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Madame Nielsen: "Lamento"
Wilder Wirbel des Begehrens

Mit ihrem fulminanten Roman „Der endlose Sommer“ wurde Madame Nielsen vor vier Jahren bei uns bekannt. Auch ihr neuester Roman, „Lamento“, erzählt vom Begehren - und vom gescheiterten Versuch, es in Liebe zu verwandeln.

Von Meike Feßmann |
Ein Portrait von Madame Nielsen und das Cover "Lamento"
"Lamento" - Madame Nielsens großer Klagegesang (Cover Kiepenheuer & Witsch / Autorenportrait Imago Reiner Unkel)
Ein einziger Rausch, wilde Wirbel des Begehrens, die als fulminanter Strom aus der Sprache selbst zu entstehen scheinen - so präsentierte sich Madame Nielsen mit „Der endlose Sommer“ vor vier Jahren auf dem deutschen Buchmarkt. Ein Roman der Sehnsüchte und Nostalgien, zeitlos wirkend und doch in der Zeit situiert, in der das Freiheitsversprechen der westlichen Hemisphäre in den 1980er-Jahren umschlug. Noch waren die Träume von sexueller Befreiung allgegenwärtig, wenn auch bereits verdunkelt von apokalyptischen Ängsten vor atomaren Katastrophen und der AIDS-Pandemie.
„Ein Requiem“, lautete der Untertitel des „endlosen Sommers“. Der neueste Roman von Madame Nielsen heißt „Lamento“, ist also wieder musikalisch grundiert. Anders als der letzte Roman, „Das Monster“, der von ihren New Yorker Jahren erzählte, von der legendären Wooster Group und allen, die dort aufschlugen: von Susan Sontag über Laurie Anderson und David Byrne bis John Lurie. „Stranger than Paradise“, Jim Jarmuschs Film mit seinen emblematischen Bildern lässigen Stillstands, war eine Luftbrücke der besonderen Art zwischen New York und West-Berlin: ein Atmosphären-Korridor, der das Lebensgefühl der Achtziger Jahre prägte.

Madame Nielsen erzählt vom sexuellen Begehren

Vom sexuellen Begehren erzählt Madame Nielsen auch in „Lamento“, tatsächlich ein Klagegesang. Er trauert nicht um das verlorene Begehren oder die verlorene Jugend. Er trauert um den verpassten Übergang: An dem die Verliebtheit mit ihrer sexuellen Obsession, mit ihrem Exzess und dem Wunsch nach dem Stillstand der Zeit in etwas übergeht, das man vielleicht „Liebe“ nennen kann.
Die Ich-Erzählerin adressiert ihre Geschichte einer gescheiterten Liebe, alles ist „über zwanzig Jahre her“, an das gemeinsame Kind. Sie setzt Bilder auf die Nahtstelle zwischen Realität und Traum. Nach der Hochzeit in Kopenhagen reist das dänische Paar, die Erzählerin und ihr damaliger Mann, in die Provence. In der Wohnung einer französischen Freundin löst es einen katastrophalen Brand aus.
„Komm, sagte er und nahm zum letzten Mal meine Hand, öffnete die Wohnungstür und zog mich rücklings ins Treppenhaus. Wir krochen zusammen ein paar Stufen tiefer und lagen dort und sahen durch die offenen Türen ins Feuer, das brüllte wie ein großes Tier und unsere Gesichter versengte und die Augäpfel austrocknete, und sie, Sabine, eine noch junge Frau, sie war erst Anfang dreißig, die jammernd (es klang nach Wiegenlied, nach Gebet) wie in Trance mit vorgestreckten Händen in den Flammen verschwand und versuchte, Erbstücke zu retten, (...) bald war sie nur ein schmächtiger, in den Flammen umherirrender Schatten, eine schwache Stimme, jetzt nur ein Wimmern, dann war sie weg.“

Bühnenbild einer antiken Tragödie

Die vernichtende Kraft des Begehrens ist in diesem Höllen-Szenario eines tragischen Unglücks eingefangen. Sein Wirklichkeitsstatus wird im Verlauf des Romans surrealer, wie das Bühnenbild einer antiken Tragödie oder wie eine Reprise der berühmten Szene aus Andrei Tarkowkis letztem Film „Opfer“, in dem er ein Holzhaus abbrennen ließ. Aus der Perspektive der Erzählerin, beide sind Schriftsteller, lag es an ihm, dem schmalen Mann, der sich immer mehr verzehrte, dass ihnen der Übergang in den Familienalltag nicht geglückt ist. Spätestens mit den Schmerzen der Geburt fühlt sie sich alleingelassen. Das Geräusch der sich schließenden Tür, wenn er sich zur Arbeit zurückzieht, ist einer der Klänge, die den Rhythmus ihres Klagelieds bestimmen.
„Ich stand früh auf, machte Kaffee und trug die orangefarbene Thermoskanne und eine von den blauen Schalen mit Müsli und Milch an meinen Schreibtisch und ließ die Tür zum Flur angelehnt. Ein paar Stunden später stand er auf, lief eine Runde unten im Park (...). Wenn er dann endlich über den langen Flur in sein Zimmer verschwand, war mein Arbeitstag schon vorbei (...). Er machte die Tür hinter sich zu und saß fast den ganzen Nachmittag drinnen, erst gegen Abend kam er raus, nicht leer und belebt wie ich, eher erschöpft, zermartert, und der Tag war beinah vorbei.“

Claus im Kleid der Mutter

Madame Nielsen, 1963 als Claus Beck-Nielsen geboren, erzählt gelegentlich, wie sich die Verwandlung zur Frau abgespielt habe. Eines Tages, lange nach der Trennung, habe sie ein Kleid der Mutter ihres Sohnes anprobiert - und sich sofort viel schöner gefühlt. Sie verkörpere eine „Öffnung ins Ungewisse“, die Möglichkeit ständiger Verwandlung. „Lamento“ ist der eindrückliche Klagegesang einer gescheiterten Liebe. „Il n’y a pas d’amour“, beginnt das dem Roman vorangestellte Gedicht mit einem Zitat von Bernard-Marie Koltès, um mit einer Fassbinder-Anspielung das Gegenteil zu behaupten: „es gibt eine Liebe, die essen Seele auf / es gibt eine Liebe / ruhig und maulwurfgemächlich“. Sie komme erst, wenn man „durchs Feuer des Verliebtseins gegangen ist“, nach Jahren des „Hasses“ und der „Resignation“. Gut möglich, dass es sich dabei um eine Form der Selbstliebe handelt.
Madame Nielsen: "Lamento".
Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 200 Seiten, 20 Euro.