufkündigen und versuchen, auf den Zug zu springen, aber ich glaube nicht, dass sie die Lokomotivführer werden können.
Thilo Kößler: Das Regime in Ägypten, aber auch in Tunesien, auch anderswo in der arabischen Welt, diese Regime bezogen ihre Selbstlegitimation ja immer mit dem Argument der Abwehr des politischen Islam. Zeigt diese Geschichte, dass das gar nicht stimmt, wurde da möglicherweise ein politischer Popanz in eigenem Machtinteresse aufgebaut?
Volker Perthes: Ein Stück weit schon. Es gab natürlich islamistischen Terrorismus, wobei man zum Teil dafür die Regime auch selbst verantwortlich machen musste. Es gab als fast einzige organisierte politische Kraft die Muslimbrüder in Ägypten und andere islamische Organisationen oder Islamistische in einigen anderen Staaten, aber im Wesentlichen eben, weil die Versuche, säkulare Parteien, die das Regime herausgefordert hätten zu gründen, immer unterbunden worden sind. Es hat ja auch bei früheren Präsidentschaftswahlen Gegenkandidaten gegen Mubarak gegeben, die nicht aus der islamistischen, sondern aus einer sagen wir mal linksliberalen Ecke gekommen sind. Und die Leute sind zum Dank dafür, dass sie sich an den Institutionen beteiligt haben und zur Präsidentschaft kandidiert und über sieben Prozent der Stimmen bekommen haben, dann verhaftet worden und haben Jahre im Gefängnis verbracht. Man hat das also verhindert, dass es irgendeine andere oppositionelle Alternative zum Regime gab.
Thilo Kößler: Auf welchen Machtapparat kann sich Husni Mubarak stützen, wie sieht die Architektur der Macht am Nil aus, wodurch ist sie gekennzeichnet? Martin Durm schildert für uns das Mit-, Neben- und Gegeneinander der verschiedenen Machtzentren:
Vermutlich haben nicht viele Ägypter am 25. Januar die Live-Übertragung des ägyptischen Staatsfernsehens gesehen. Sie war so belanglos wie immer und so langweilig, wie Staatsfernsehen nun einmal ist in einem Land, in dem seit Jahrzehnten der gleiche Machthaber herrscht. Er redet und redet, und vor ihm sitzen und applaudieren die Hofschranzen seines Regimes, diejenigen, die ihn schon so lange absichern und stützen: Polizeioffiziere, Armeegeneräle, die Chefs der Geheimdienste, von denen es alleine sieben gibt in Ägypten. Am 25. Januar, als die Proteste in Kairos Straßen begannen, übertrug das ägyptische Staatsfernsehen die Rede Hosni Mubaraks anlässlich des alljährlich gefeierten Polizeitags.
"Ich und alle Ägypter beglückwünschen Sie", sagte Mubarak, "und ich versichere Ihnen, wir sind stolz für die Hingabe, mit der Sie unserer Gesellschaft dienen."Eben das ist Teil des Mubarak-Systems, immer und jederzeit das Gegenteil zu behaupten von dem, was Wirklichkeit ist. Ägyptens Polizei dient der Gesellschaft? Jeder weiß in Ägypten um seine grundsätzliche Rechtlosigkeit gegenüber dem allgegenwärtigen Polizeiapparat. Die schwarz Uniformierten sind im Alltag meist unberechenbar und korrupt, aber im Ernstfall verwandelt sich ihre Disziplinlosigkeit in System erhaltende Brutalität. Sei es beim Niederschlagen von Demonstranten in den Straßen von Kairo, sei es in den Gefängnissen, wo Elektroschocks an den Genitalien und anale Vergewaltigungen zur polizeilichen Folterroutine gehören. Im Reiseland Ägypten wird die Zahl der politischen Häftlinge auf 17.000 geschätzt – nicht nur Moslembrüder, sondern auch Menschenrechtsaktivisten, Linke, Anarchisten, in den vergangenen Tagen kamen Hunderte Demonstranten dazu. Natürlich wissen Europäer und Amerikaner seit Jahren, wie es bestellt ist um die Demokratie, um Menschenrechte und Freiheit am Nil, doch die Tatsache, dass Mubarak innenpolitisch Islamisten bekämpft und außenpolitisch den Frieden mit Israel garantiert, hat ihm stets westliches Wohlwollen garantiert. Das System Mubarak war durchaus erwünscht. Noch vor wenigen Monaten lobte Außenminister Westerwelle den ägyptischen Potentaten bei einem Deutschlandbesuch als "Mann großer Weisheit mit festem Blick für die Zukunft". Nun gehen die Politiker vorsichtig auf Distanz in Europa."Die europäischen Regierungen und die EU haben ja nicht die Diktatoren der arabischen Welt unterstützt, die pflegten Kontakt mit den Ländern", sagt der Europaabgeordnete Dominique Baudis, Leiter des Pariser Instituts für die arabische Welt und Berater des französischen Präsidenten. Natürlich habe man das Verhalten der Machthaber nicht immer gebilligt, aber andererseits haben wir auch keine moralische Lektion zu geben, sagt er.
Autokraten vom Schlag Mubaraks hätten moralische Lektionen auch nicht akzeptiert. Jahrzehntelang fühlte er sich innenpolitisch gesichert von seinem Polizeiapparat, den Geheimdiensten und einer zwei Millionen Mann starken Spitzelarmee, die eigentlich nur dazu da ist, ein Gefühl latenter Unsicherheit zu verbreiten. Die elektronische Feinüberwachung durch die Geheimdienste hingegen reicht bis in die feinsten Verästelungen der Kommunikationsnetze hinein. Telefone, Handys, E-Mail-Verkehr werden vom Inlandsdienst kontrolliert. Die Armee wiederum, Mubaraks dritte und entscheidende Stütze, hält sich momentan noch im Hintergrund. Hochgerüstet von den Amerikanern und ausgebildet, um die Stabilität eines prowestlichen Regimes zu garantieren, stehen die Generäle im Ernstfall für einen finalen Machtkampf parat – einstweilen scheinen sie aber noch abzuwarten, ob sich der Aufruhr mit den bislang bewährten Mitteln kleinkriegen lässt.
Thilo Kößler: Martin Durm über den Machtapparat am Nil, und zugeschaltet ist uns nach wie vor Volker Perthes, der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Perthes, es wird eng für Mubarak, Sie haben es gesagt, aber das Regime sitzt fest im Sattel. Wie geht es jetzt weiter, was ist das wahrscheinlichste Szenario für Sie?
Volker Perthes: Ich glaube, dass das Militär tatsächlich entscheiden wird, wie es weitergeht, und möglicherweise dem Präsidenten sagt, dass es keine gute Idee wäre, wenn er im Herbst noch einmal kandidieren würde. Ganz sicher wird das Militär den Präsidenten sagen, dass es eine ganz schlechte Idee wäre zu versuchen, den Sohn des Präsidenten – Gamal – an die Macht zu bringen als Nachfolger des Präsidenten. Das Militär ist die stärkste Institution, Mubarak selbst kommt aus dem Militär, sein Vorgänger kam aus dem Militär, sein Vorvorgänger kam aus dem Militär, und ich nehme mal an, dass auch sein Nachfolger aus dem Militär kommen wird.
Thilo Kößler: Also nichts mit Demokratisierung und demokratischer Wende?
Volker Perthes: Ein aufgeklärtes Militär könnte natürlich, wenn es sieht, dass die ganze Gleichung so nicht weitergeht, wo man gegen einen großen Teil des Volkes regiert, versuchen, eine sanfte Landung hinzubringen, indem es sagt, man erklärt Mubarak, dass er jetzt endgültig mit 82 aufs Altenteil gehen darf, man setzt eine Übergangsregierung ein, und dann muss man einen verfassungs-ändernden Prozess auf den Weg bringen. Denn wenn man unter den heute herrschenden, auf Mubarak zugeschnittenen Verfassungsbestimmungen etwa neu wählen würde, dann könnte man keine demokratische Wahl stattfinden lassen. Da müssen also erst neue Institutionen aufgebaut werden, eine neue Verfassung muss zustande gebracht werden, vielleicht eine verfassungsgebende Versammlung gewählt werden. Das muss ja irgendjemand in die Hand nehmen, und wahrscheinlich kann das niemand anders als das Militär in Ägpyten.
Thilo Kößler: Lassen Sie uns noch einen ganz kurzen Blick auf die Vereinigten Staaten werfen – der engste Verbündete Ägyptens –, und Ägypten ist der engste Verbündete in der arabischen Welt, man muss das sagen, neben Jordanien immer noch das einzige arabische Land, das Frieden mit Israel geschlossen hat. Wie verfolgen die USA das Geschehen, was glauben Sie?
Volker Perthes: Die USA sind sehr überrascht gewesen, sie haben vor einiger Zeit immer noch nicht von demokratischen und undemokratischen Regimen im Nahen und Mittleren Osten gesprochen, sondern von moderaten und radikalen und Ägypten immer sehr lobend in das Lager der moderaten gezählt. Sie sind, glaube ich, gerade dabei, in Washington einen Kurswechsel zu machen und sich zu distanzieren, Abstand zu gewinnen zum Mubarak-Regime. Das sieht man auch an Erklärungen von Obama und seinem Sprecher, wo es dann heißt, das Regime müsse erkennen, dass die Bürger die Partner und nicht die Gegner der Regierung sind.
Thilo Kößler: Muss sich Israel Sorgen machen?
Volker Perthes: Israel findet überraschende Machtwechsel in seiner Nachbarschaft überhaupt nicht gut, aber was wir hier auch sehen, ist, dass die Protestbewegung keine Protestbewegung gegen das israelisch-ägyptische Verhältnis, gegen den mittlerweile auch 30 Jahre und mehr als 30 Jahre alten Friedensvertrag ist, wie das zu Zeiten von Anwar Sadat, also dem Vorgänger von Mubarak noch war.
Thilo Kößler: Ägypten lebt seit der Ermordung – Sie haben es gesagt, Herr Perthes – an Anwar Sadat 1981 im ununterbrochenen Ausnahmezustand, jetzt kocht die Volksseele über, es herrscht Ausgangssperre in Kairo, in Alexandria, in Sues, das Militär steht auf den Straßen und der Volksaufstand zieht Kreise. Demonstrationen gab es in Jordanien, im Jemen, sogar in Saudi-Arabien heute. Eine ganze Regierung ist in Aufruhr, in der arabischen Welt hat eine neue Zeitrechnung begonnen. Ich bedanke mich bei Professor Volker Perthes, dem Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik! Guten Abend!
Und bei der Einschätzung der aktuellen Situation und der Analyse der Lage hilft uns der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, Volker Perthes, den wir aus Davos zugeschaltet haben. Schönen guten Abend, Herr Perthes!
Volker Perthes: Guten Abend, Herr Kößler!
Haben Sie denn damit gerechnet, dass es zu so einer schnellen Eskalation kommt?
Volker Perthes: Ich habe nicht damit gerechnet, dass so schnell die Dinge sich eskalieren, die Dinge so schnell in Bewegung kommen, aber klar war, dass das ägyptische Regime sich nicht ewig wird halten können. Hier ist halt die Beispielwirkung Tunesiens und die Frustration der Ägypter, insbesondere der jungen Generation in Ägypten zusammengekommen.
Thilo Kößler: Herr Perthes, Mubarak will sich an sein Volk wenden – was wird er ihm sagen können, wie wird er es beruhigen können?
Volker Perthes: Ich denke, er wird noch versuchen, den Landesvater zu geben, der sagt, geht wieder nach Hause, wir werden euch helfen, wir haben euch verstanden – ein Wort, das wir ja auch von Ben Ali gehört haben vor Kurzem. Möglicherweise wird er ein paar Maßnahmen ankündigen wie etwa billigere Lebensmittel, höhere Löhne, möglicherweise sogar – das weiß man nicht, wie weit er geht – eine neue Regierung, also einen neuen Ministerpräsidenten.
Thilo Kößler: Steht Mubarak am Ende seiner Amtszeit, Herr Perthes?
Volker Perthes: Tatsächlich geht die Amtszeit, für die er gewählt worden ist, im Herbst dieses Jahres zu Ende. Ich glaube, das Regime in Ägypten ist noch lange nicht am Ende, aber Mubarak als Person und die Familie Mubarak, die sind mit ihrer Macht am Ende – selbst wenn Mubarak noch einige Monate im Präsidentenpalast sitzen bleibt.
Thilo Kößler: Lassen Sie uns zunächst einen kurzen Blick auf die aktuelle Lage werfen. Cornelia Wegerhoff hat uns aus Kairo vor wenigen Minuten diesen Beitrag überspielt:
Cornelia Wegerhoff: Jetzt wird scharf geschossen in Kairo, die Lage spitzt sich dramatisch zu. So wie vorher in den Städten Sues und Ismailia wurde das Gebäude der ägyptischen Regierungspartei NDP von Demonstranten in Brand gesetzt. Auch Polizeifahrzeuge brennen. Trotz der Ausgangssperre sind immer noch Tausende Menschen auf der Straße, gegen die Polizei und Sicherheitskräfte in aller Härte vorgehen. Sogar das Ägyptische Museum in der Kairoer Stadtmitte, in dem unter anderem der weltberühmte Schatz des Pharaos Tutenchamuns ausgestellt ist, könnte von Feuern bedroht sein, so die letzten Meldungen. Militärfahrzeuge stehen bereit. Das staatliche Rundfunk- und Fernsehgebäude in Kairo wurde weiträumig abgeriegelt. Staatspräsident Hosni Mubarak soll in Kürze eine Rede zur Lage der Nation halten.
Thilo Kößler: Cornelia Wegerhoff mit aktuellen Informationen aus Kairo. Herr Perthes, die labile Lage in Ägypten ist ja seit Jahrzehnten Grund für Spekulationen, irgendwann wird das Pulverfass hochgehen, hieß es. Was hat dazu geführt, dass es jetzt passiert, welche Faktoren kamen da zusammen?
Volker Perthes: Also tatsächlich kommt zusammen die Beispielwirkung von Tunesien, das hat in gewisser Weise die Mauer der Furcht nicht nur in Ägypten, sondern in einer ganzen Reihe von arabischen Staaten durchbrochen. Leute, die nicht eigentlich zur organisierten Opposition gehört haben, wo es überhaupt eine organisierte Opposition gab, Leute, die zur Mittelschicht gehören, die sonst eher zu Hause sich geärgert haben oder sich mit europäischen und amerikanischen Freunden unterhalten haben, die haben plötzlich gesehen: In Tunesien klappt das, man kann auf die Straße gehen, ja, die Polizei schlägt zurück, aber man kann ohne Furcht tatsächlich politisch etwas verändern. Und da ist tatsächlich was durchbrochen worden. Das sehen wir auch im Jemen, das sehen wir auch in Jordanien. Das heißt nicht, dass es überall genauso verläuft wie in Tunesien, aber diese Mauer der Furcht, die ist durchbrochen.
Thilo Kößler: Das ist eine Protestbewegung, die immer weitere Kreise zieht, sagen Sie – heißt das, dass es hier möglicherweise auch zu einer Koalition mit den verarmten Massen kommt?
Volker Perthes: Die Verarmten in den ärmeren oder auch in den Elendsvierteln von Kairo sind wahrscheinlich relativ leicht zu mobilisieren, das ist ja auch nicht das erste Mal, dass sie auf die Straße gehen oder dass sie Brotkioske anzünden oder mal eine Polizeistation angreifen – so eine gewisse Haltung zur Anarchie unterstellen die Ägypter sich gegenseitig oft ganz gerne. Tatsächlich ist aber diese Bewegung ja ausgegangen von Leuten, die nicht üblicherweise auf die Straße gehen. Das sind eben eher relativ gut gebildete, moderne, wenn Sie so wollen, Hochschulabsolventen und Gymnasialabsolventen.
Thilo Kößler: Gestern ist Mohammed el-Baradei, der Chef der internationalen Atomenergiebehörde, aus Wien zurückgekehrt nach Kairo, um an diesen Demonstrationen teilzunehmen – er ist festgesetzt worden heute Nachmittag. Wie ist seine Rolle einzuschätzen, Herr Perthes, ist er der mögliche neue Hoffnungsträger für die Opposition?
Volker Perthes: Er könnte dazu gemacht werden. Eigentlich hat er wenig dazu mitgebracht, weil er hat ja sein berufliches Leben im Wesentlichen nicht in Kairo verbracht hat, sondern in internationalen Organisationen. Aber ist ein Ägypter geworden, gewesen, der weltbekannt ist, der den Friedensnobelpreis bekommen hat für die Atomenergieorganisation, der er vorgesessen hat, und der vielen Ägyptern einfach als ein glaubwürdiger, anständiger, würdevoller Vertreter ihres Volkes gilt, der nicht korrupt ist und wo man sagt, wenn dieser Ministerpräsident oder gar Präsident würde, dem würden wir vertrauen.
Thilo Kößler: Unser Wiener Korrespondentin Andreas Meyer-Feist, Herr Perthes, hat Mohammed el-Baradei porträtiert – hier ist sein Stück!
Mohammed el-Baradei gibt sich gerne bescheiden. Im unauffälligen dunklen Mantel sieht man den 68-Jährigen manchmal durch Wien spazieren. Eigentlich gefalle es ihm hier am besten, doch ein ruhiges Leben als Pensionär liegt ihm wohl nicht. In Wien bereitete er sich vor auf seine Rolle als Mutmacher der ägyptischen Opposition. Mut hat er schon in seiner Amtszeit als oberster Atomwächter gezeigt. Er wagte es, sich mit George Bush anzulegen im Streit um angebliche Massenvernichtungswaffen im Irak. Er spürte aber auch immer die Ohnmacht der Diplomatie, etwa im Konflikt mit dem Iran und mit Nordkorea. Sein Lieblingssatz: "The door is still open." Er vertraute seinem für ihn typischen, routiniert abgespulten Verhandlungsmuster nach der Devise: Wenn einer nicht so will, wie ich will, versuche ich es mit Zuckerbrot und Peitsche. Ich locke ihn mit Vorteilen und drohe ihm mit Nachteilen.
"Wir sollten geduldig sein, solange ein Staat mit uns zusammenarbeitet, sollten wir es mit Diplomatie und Kontrolle versuchen, bevor wir an irgendwelche Sanktionen denken, etwa im Weltsicherheitsrat. Am Ende war Mohammed el-Baradei immer nur so einflussreich wie die Mitgliedsstaaten der Internationalen Atomenergiebehörde und wie es die Vereinten Nationen zuließen. Er leitete die Atomenergieorganisation von 1997 bis 2009. Vor sechs Jahren bekam er den Friedensnobelpreis. "Der Preis erinnert an die großen Gefahren dieser Zeit. Die Gefahr, dass Atomwaffen weiter verbreitet werden, die Tatsache, dass noch Tausende Atombomben existieren und die Gefahr, dass Terroristen versuchen könnten, Atomwaffen einzusetzen."
Thilo Kößler: Andreas Meyer-Feist über Mohammed el-Baradei, der möglicherweise zum Hoffnungsträger in Ägypten wird. Sie hören den Deutschlandfunk, die Sendung "Hintergrund", die Unruhen in Ägypten sind unser Thema, und zugeschaltet ist der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik aus Berlin, Volker Perthes. Herr Perthes, Sie haben es gesagt, es ist eine Protestbewegung, die immer weitere Kreise zieht, man fragt sich aber: Gibt es denn demokratische Strukturen in Ägypten, ein gefestigtes institutionelles Gefüge, ein ernst zu nehmendes Parteiensystem, auf das man nun aufbauen könnte nach 30 Jahren Mubarak-Regime?
Volker Perthes: Nein, das gibt es eben nicht, und es ist genau das Regime, was das verhindert hat und was eine Kulisse aufgebaut hat, weil es keine organisierte demokratische, liberale, sagen wir mal Mitte-Rechts-, Mitte-Links-Opposition gegeben hat, uns den Eindruck vermittelt hat, die einzige politische Kraft, die das Regime herausfordern könnte, seien die Islamisten, seien die Muslimbrüder. Hier sehen wir, in den letzten Tagen haben wir gesehen, dass diese Muslimbrüder praktisch nicht präsent waren, dass sie diesen Aufstand genauso verschlafen haben oder genauso davon überrascht worden sind wie das Regime. Sie gehören nicht zu der Generation, sie gehören nicht zu denen, die jetzt auf die Straße gegangen sind, aber die, die jetzt auf die Straße gegangen sind, haben keine Parteien, keine Institutionen, die es ihnen erlaubt hätten, sich friedlich politisch zu organisieren.
Thilo Kößler: Allerdings haben sich die Muslimbrüder heute solidarisch erklärt mit der Bewegung. Inwieweit droht denn Gefahr, dass sie sich diese Bewegung zu eigen machen und die Islamisten das Heft doch in die Hand nehmen können?
Volker Perthes: Selbstverständlich werden die Islamisten versuchen, auf den Zug aufzuspringen. Sie werden die Chance nutzen. Sie sind im Prinzip eine populistische Organisation, also sie haben natürlich eine Ideologie – sie sind fromm, sie wollen einen von religiösen Gesetzen angeleiteten Staat und eine entsprechende Gesetzgebung –, aber sie wissen, dass sie eine Basis brauchen in der Bevölkerung. Und wenn Sie sehen, die Bevölkerung bewegt sich weg vom Mubarak-Regime, dann werden sie ihre stille Koalition mit diesem Regime aufkündigen und versuchen, auf den Zug zu springen, aber ich glaube nicht, dass sie die Lokomotivführer werden können.
Thilo Kößler: Das Regime in Ägypten, aber auch in Tunesien, auch anderswo in der arabischen Welt, diese Regime bezogen ihre Selbstlegitimation ja immer mit dem Argument der Abwehr des politischen Islam. Zeigt diese Geschichte, dass das gar nicht stimmt, wurde da möglicherweise ein politischer Popanz in eigenem Machtinteresse aufgebaut?
Volker Perthes: Ein Stück weit schon. Es gab natürlich islamistischen Terrorismus, wobei man zum Teil dafür die Regime auch selbst verantwortlich machen musste. Es gab als fast einzige organisierte politische Kraft die Muslimbrüder in Ägypten und andere islamische Organisationen oder Islamistische in einigen anderen Staaten, aber im Wesentlichen eben, weil die Versuche, säkulare Parteien, die das Regime herausgefordert hätten zu gründen, immer unterbunden worden sind. Es hat ja auch bei früheren Präsidentschaftswahlen Gegenkandidaten gegen Mubarak gegeben, die nicht aus der islamistischen, sondern aus einer sagen wir mal linksliberalen Ecke gekommen sind. Und die Leute sind zum Dank dafür, dass sie sich an den Institutionen beteiligt haben und zur Präsidentschaft kandidiert und über sieben Prozent der Stimmen bekommen haben, dann verhaftet worden und haben Jahre im Gefängnis verbracht. Man hat das also verhindert, dass es irgendeine andere oppositionelle Alternative zum Regime gab.
Thilo Kößler: Auf welchen Machtapparat kann sich Husni Mubarak stützen, wie sieht die Architektur der Macht am Nil aus, wodurch ist sie gekennzeichnet? Martin Durm schildert für uns das Mit-, Neben- und Gegeneinander der verschiedenen Machtzentren:
Vermutlich haben nicht viele Ägypter am 25. Januar die Live-Übertragung des ägyptischen Staatsfernsehens gesehen. Sie war so belanglos wie immer und so langweilig, wie Staatsfernsehen nun einmal ist in einem Land, in dem seit Jahrzehnten der gleiche Machthaber herrscht. Er redet und redet, und vor ihm sitzen und applaudieren die Hofschranzen seines Regimes, diejenigen, die ihn schon so lange absichern und stützen: Polizeioffiziere, Armeegeneräle, die Chefs der Geheimdienste, von denen es alleine sieben gibt in Ägypten. Am 25. Januar, als die Proteste in Kairos Straßen begannen, übertrug das ägyptische Staatsfernsehen die Rede Hosni Mubaraks anlässlich des alljährlich gefeierten Polizeitags.
"Ich und alle Ägypter beglückwünschen Sie", sagte Mubarak, "und ich versichere Ihnen, wir sind stolz für die Hingabe, mit der Sie unserer Gesellschaft dienen."Eben das ist Teil des Mubarak-Systems, immer und jederzeit das Gegenteil zu behaupten von dem, was Wirklichkeit ist. Ägyptens Polizei dient der Gesellschaft? Jeder weiß in Ägypten um seine grundsätzliche Rechtlosigkeit gegenüber dem allgegenwärtigen Polizeiapparat. Die schwarz Uniformierten sind im Alltag meist unberechenbar und korrupt, aber im Ernstfall verwandelt sich ihre Disziplinlosigkeit in System erhaltende Brutalität. Sei es beim Niederschlagen von Demonstranten in den Straßen von Kairo, sei es in den Gefängnissen, wo Elektroschocks an den Genitalien und anale Vergewaltigungen zur polizeilichen Folterroutine gehören. Im Reiseland Ägypten wird die Zahl der politischen Häftlinge auf 17.000 geschätzt – nicht nur Moslembrüder, sondern auch Menschenrechtsaktivisten, Linke, Anarchisten, in den vergangenen Tagen kamen Hunderte Demonstranten dazu. Natürlich wissen Europäer und Amerikaner seit Jahren, wie es bestellt ist um die Demokratie, um Menschenrechte und Freiheit am Nil, doch die Tatsache, dass Mubarak innenpolitisch Islamisten bekämpft und außenpolitisch den Frieden mit Israel garantiert, hat ihm stets westliches Wohlwollen garantiert. Das System Mubarak war durchaus erwünscht. Noch vor wenigen Monaten lobte Außenminister Westerwelle den ägyptischen Potentaten bei einem Deutschlandbesuch als "Mann großer Weisheit mit festem Blick für die Zukunft". Nun gehen die Politiker vorsichtig auf Distanz in Europa."Die europäischen Regierungen und die EU haben ja nicht die Diktatoren der arabischen Welt unterstützt, die pflegten Kontakt mit den Ländern", sagt der Europaabgeordnete Dominique Baudis, Leiter des Pariser Instituts für die arabische Welt und Berater des französischen Präsidenten. Natürlich habe man das Verhalten der Machthaber nicht immer gebilligt, aber andererseits haben wir auch keine moralische Lektion zu geben, sagt er.
Autokraten vom Schlag Mubaraks hätten moralische Lektionen auch nicht akzeptiert. Jahrzehntelang fühlte er sich innenpolitisch gesichert von seinem Polizeiapparat, den Geheimdiensten und einer zwei Millionen Mann starken Spitzelarmee, die eigentlich nur dazu da ist, ein Gefühl latenter Unsicherheit zu verbreiten. Die elektronische Feinüberwachung durch die Geheimdienste hingegen reicht bis in die feinsten Verästelungen der Kommunikationsnetze hinein. Telefone, Handys, E-Mail-Verkehr werden vom Inlandsdienst kontrolliert. Die Armee wiederum, Mubaraks dritte und entscheidende Stütze, hält sich momentan noch im Hintergrund. Hochgerüstet von den Amerikanern und ausgebildet, um die Stabilität eines prowestlichen Regimes zu garantieren, stehen die Generäle im Ernstfall für einen finalen Machtkampf parat – einstweilen scheinen sie aber noch abzuwarten, ob sich der Aufruhr mit den bislang bewährten Mitteln kleinkriegen lässt.
Thilo Kößler: Martin Durm über den Machtapparat am Nil, und zugeschaltet ist uns nach wie vor Volker Perthes, der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Herr Perthes, es wird eng für Mubarak, Sie haben es gesagt, aber das Regime sitzt fest im Sattel. Wie geht es jetzt weiter, was ist das wahrscheinlichste Szenario für Sie?
Volker Perthes: Ich glaube, dass das Militär tatsächlich entscheiden wird, wie es weitergeht, und möglicherweise dem Präsidenten sagt, dass es keine gute Idee wäre, wenn er im Herbst noch einmal kandidieren würde. Ganz sicher wird das Militär den Präsidenten sagen, dass es eine ganz schlechte Idee wäre zu versuchen, den Sohn des Präsidenten – Gamal – an die Macht zu bringen als Nachfolger des Präsidenten. Das Militär ist die stärkste Institution, Mubarak selbst kommt aus dem Militär, sein Vorgänger kam aus dem Militär, sein Vorvorgänger kam aus dem Militär, und ich nehme mal an, dass auch sein Nachfolger aus dem Militär kommen wird.
Thilo Kößler: Also nichts mit Demokratisierung und demokratischer Wende?
Volker Perthes: Ein aufgeklärtes Militär könnte natürlich, wenn es sieht, dass die ganze Gleichung so nicht weitergeht, wo man gegen einen großen Teil des Volkes regiert, versuchen, eine sanfte Landung hinzubringen, indem es sagt, man erklärt Mubarak, dass er jetzt endgültig mit 82 aufs Altenteil gehen darf, man setzt eine Übergangsregierung ein, und dann muss man einen verfassungs-ändernden Prozess auf den Weg bringen. Denn wenn man unter den heute herrschenden, auf Mubarak zugeschnittenen Verfassungsbestimmungen etwa neu wählen würde, dann könnte man keine demokratische Wahl stattfinden lassen. Da müssen also erst neue Institutionen aufgebaut werden, eine neue Verfassung muss zustande gebracht werden, vielleicht eine verfassungsgebende Versammlung gewählt werden. Das muss ja irgendjemand in die Hand nehmen, und wahrscheinlich kann das niemand anders als das Militär in Ägpyten.
Thilo Kößler: Lassen Sie uns noch einen ganz kurzen Blick auf die Vereinigten Staaten werfen – der engste Verbündete Ägyptens –, und Ägypten ist der engste Verbündete in der arabischen Welt, man muss das sagen, neben Jordanien immer noch das einzige arabische Land, das Frieden mit Israel geschlossen hat. Wie verfolgen die USA das Geschehen, was glauben Sie?
Volker Perthes: Die USA sind sehr überrascht gewesen, sie haben vor einiger Zeit immer noch nicht von demokratischen und undemokratischen Regimen im Nahen und Mittleren Osten gesprochen, sondern von moderaten und radikalen und Ägypten immer sehr lobend in das Lager der moderaten gezählt. Sie sind, glaube ich, gerade dabei, in Washington einen Kurswechsel zu machen und sich zu distanzieren, Abstand zu gewinnen zum Mubarak-Regime. Das sieht man auch an Erklärungen von Obama und seinem Sprecher, wo es dann heißt, das Regime müsse erkennen, dass die Bürger die Partner und nicht die Gegner der Regierung sind.
Thilo Kößler: Muss sich Israel Sorgen machen?
Volker Perthes: Israel findet überraschende Machtwechsel in seiner Nachbarschaft überhaupt nicht gut, aber was wir hier auch sehen, ist, dass die Protestbewegung keine Protestbewegung gegen das israelisch-ägyptische Verhältnis, gegen den mittlerweile auch 30 Jahre und mehr als 30 Jahre alten Friedensvertrag ist, wie das zu Zeiten von Anwar Sadat, also dem Vorgänger von Mubarak noch war.
Thilo Kößler: Ägypten lebt seit der Ermordung – Sie haben es gesagt, Herr Perthes – an Anwar Sadat 1981 im ununterbrochenen Ausnahmezustand, jetzt kocht die Volksseele über, es herrscht Ausgangssperre in Kairo, in Alexandria, in Sues, das Militär steht auf den Straßen und der Volksaufstand zieht Kreise. Demonstrationen gab es in Jordanien, im Jemen, sogar in Saudi-Arabien heute. Eine ganze Regierung ist in Aufruhr, in der arabischen Welt hat eine neue Zeitrechnung begonnen. Ich bedanke mich bei Professor Volker Perthes, dem Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik! Guten Abend!