Archiv

Madame Nielsen: „Das Monster“
Wildes Spiel mit postmodernen Diskursen

In ihrem neuen Roman „Das Monster“ treibt die Performancekünstlerin Madame Nielsen ein wildes Spiel mit postmodernen Diskursen. Ein junger Europäer gerät in die New Yorker Theaterszene und in einen immer wiederkehrenden Alptraum.

Von Christoph Schröder |
Die Performerin, Schauspielerin und Autorin Madame Nielsen bei der Aufzeichnung der WDR-Talkshow "Kölner Treff"
Vor sieben Jahren wurde die dänische Kunstfigur Madame Nielsen geboren und ihr Roman „Der endlose Sommer“ in seiner deutschen Übersetzung 2017 auch hierzulande zum Erfolg. (Geisler-Fotopress)
Im Herbst 1993 landet ein Mann am Flughafen von New York. Er hat keine Unterkunft, nur sehr wenig Geld in der Hosentasche und einen Rucksack auf dem Rücken. Sonst erfahren wir wenig über ihn, und das wird sich auch im Verlauf des Romans nicht ändern. Der Mann bleibt namenlos; seine Identität ist rätselhaft. Möglicherweise auch für ihn selbst, denn er spricht über sich ausschließlich in der dritten Person.
Vor einigen Wochen, so viel wird preisgegeben, hat der Mann in einer nicht näher benannten europäischen Hauptstadt einen Auftritt des New Yorker Performancekollektivs "The Wooster Group" angeschaut. Die verwirrende Dekonstruktion eines Tschechow-Stücks, in dem die weißen Schauspieler sich in einem postmodernen Zitat die Gesichter schwarz zugeschmiert hatten, faszinierte den Mann derart, dass er am nächsten Tag ein Treffen mit der Regisseurin vereinbarte. Kurz darauf reist er selbst nach New York, um sich als Praktikant, als so genannter Volunteer, der Performancegruppe anzuschließen.
Theater ohne Autor
Bei der "Wooster Group", das ist für das Verständnis von Madame Nielsens Roman wichtig, handelt es sich um eine 1975 unter anderem von dem später auch als Hollywood-Schauspieler berühmt gewordenen Willem Dafoe und seiner Lebensgefährtin Elizabeth LeCompte gegründete Theatergruppe. Sie wird der poststrukturalistischen, Subjekt und Autorenschaft negierenden Strömung der Performancekunst zugeordnet. Für sie prägte der Theaterwisssenschaftler Andrzej Wirth 1987 den Begriff "postdramatisches Theater".
Der Protagonist in "Das Monster" kommt an den Spiel- und Probenort der Gruppe, genannt "The Garage", mit dem Selbstbewusstsein, künstlerische Impulse setzen zu können. Er denkt, er werde tatsächlich erwartet und gebraucht:
"Im Jetlagrausch sah er die kleinste Bewegung, das geringste Zeichen auf der Bühne und wusste sofort, was nicht stimmte oder noch besser gemacht werden könnte, er sah sich als den Erlöser, the missing link zwischen der Avantgarde und den Massen, der mit seiner messianischen Wiederkunft als Star in the U.S. das Unmögliche bewirken würde."
Warhols Serien als böses Omen
Von Beginn an ist "Das Monster" ein Spiel mit unterschiedlichen Realitätsebenen. Da ist zum einen die Stadt selbst, die sich der Protagonist zu Fuß erschließt und die ihm zunächst wie eine Kulisse ihrer selbst, wie eine gut gemachte, aber leicht durchschaubare New-York-Simulation vorkommt. Das soll sich bald ändern.
Zum anderen wird der Mann am Tag nach seiner Ankunft in einen surrealen Alptraum hineingezogen, aus dem es zunächst kein Entrinnen gibt. In seiner Tasche trägt er ein handgeschriebenes Notizbuch, das ihm, so heißt es, eine Dame in Europa übergeben hat. Darin befinden sich Adressen von Gastgebern, die angeblich bereit sind, ihn ohne Komplikationen für eine gewisse Anzahl von Nächten unterzubringen. Als der Mann schließlich unter einer der Nummern einen potentiellen Gastgeber erreicht, wird er für den kommenden späten Abend einbestellt. Das Szenario, das ihn dort erwartet, präfiguriert das weitere Geschehen:
"An der einen Stirnwand hing eine große Reproduktion von Andy Warhols 'Car Crash' aus dem Jahr 1963, mit einem einzelnen Scheinwerfer von schräg oben angestrahlt wie in einem Museum - oder einer Kunstkammer, einem Reliquienschrein, dachte er. Gegenüber, gleichfalls von einem einzelnen Spot angeleuchtet, stand eine Kopie - oder vielleicht war es das Original - des elektrischen Stuhls aus 'Electric Chair', ebenfalls von Warhol, komplett mit Lederriemen, Fußstütze und dem dicken Kabel, das sich von dem rechten Vorderbein des Stuhls durch den glänzend weinroten - oder lavendelfarbenen? - Velours zur Mitte des Raums schlängelte und verschwand."
Allnächtliche Misshandlungsserie
Was Madame Nielsen nun auf ungemein komplexe und nicht minder unheimliche Weise inszeniert, ist ein serielles Erleben, analog zu den seriellen Arbeiten Andy Warhols. Daraus entspringt eine nur ihrer Eigenlogik folgende, den Filmen David Lynchs ähnliche Bilderwelt.
Die Gastgeber des Protagonisten sind ein Zwillingsbruderpaar, der eine im blauen, der andere im rosa Pyjama. In vollendeter Gnadenlosigkeit erlebt der Mann Abend für Abend dasselbe: Ihm werden eine Sprite und Sushi angeboten. Er gerät in einen tranceähnlichen Zustand. Er wird in den elektrischen Stuhl gesetzt und festgeschnallt. Er wird über eine Wendeltreppe nach oben in ein Schlafzimmer getragen und dort von seinen Gastgebern penetriert. Im Anschluss sieht er am Himmel über sich Bilder jenes Tages vorbeiziehen, an dem John F. Kennedy in Dallas ermordet wurde. Am folgenden Morgen kommt er in die leere Küche, in der ein French Toast, ein Glas Orangensaft und eine lauwarme Tasse Kaffee auf ihn warten. Es gibt keine Erklärungen und keinen Ausweg. Das Zeitkontinuum ist ebenso aufgehoben wie die Logik des räumlichen Empfindens in der Wohnung der Zwillingsbrüder.
Absurde Monotonie im Theaterquartier
Der zweite Handlungsstrang ist analog dazu angelegt: In "The Garage", dem Hauptquartier der "Wooster Group" geschieht nichts, das aber stets auf die gleiche Weise: Die Crew bestellt jeden Tag die gleiche Suppe zu Mittag; mal kommt Willem Dafoe vorbei, im Schlepptau seinen kleinen Sohn, der in einer Heidegger-Ausgabe liest. Und noch immer hat der Protagonist das Gefühl, der Zeuge von etwas Großem zu sein, obwohl er eingestehen muss, dass nichts von dem, was in "The Garage" geschieht, Konsequenzen für irgendwen hat.
Das Serielle ist das Organisationsprinzip von Madame Nielsens Roman, der sich mit fortschreitender Lektüre als ein Spiel mit postmodernen und poststrukturalistischen Diskursen und zugleich als eine bösartig-satirische Zuspitzung dieses Spiels entpuppt. Der Erzähler ist weniger autonomes Subjekt als ein in Bildern denkendes Bewusstsein. Eine Theorie, die den Tod des Autors zugunsten des reinen Textes ausgerufen hat, kann einer in ihr eingeschlossenen Figur das Ichsagen nicht gestatten. Es bleibt beim Er.
Abbruch der Dauerschleife
Um aus einem derartig streng getakteten, wenn auch wild wuchernden Erzählmodus herauszukommen, bedarf es einer Veränderung, einer Lücke im ewigen Zeitstrahl. Es sind zunächst mikrofeine Risse, die den festgefügten Tagesablauf des Protagonisten durchziehen, bis schließlich eines Nachts der Alptraum in der Dauerwiederholungsschleife auf eine Weise unterbrochen wird, die hier nicht im Detail verraten werden soll:
"Und er denkt, jetzt ist es geschehen, das ist nicht bloß ein Augenblick, das ist der Anfang von dem Ende, das die ganze Zeit, von dem Augenblick an, als er in der ersten Nacht an der Sprechanlage klingelte - oder dem Abend davor, als er in einer Telefonzelle am Astor Place mit vor Kälte weißem Zeigefinger die letzte Telefonnummernziffer getippt hatte - , immer schon in den Nächten angelegt war, nicht ihr "natürliches", sich rhythmisch wiederholendes Ausklingen im Morgengrauen, sondern das Ende der Körper, der Stadt und der Zeit."
Erlösung durch Auflösung
Von diesem Augenblick an setzt Madame Nielsen der von ihr selbst geschaffenen Kunstwelt den Ekel, das realistische Krepieren, den Zerfall und die Verwandlung von Körpern entgegen. Im Gefängnis eines aus Theorien zusammengefügten künstlichen Raums ereignet sich eine Orgie der Auflösung.
Madame Nielsen hat ein nicht einfach zu lesendes und ein vor allem im zweiten Teil nicht immer leicht erträgliches Buch geschrieben. Dessen ungeachtet verfügt der Roman auch über ungemein komische Szenen, so beispielsweise über einen absurden Dialog zwischen dem Protagonisten und der berühmten Essayistin Susan Sontag im Rahmen einer Performance. Doch auch hinter grotesken Dialogen wie diesen scheint immer Dringlichkeit auf. Wenn die Literatur aus ihren selbstreferenziellen Diskursen herausfindet und Ernst macht, ist ein Buch wie "Das Monster" das Resultat.
Madame Nielsen: "Das Monster"
Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer,
Kiepenheuer & Witsch, Köln, 232 Seiten, 20 Euro