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Madame Nielsen
Ein rauschhafter Sommer im kühlen Norden

Die dänische Performerin, Schauspielerin, Sängerin und Autorin Madame Nielsen bezeichnet sich selbst als pan-europäische Künstlerin. In ihrem Roman "Der endlose Sommer", der jetzt als erstes ihrer Bücher auf Deutsch erschienen ist, erzählt sie von einem paradiesischen Sommer auf einem dänischen Gut.

Von Antje Strubel |
    Ein junges Paar umarmt sich.
    Die dänische Autorin Madame Nielsen beschreibt in "Der endlose Sommer" die leidenschaftliche Verbundenheit einer Gemeinschaft auf einem dänischen Landgut (imago)
    Auf die Idee des Paradieses komme es an, schrieb Tania Blixen einmal über die Wirkmächtigkeit der Kunst, denn wenn eine ansprechende Illusion erschaffen werde, folge die Wirklichkeit von selbst. Diesen Gedanken der großen dänischen Schriftstellerin, dass Kunst die Wirklichkeit erst hervorbringe, greift die gut 80 Jahre jüngere Madame Nielsen auf. Den Erzähler ihres Buches "Der endlose Sommer" treibt die Idee des Paradieses ebenfalls um. Der traumverlorene, liebestrunkene Sommer, den acht Menschen miteinander auf einem weißen Hof im ländlichen Dänemark verbringen, in dem die Gesetze und Regeln des gewöhnlichen Lebens, Vergangenheit und Zukunft außer Kraft gesetzt sind, wird erst im Erzählen auf wunderbare Weise Wirklichkeit. Ob dieser Sommer tatsächlich stattgefunden hat, lässt sich nicht sagen; glaubhaft aber macht ihn dieses schmale, vom Kiepenheuer & Witsch Verlag liebevoll gestaltete Buch.
    "Und wenn diese Geschichte bis jetzt wie ein Traum klingt…, so deshalb, weil das Leben ein Traum ist, ein Traum, aus dem man nie erwacht, und der eines Tages doch plötzlich schon längst vorbei ist – noch aber bist du hier und kannst entweder für den Rest deiner Tage vergessen oder eben, wie ich, aufgeben, was ist, und versuchen, das Verlorene, das einmal war, wiederzufinden, und sei es noch so gering, selbst das, was vielleicht nie wirklich gewesen ist, aber doch zur Geschichte gehört, und im Erzählen heraufzubeschwören, damit es nicht bloß nicht verschwindet, sondern im Gegenteil erst jetzt endlich Wirklichkeit wird und in gewisser Weise wirklicher als alles sonst."
    Im Bann einer übermächtigen Liebe
    Was hier heraufbeschworen wird, ist eine jener entrückten rauschhaften Erfahrungen, in denen der Mensch seine Lebendigkeit spürt, das Leben gewissermaßen zu sich selbst findet. Ein junges Mädchen und ihr Freund, der noch nicht weiß, dass er ein Mädchen ist, die Mutter und die kleinen Brüder des Mädchens, der schlaksige Lars und zwei junge Portugiesen, die als Backpacker auf dem Gut gestrandet sind, bilden die eingeschworene, unbeschwerte Sommergemeinschaft. Die Mutter reitet auf ihrem Lieblingshengst aus, die Brüder toben auf dem Hof, Lars stromert zwischen den Ställen herum, das Mädchen und ihr scheuer Freund entdecken die sinnlichen Schichten ihrer Körper, man backt Brot, trinkt Milch und Wein. Und alle stehen im Bann der übermächtigen, strahlenden Liebe zwischen der Mutter des Mädchens und einem der Portugiesen. Der ist 15 Jahre jünger als die Mutter und Künstler. Dass ausgerechnet ein Künstler diese transformatorische Liebe auslöst, kommt nicht von ungefähr. Die ästhetische Gegenwelt, die Nielsen hier scharf und überstrahlt von den öden, kleinbürgerlichen und teilweise religiösen Hintergründen absetzt, denen die Figuren entstammen und in die sie schließlich zurückkehren, folgt einem der Romantik entlehnten Topos: Der Künstler symbolisiert die Möglichkeit eines freien, grenzenlosen Lebens, er ist der Außenseiter, der Randständige, dessen tiefes Empfinden gesellschaftliche Regeln sprengt. Sein Streben nach Freiheit im künstlerischen Ausdruck drückt sich als Lebensform aus.
    Und so wird auch in Madame Nielsens "Der endlose Sommer" Kunst als subversive Energie verstanden, die in Form des Liebesrauschs und glückseliger Ekstase alles niederbrennt, was sich dem intensiven Erleben an Alltag, Gewohnheiten oder Normen entgegenstellt.
    Das Ende dieses Sommers ist bezeichnenderweise nicht durch sinkende Temperaturen, sondern durch das Einbrechen ökonomischer und sozialer Zwänge markiert. Da Liebe aber erst im Nachhinein zur Sprache findet, erst im Rückblick als Liebesgeschichte erzählbar wird, wie Roland Barthes in seinen "Fragmenten einer Sprache der Liebe" überzeugend zeigte, vermag es die Kunst, dem Rausch Dauer zu verleihen.
    Das Paradies existiert nur im Reich der Illusionen
    "Und jeden Morgen, und jeden Morgen einen Hauch später, so dass der endlose Sommer bebend seinen Lauf beginnt, tritt die Mutter im Gegenlicht des nach Osten gehenden Fensters aus dem Schlafzimmer, ihr langes elfenbeinfarbenes Haar nach hinten gekämmt und zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, mit zerbissenen Lippen und strahlendem Blick, nicht "wild", eher wie toll oder schockiert, doch weder wegen des portugiesischen Jünglings, noch ihretwegen, sondern erschüttert ob der Leidenschaft, dass sie so heftig, verzehrend sein kann… Und wenn sie ihr begegnen, zufällig auf der Treppe, beim Durchqueren der Halle oder in der Küche, schlagen sie die Augen nieder, weil es sonst zu viel, zu überwältigend ist (und gleichzeitig so voller Freude, dass sie Lust haben zu lachen, zu jubeln) und sie weiß es und trägt es, aristokratisch, als wäre nichts geschehen."
    Das Problem mit dem Paradies ist, dass es immer schon verloren war. Es existiert nur im Reich der Illusionen, der Sehnsucht, der Einbildungskraft. Etwas heraufzubeschwören, das es nie gab, läuft, wenn es ungebrochen und mit heiligem Ernst geschieht, Gefahr, ins Kitschige, Quasi-Religiöse und Raunende abzugleiten. So auch hier. Warum beispielsweise die Liebe zwischen der Mutter und dem Portugiesen so jenseits des Möglichen sein soll und alle Schranken sprengt, bleibt offen; der Altersunterschied allein ist es wohl nicht, denn auch wenn sich das Liebeswunder in einem Herrenhaus ereignet, ist das viktorianische Zeitalter lange vorbei. Kräftig auftragende Adjektive vereiteln eher das, was sie evozieren sollen; Lebendiges erstarrt unter einer goldenen Patina. Und die Schilderungen derer, die im Bann dieser Liebe stehen, sind oft so süßlich und quietschig staubend wie ein Baiser, wenn beispielsweise der "hübsche, scheue Junge mit den feinen Zügen und den großen Augen", seine Hand auf die "feuchte, nachgiebige Haut" des "dunklen runden sanften Mädchens mit den schmalen Knochen und den vollen, weichen Brüsten" legt.
    Schöne und komische Momente
    Aber es gibt auch schöne und komische Momente, etwa wenn Mads, der Verrückte, mit dem die Mutter lange vor dem Portugiesen zusammen war, die Familie wie in einem schlechten Schauerstück aus Eifersucht im Salon einsperrt und vergeblich versucht, von der Mutter ein Geständnis zu erpressen, um schließlich einsam mit seinem Jagdgewehr durchs dunkle Haus zu pirschen. Und wie sich eine Geschichte aus der anderen spinnt und die Sätze in einem tranceartigen Rhythmus die Biografien der Figur miteinander verflechten, das Erzählen vor- und zurückgreift in der Zeit, um dann übergangslos zum Kern, in die Gegenwart auf dem weißen Hof zurückzuführen; das ist kunstvoll komponiert und veranschaulicht ein Urbild des Erzählens: Die Fäden dürfen nicht abreißen, denn am Ende des Erzählens steht der Tod. So sind einige der Figuren nicht zufällig Todgeweihte; der Vater des Mädchens stirbt an Nierenversagen, der schlaksige Lars an Aids.
    "Er liegt oder schwebt wie schwerelos in einem Gespinst durchsichtiger Schläuche und Kabel, die mit Kanülen, Pflastern und Manschetten an seiner Haut befestigt sind, und, am anderen Ende, blinkende Apparate und Beutel mit Flüssigkeiten und Blut, die von glänzenden Metallständern hängen, der wohlgestaltete Körper mit den schönen Händen verwandelt in ein paar Dutzend Knochen, die in wackeligem Muster auf einem weißen Tuch ausgelegt sind…es ist, wie es ist, ecce homo, hier bin ich, mein eigenes Werk."
    Das Aufregendste an diesem Buch ist die Erzählweise
    Das Aufregendste an diesem Buch ist seine Erzählweise. Es wird aus der Draufsicht erzählt, in der die Figuren von der Geburt bis zu ihrem Tod im Blick behalten werden. Der scheue Junge, der noch nicht weiß, dass er ein Mädchen ist, erzählt seine eigene Geschichte ganz gegenwärtig und zugleich im Rückblick, als er längst eine dünne, "spinnwebwehende", alte Frau ist, die "Jahrzehnte später den ‚weißen Hof‘ als mythischen Ort" erschafft und unverkennbar das Alter-Ego der tatsächlich spinnwebdünnen Autorin ist, die mal ein Junge war. Die Doppelfigur von Erzähler/Erzählerin, die zugleich Junge und alte Frau ist, spiegelt sich in einer erzählten Zeit, die Gegenwärtiges und Vergangenheit in eine Gleichzeitigkeit holt.
    "Und hier, in diesem schlaflosen Dunkel, verschwimmen die Zeiten und Ereignisse ineinander, er ist gleichzeitig der scheue, schmale Junge, der sich durch das schlafende Haus vorantastet, und die alte Frau, die Jahrzehnte später kraft ihrer Erzählung den "weißen Hof" als mythischen Ort aus all dem erschafft, was ein für alle Mal verloren ist, ihn in der Sprache mit all ihren sieben Sinnen aus dem Dunkel der Erinnerung hervortastet."
    Androgyne Charaktere, die vom paradiesischen Zustand des Vorgeschlechtlichen erzählen, kennt man ebenfalls aus der Romantik. Madame Nielsens Doppelfigur von Junge und Frau spricht von einer Offenheit des Körpers, die interessanterweise auch das Alter mit einbezieht. Geschlecht betrachtet Nielsen nicht als etwas Gesichertes, sondern als etwas, das für kürzere oder längere Zeit Form annimmt, aber nie lange genug, um stabil zu werden. Beim nächsten Auftauchen, schrieb sie in einem Essay, könne es wieder anders sein, ein bisschen anders oder vollkommen anders. Im Dänischen ähnelt das Wort für Geschlecht dem Wort "schön".
    Abweichung als magisches Potenzial
    Für Nielsen ist der Mensch nicht Mann oder Frau, sondern schön, und diese Offenheit des Körpers entspricht der Offenheit ihres Erzählens, das immer wieder und immer anders beginnen kann und dessen Voraussetzung die weiße Seite ist, oder eben ein nicht alters- oder geschlechtsmäßig festgeschriebener Mensch. Man könnte Nielsen als die postmoderne Romantikerin innerhalb eines literarischen Trends in Skandinavien bezeichnen, der hin zu Figuren geht, die von der Norm abweichen. In dieser Abweichung wird ein geradezu magisches Potenzial gesehen, ein Potenzial, das das Ich aus rigiden Identitätspolitiken zu befreien vermag, insbesondere denen von Körper, Geschlecht und Sexualität. Eine solche Befreiung führt direkt in "Den endlosen Sommer", den Hannes Langendörfer wunderbar ins Deutsche gebracht hat, der kein Ende hat, weil er immer wieder beginnen kann, und das macht das Bezaubernde dieses schmalen Romans aus.
    "Letzten Endes sind der portugiesische Jüngling und seine strahlende, aristokratische Ehefrau… die Einzigen…., die ernsthaft begreifen, dass der ‚endlose Sommer‘ jetzt vorbei ist. Als ein ganz gewöhnlicher südeuropäischer Mann und eine etwas ältere, leicht abgemagerte, aber nach wie vor ranke, würdevolle Frau werden sie… sich voneinander trennen, und er wird seine Sachen packen und mit dem Namen, den er ihr im Wahn der Erzählung als Namen für ‚den endlosen Sommer‘ gegeben hatte, zurück nach Lissabon reisen und dort sein Leben weiterleben, als wäre in der Zwischenzeit nichts geschehen. Und doch: Sie trennen sich, um sich nie zu trennen…. Und jedes Mal, wenn im Leben des einen etwas Schreckliches passiert, oder wenn im Gegenteil schon zu lange eben nichts passiert ist…, mitten in der Nacht, wenn sie jeder für sich an je einem Ende des Kontinents im Dunkel neben einem neuen, plötzlich wildfremden anderen liegen, werden er oder sie sich leise aus dem Bett stehlen, den Hörer abheben und mit zitternden Händen den anderen anrufen."
    Madame Nielsen: "Der endlose Sommer", Kiepenheuer&Witsch, 2018, 192 Seiten, 18 Euro