Unter der heißen Sonne Madagaskars liegt das geheimnisvolle Reservat Ankárana mit seinen märchenhaften Trockenwäldern, in denen Lemuren, Raubtiere, Reptilien und seltsame Vögel leben. Aus dem grünen Dickicht ragen graue, messerscharfe Felsnadeln empor, von den Madagassen Tsingy genannt - abgeleitet von "auf den Zehenspitzen laufen". Lange Zeit blieb das Reservat an der Nordwestküste Madagaskars nahezu unbekannt, weil die Höhlen unter den Tsingy als heilige Stätten gelten und die Einheimischen fürchteten, sie könnten durch Besucher entweiht werden.
Am Eingang zum Reservat treffen wir Nicolas Salo, Biologe und seit 2007 Direktor des 18.000 Hektar großen Schutzgebietes:
"Das Besondere in diesem Reservat sind die Grotten. Sie sind 140 Kilometer lang, die größten in Afrika. Außerdem die Tsingy aus grauem Kalkstein, über die man hier streckenweise gehen kann. Und drittens der riesige Trockenwald. Touristen dürfen nur mit einem hier ausgebildeten Guide durch das Reservat wandern, der genau weiß, an welche Orte man gehen darf und an welche nicht – weil es im Park viele Verbote gibt, die Fadys der Ahnen."
Diese Fadys oder Tabus betreffen vor allem die Höhlen, sagt der Direktor.
"Frauen, die ihre Menstruation haben, dürfen nicht in die Grotten. Es ist auch verboten, Schweinefleisch, runde Bohnen, Kichererbsen oder lebende Hühner mit hineinzunehmen."
Und warum, fragen wir? Die Antwort von Direktor Salo führt zurück in die Vergangenheit.
"Es gab einen Krieg zwischen zwei Volksgruppen, den Merina aus dem Hochland und den Sakalava aus dieser Gegend. Ein Teil der Sakalava flüchtete sich in den Park. Diese Lebensmittel haben sie mit den Angreifern verbunden, deshalb sind sie verboten. Seitdem nennen sie sich Antankárana - "Menschen aus den Höhlen". Es ist eine sehr große Volksgruppe, zu der auch der Direktor des Reservats gehört. Sie wird von einem "Prinz" genannten König repräsentiert."
Aufbruch zu einer 4,5-stündigen Tour durch das Reservat, begleitet von dem jungen Guide Nambiníntsoa Andríanarilandy, kurz Nambin genannt. Auch die madagassische Reiseführerin Flavie Andríamanonga ist dabei, nicht zum ersten Mal steigt sie auf den 150 groben Felsenstufen hinunter zu den Grottes Chauve-Souris, den Fledermausgrotten.
Strenge Regeln beim Eingang in die Höhle
Vor dem Eingang in die erste Höhle müssen wir die Rucksäcke ablegen. Es folgt eine Kletterpartie über Felsbrocken ins stockfinstere Innere. Das ohrenbetäubende Geschrei Tausender Fledermäuse begrüßt die Eindringlinge. Wir stehen vor der Grottenwand und leuchten mit unseren Taschenlampen zur Höhlendecke hinauf, mitten in das Gewusel und Flattern kiloschwerer Tiere.
"Hier in dieser Höhle leben 4.000 bis 5.000 Fledermäuse. Um Futter zu finden, fliegen sie nachts insgesamt 30 Kilometer. Früh am Morgen kehren sie in ihre Höhle zurück, wo sie den Tag verbringen. Wir haben 14 Fledermausarten im Park. Von der kleinsten Spezies von nur vier Gramm bis zu der größten Art, die nicht in Höhlen lebt, sondern in Bäumen, genauer gesagt in Mangobäumen."
In den verzweigten Höhlengängen führt uns Nambin durch steile Auf- und Abstiege und enge Spalten, durch die wir nur kriechend in die nächste Grotte kommen.
"Im Jahr 1835 kam der Merina-König Radama I. mit all seinen Soldaten hierher. Die Antankárana, die lokale Bevölkerung, versteckte sich in den Höhlen. Einige von ihnen sind hier gestorben. Seitdem ist es ein heiliger Ort."
In manchen Höhlen befinden sich heilige Königsgräber, zu denen die Einheimischen kommen, um zu beten. Besucher haben sich diesen Orten respektvoll zu nähern, ohne Kopfbedeckung, ohne Rucksäcke.
Wer sich allerdings auf einem Felsen einfach mal ausruhen möchte, während die anderen in die vierte Grotte klettern, macht eine erstaunliche Erfahrung. Unsere madagassische Begleiterin Flavie kehrt aus der Grotte zurück, um mich vom Felsen zurückzuholen.
Warman lässt Menschen verschwinden
Sie sagt, dass es nicht erlaubt sei, irgendwo im Park allein zu sein. Weil es überall im Wald den Geist Warman gebe. Deshalb dürften sich hier weder Einheimische, noch Ausländer allein bewegen. Zwischen Gräbern könne viel passieren.
Die Madagassin lacht verlegen. "Du könntest verschwinden", sagt sie noch, "und niemand wüsste, was geschehen ist." So bleibt Flavie bei mir sitzen, bis die anderen zurückkehren. Der Glaube an die mächtigen Geister der Verstorbenen, gute und böse, ist bis heute allgegenwärtig.
Nach dem Aufstieg aus der Unterwelt, auf 150 Stufen zurück nach oben, wartet auf die Wanderer das zweite Naturwunder des Reservats: Jene spektakulären Felsnadeln der grauen Tsingy, die über Jahrtausende hinweg aus verkarstetem Kalkstein entstanden sind. Der Weg dorthin ist steinig und steil. In der Gluthitze der Mittagszeit lassen sich im Dickicht weder Lemuren noch Chamäleons blicken. Immer weiter geht es hinauf bis zu den Gipfeln des immergrünen Trockenwaldes. Und ganz oben, über den schier endlosen Wipfeln, ragen die spitzen Türme der Tsingy in die Höhe, meterhoch übereinander gestaffelt wie ein kunstvolles Bauwerk - ein märchenhafter Anblick.
Die große Nationalstraße im Nordwesten Madagaskars, die vom Reservat Ankárana nach Ambanja führt, ist von Schlaglöchern übersät. Wir brauchen Stunden für die Strecke, zuletzt in stockfinsterer Dunkelheit. Schließlich noch eine kurze Abzweigung nach Ankífy direkt an der Küste, wo wir in einem Strandhotel übernachten.
Am nächsten Morgen geht es zum Hafen von Ankífy, um auf die Insel Nosy Komba überzusetzen. Auf der großen Vulkaninsel hoffen wir, Lemuren zu sehen, die sich im Reservat Ankárana so gut in den Baumwipfeln versteckt haben. Diese weltweit einzigartigen Tiere leben nur auf Madagaskar und den vorgelagerten Inseln und gehören zur Gruppe der Feuchtnasenaffen.
Die Fahrt mit dem kleinen Motorboot zu der nahegelegenen Vulkaninsel dauert nur wenige Minuten. Im flachen Meer vor der Insel wird das Boot festgemacht. Wir stapfen durch das Wasser an Land, über den felsigen Sandstrand und barfuß in das lang gezogene Dorf, begleitet von Inselführer Abdou.
"Das Dorf heißt Ampangorina. Hier gibt es 1.200 Einwohner. Und das ist das Hauptdorf von Nosy Komba. Und hier gibt es noch zwölf kleine Dörfer."
Über langen Leinen flattern große Tischdecken und Tücher im Wind. Vor den Häusern entlang der schmalen Gasse werden bunte Kleider, Sonnenhüte und holzgeschnitzte Andenken angeboten. Die Bewohner der viel besuchten Insel leben heute außer von Fischerei und Landwirtschaft hauptsächlich vom Tourismus. Jenseits des Dorfes liegt der Park der Lemuren, wo sich gerade viele italienische Touristen drängen.
Fütterung der Lemuren mit Bananen
Ein junger Guide füttert die Lemuren mit Bananen, bis sie den Touristen auf die Schulter springen und ein aufregendes Foto abgeben. Hier lebt eine besondere Lemurenart, die sich Mohrenmaki nennt. Mit ihren orangefarbenen Augen und den seitlich abstehenden hellen Haaren sehen sie eindrucksvoll-putzig aus.
"Braun sind die Weibchen und schwarz sind die Männchen. Sie waren eingeführt seit Langem und niemand weiß genau, wann, wer und wie. Hier auf der Insel gibt es sechs Gruppen. In der Gruppe von Lemuren sind die Weibchen dominant. Wenn zwei Gruppen sich treffen, nur die Weibchen kämpfen. Ja, und die Männchen warten nur."
In einiger Entfernung leben zwei Riesenschildkröten namens Carolin und Bruto. Auch sie werden mit Bananen gefüttert.
"Zwei Kilo morgens, zwei Kilo nachmittags. Wir besuchen sie jeden Tag. Carolin hat keinen Freund", sagt Abdou, "Bruto keine Freundin. Carolin ist 65, das ist jung. Manche werden 500 Jahre alt. Das Geheimnis ist: mora, mora. Kein Fleisch, kein Fisch, nur Bananen. Und Mango."
"Mora, mora", der Lieblingsspruch der Madagassen, heißt wörtlich übersetzt: "langsam, langsam" oder auch "Immer mit der Ruhe".
Ein Stückchen weiter liegt gut versteckt im Gras eine Riesenschlange:
"Boa-Boa-Boa-Boa Constrictor. Wirklich gut versteckt. Da waren zwei, aber die frisst Lemuren."
Schließlich drängt Abdou zum Aufbruch. Es ist Zeit, zum Boot zurückzukehren, um zu der weiter entfernten Insel Nosy Tanikely zu schippern. Wir ankern an einem langen, weißen, palmengesäumten Sandstrand. In einiger Entfernung sind nur wenige Badegäste zu sehen. Die paradiesische Insel ist seit Urzeiten unbewohnt. Sie gehört zu den kleinsten und jüngsten Nationalparks Madagaskars, größtenteils wegen ihres noch völlig intakten Korallenriffs. Am Strand treffen wir den italienischen Tauchlehrer Michele Imparato, der mit uns zu einer Schnorcheltour aufbrechen wird.
"In diesem ersten und wichtigsten Meerespark leben mittelgroße Geschöpfe wie Thunfische, Barrakudas und einige endemische wie der Drachenfisch, der sehr selten ist. Man muss wissen, wo er lebt. Und man braucht die richtige Tide und Strömung, um ihn zu finden, wenn man taucht. Und dann sieht man alle Fische des Korallenriffs."
Nach ein paar Instruktionen geht unsere kleine Gruppe mit Michele direkt vom Strand aus in das herrlich warme Meer hinein. Schon nach wenigen Schnorchel-Metern sind die Korallengärten zu sehen, in denen sich kleine bunte Fische tummeln.
Schnorcheln durch die Korallenriffe
Seesterne, Seeigel und Seegurken leben zwischen den Verästelungen. Entlang mächtiger Korallenblocks beobachten wir Zackenbarsche und Barrakudas. Eine starke Strömung fließt von der Hauptinsel Nosy Be in südlicher Richtung und bringt eine Menge Plankton mit, die Götterspeise für das maritime Leben. Fischschwärme ziehen vorbei. Und plötzlich sehen wir unter uns eine riesige, bunt gefleckte Meeresschildkröte, dann noch eine zweite, eine dritte, die majestätisch vorbeigleiten, das absolute Highlight der Schnorchelpartie.
Nach diesem Erlebnis sitzen wir noch eine Weile mit Michele am Strand zusammen. Der 47-jährige Italiener berichtet, dass er seit 2010 mit seiner Frau Jennifer auf der Insel Nosy Be lebt und dort eine Tauchschule übernommen hat.
"Wir planen Kurse für Madagassen, um sie als Schnorchel-Guides auszubilden. Bisher kennen sie diese Praxis nicht. Außerdem kümmern wir uns um den Umweltschutz. Wir sammeln Batterien ein, tun sie in Boxen und bitten Gäste, sie mit nach Europa zu nehmen, denn hier gibt es keine Entsorgung. Die Einheimischen haben es nicht gelernt, viele gehen nicht zur Schule und schütten Abfall ins Meer. Andererseits sind die Madagassen sehr ernst zu nehmend, sie respektieren das Meer und auch die Natur."
Bevor wir nach Nosy Be aufbrechen, spazieren wir durch den naturgeschützten Inselwald zum höher gelegenen Leuchtturm hinauf und halten Ausschau nach Tieren. Und tatsächlich entdecken wir auf einem langen waagerechten Ast ein orangegeflecktes Chamäleon mit rollenden Augen. Ein Stückchen weiter turnen dunkelbraune Lemuren im Geäst. Wo der Wald wieder in den Strand mündet, liegen zu Füßen mächtiger Baumstämme Unmengen von Einsiedlerkrebsen im Sand. In einem Blätterberg hockt nahezu unsichtbar eine Schildechse mit gezackter Haut und ist blitzschnell verschwunden.
Wir landen im Hafen von Andoany ganz im Süden von Nosy Be. Es ist die größte Nebeninsel Madagaskars und seit Jahrzehnten das beliebteste Urlaubsparadies des Landes. Während der Hochsaison bringen Chartermaschinen Tausende Touristen aus Italien und Frankreich auf die Insel, meist zu einem Badeurlaub in den luxuriösen Klubhotels an der West- und Südküste. Doch abseits der touristischen Hotspots sind auf Nosy Be geheimnisvolle Plätze zu entdecken.
Anbetung des heiligen Bodhibaumes
Am Cap an der Südspitze, in dem kleinen Dorf Mahatsinjo, steht ein heiliger Bodhibaum, zu dem die Madagassen von weither zum Beten kommen.
Aus Respekt vor den königlichen Ahnen, die im Bodhibaum wohnen, dürfen sich Besucher nur in besonderer Kleidung dem Heiligtum nähern: Frauen in einem über der Brust geknoteten langen Gewand mit einem breiten Schal über der Schulter, Männer in einem weiten Umhang. Bevor wir den heiligen Ort betreten, erklärt unsere junge madagassische Begleiterin Fanja Nirina Lina, deren Gesicht mit den traditionellen weiß-gelben Mustern der Sakalava bemalt ist:
"Man lässt auch die Schuhe hier. Diese Tradition stammt noch aus dem Königreich der Sakalava. Man tritt mit dem rechten Fuß ein, weil die rechte Seite des Körpers das Glück trägt und es auch ein Symbol des Respekts ist."
Dann sind wir im Innern des heiligen Baumes, der so groß ist wie ein Wald.
"Das ist alles ein einziger Baum, mit 5.000 Quadratmetern Oberfläche. Aus den Luftwurzeln haben sich im Kontakt mit dem Boden viele neue Stämme gebildet. Es ist eine Pappelfeige, botanisch "Ficus religiosa". Man nennt den Baum heilig, weil Buddha Gautama unter so einem Baum seine Erleuchtung erlangte."
Auch dieser Baum stamme aus Indien, berichtet Fanja.
"Indische Händler brachten ihn 1836 als Gastgeschenk für die Sakalava-Königin Tsiomeko, die vor dem Krieg der Merina vom Nordwesten Madagaskars nach Nosy Be geflohen war. Tsiomeko war damals erst neun Jahre alt. Sie war die Nichte des Sakalava-Königs, der mit seiner ganzen Familie auf eine andere Insel geflüchtet war. Deshalb wurde sie die Königin von Nosy Be. Es war übrigens genau jene Zeit, als die Sakalava in den Grotten des Reservats Ankárana vor den kriegerischen Merina Schutz gesucht hatten."
Unter dem Blätterdach des riesenhaften Baumes spazieren wir zu der tiefer im Innern gelegenen Opferstätte. Sie ist mit vorhanggroßen roten und weißen Tüchern umrandet, den Farben des Königreiches von Nosy Be.
"Wegen dieses heiligen Platzes kommen die Menschen hierher, um zu beten, um Segnungen zu empfangen und Wünsche zu äußern. Für Wünsche muss man Opfergaben mitbringen – seien es rote und weiße Tücher, sei es Honig, Rum oder auch Geld."
Mögen die Madagassen auch Christen, Hindus oder Moslems sein - sie kommen von der ganzen Insel und sogar vom Festland, um zum heiligen Bodhibaum von Mahatsinjo zu pilgern und die königlichen Ahnen der Sakalava um die Erfüllung ihrer innigsten Wünsche zu bitten: Gesundheit vor allem oder ein Baby oder ein wohlhabender Ehemann. Sie kommen an vier Besuchstagen in der Woche, an den übrigen Tagen jedoch ist es im heiligen Hain so still wie an diesem Dienstag.
Das Leben der jungen Königin Tsiomeko endete tragisch. Als der Krieg ihrem paradiesischen Zufluchtsort immer näher kam, bat die Königin mit ihren Beratern 1840 aus Furcht vor der Herrschaft der Merina um französischen Schutz. Ein Jahr später fiel ganz Nosy Be unter französische Herrschaft - lange vor dem übrigen Madagaskar. Königin Tsiomeko starb 1843 mit 16 Jahren bei der Geburt ihres ersten Kindes.
Wäre es ein Mädchen gewesen, wäre es als Erstgeborene Königin geworden. Doch es war ein Junge, der spätere König der Sakalava. So ist es bei den Sakalava von Madagaskar bis heute geblieben.