Im ersten Teil der Miniserie zum Themenbereich "Natur, Kultur, Geschlecht" hat Barbara Sichtermann untersucht, wie sich die unterschiedlichen Feminismen zur Natur positionieren: zu einer festen Anlage, die je nach Geschlecht spezifisch ausfällt. Barbara Sichtermann plädiert für die Emanzipation und dafür, alle Geschlechter zu wertschätzen und gleichzeitig doch ihre Unterschiede anzuerkennen, von denen sie meint, die seien von Geburt an relativ stark durch die Biologie festgelegt.
Wie sieht das im Diskurs über Männer nun aus? Dazu im Gespräch Michael Meuser, einer profiliertesten Männerforscher Deutschlands und Professor für die Soziologie der Geschlechterverhältnisse an der Technischen Universität Dortmund.
Etwa 19 Prozent moderne Männer
Pascal Fischer: Herr Professor Meuser! Wie viele von diesen emanzipierten und neuen Männern gibt es denn überhaupt in Deutschland? Lässt sich das irgendwie sagen?
Michael Meuser: Das ist eine nicht so einfach zu beantwortende Frage, weil man zunächst mal sich darüber verständigen müsste: Was heißt "emanzipierter Mann"? Je nachdem, welche Perspektive man anlegt, kommt man zu ganz unterschiedlichen Zahlen. Es gibt vielleicht, um das zu Beginn zu sagen, eine im Jahre 2009 publizierte Studie von zwei Sozialforschern, Rainer Volz und Paul Zulehner. Die haben damals herausgefunden in ihrer Untersuchung, - sie nannten diese Männer "moderne Männer" -, und der Anteil war bei ihnen beziffert bei 19 Prozent. Moderne Männer, das wurde ermittelt dadurch, dass zum Beispiel gefragt wurde, wie die Befragten zur Arbeitsteilung in Partnerschaft und Familie, zur Gleichverteilung von Berufstätigkeit und Kinderbetreuung und Haushaltstätigkeit auf Mann und Frau stehen. Wer sich da positiv geäußert hatte, der wurde eher dem Typus des modernen Mannes zugeordnet.
Fischer: Aber wenn ich Sie da richtig verstehe, 19 Prozent ist jetzt noch nicht die Mehrheit, und es geht da um Einstellungen.
Meuser: Es geht um Einstellungen.
Fischer: Also um ein Selbstbild, aber die Praxis kann doch mal anders aussehen.
Vätern, die in Elternzeit gehen
Meuser: Die Praxis kann anders aussehen. Es gibt aber auch andere. Das ist immer ganz schwierig, was da genau gefragt wird und wie dann in der Auswertung eine Zuordnung vorgenommen wird. Es geht dann bei Zulehner und Volz nicht nur um die modernen, um die traditionsverhafteten Männer, es gibt da auch Typen, die dazwischen liegen. Das ist dann immer die Frage der Einschätzung: Was heißt modern? Es gibt im Datenreport, der in regelmäßigen Abständen vom Statistischen Bundesamt veröffentlich wird, auch immer eine Auswertung dazu, wie hoch der Anteil von egalitären Äußerungen zur Rollenverteilung aussieht, und da bewegen sich die Werte für die Männer, die Zustimmungswerte für egalitäre Arrangements zwischen Mann und Frau zwischen 70 und 75, 80 Prozent, noch mal differenziert nach westdeutschen Bundesländern und ostdeutschen Bundesländern. Ich halte das also deswegen für schwierig zu sagen: Wir haben so und so viel Prozent emanzipierte Männer in Deutschland. Wenn man auf die Frage schaut, wie sieht es aus im Alltag des Berufslebens, im Alltag von Partnerschaft und Familie, dann hat man da auch mittlerweile eine ganz gute Datengrundlage. Etwa kann man sehen, dass seit 2007, nachdem das Bundeselternzeit- beziehungsweise Bundeselterngeldgesetz eingeführt wurde, der Anteil von Vätern, die in Elternzeit gehen, angestiegen ist von Werten um drei Prozent im Jahre 2006 auf gegenwärtig 36 oder 37 Prozent. Das könnte man als Indikator dafür nehmen, dass es eine starke Veränderung gegeben hat.
Fischer: Aber wohlgemerkt, wahrscheinlich gehen die meisten Männer eher nur die zwei Monate in Elternzeit?
Meuser: Genau, und wenn man dann darauf schaut, wie viele Monate werden von den Männern in Anspruch genommen, dann sind es knapp 80 Prozent, die die zwei Monate in Anspruch nehmen und nicht mehr, was ja möglich wäre. Also man hat ein Bild, das man vielleicht so beschreiben kann: Es ist Bewegung reingekommen in das Geschlechterverhältnis, und auch außerhalb der Frage, wie viel Väter gehen in Elternzeit, kann man sagen, dass die Beteiligung von Vätern an Aufgaben der Kinderbetreuung im Laufe der letzten Jahrzehnte größer geworden ist.
Fischer: Sie führen ja auch qualitative Interviews mit Paaren.
Meuser: Ja.
"Maternal gatekeeping"
Fischer: Was sagen die Ihnen denn dann, wie sie konkret aushandeln, wer zum Beispiel wieviel macht in der Familie?
Meuser: Es ist interessanterweise so, dass bei vielen Paaren gar nicht eine explizite Aushandlung stattfindet, sondern es ist ein alltägliches Arrangement, das sich einspielt. Das weiß man aus Studien. Und es wird auch in den eigenen Untersuchungen deutlich: Selbst da, wo die Partner explizit ein egalitäres Arrangement anstreben in ihrer Partnerschaft, zeigt sich sehr häufig, dass es in der alltäglichen Praxis dann doch nicht realisiert wird oder nicht in dem Maße realisiert wird, wie das von beiden Partnern gewünscht wird.
Fischer: Ich habe bei Ihnen gelesen in einem Aufsatz von diesem interessanten Phänomen des "maternal gatekeeping". Damit ist so ein bisschen gemeint: Ja, vielleicht wollen die beiden gleichberechtigt erziehen, aber dann gibt es doch Situationen, in denen die Frau sagt, nein, ich mache das mal, ich kann das besser. Der Mann ist vielleicht so ein bisschen zum Erzieher-Trainee degradiert, zieht sich am Ende zurück. Wie funktioniert das konkret in Beziehungen, dieses maternal gatekeeping? Ist das auch so etwas, was eher unbewusst abläuft?
Meuser: Das läuft überwiegend nicht intentional ab. In der Mehrzahl der Fälle sieht es so aus, dass es einfach eingeschliffene Praktiken sind, die dann in Situationen, wo schnell gehandelt werden muss, dazu führen, dass die Mutter die Initiative ergreift. Zum Beispiel: Das Baby schreit, und die spontane Reaktion der Mutter ist dann schneller etwa als die spontane Reaktion des Vaters. Dadurch ist dann wieder die Mutter in der Position derjenigen, die primär zuständig ist für die Kinderbetreuung in solchen Konstellationen etwa.
Über lange Zeit eingeschliffene Praxis
Fischer: Aber wenn ich Sie da unterbrechen darf, in unserer letzten Ausgabe, da hat Barbara Sichtermann das ein bisschen ausgeführt, historisiert, und die Männer haben früher einst die Frauen kleingehalten, indem sie gesagt haben: "Erziehung, das ist in der Natur des Weibes". Was Sie beschreiben, klingt ja fast so, als würden die Frauen irgendwo tief im Innern dann doch sagen: "Ja, es liegt in unserer Natur, besser erziehen zu können". Das wäre ja ein Rückschritt.
Meuser: Also ich denke nicht, dass das so erklärt werden muss, dass es in der weiblichen Natur liegt, sondern es ist eine über lange historische Zeiträume eingeschliffene Praxis, eingeschliffene Routine. Wenn man historisch zurückschaut, da gibt es ganz interessante Studien von Historikern und Historikerinnen, die zeigen, dass etwa bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in dem bürgerlichen Haushalt der Vater sich auch zuständig sah für die Erziehungsaufgaben und es dann im Zuge der Entwicklung der industriellen Gesellschaft im 19. Jahrhundert und im Zuge der zunehmenden Trennung der Sphären von Beruf und Familie, auch der räumlichen Trennung der Sphären von Beruf und Familie, die Erziehungsaufgaben immer mehr in die Hand der Mutter gegeben wurden und der Vater sich gewissermaßen selber auch in eine marginale Position zurückgezogen hat, der das Familiengeschehen mehr von außen beobachtet, als selbst aktiv daran teilzunehmen. Dadurch sind natürlich Verhaltensmuster entstanden, die von Generation zu Generation auch weitergegeben worden sind und die diese Haltungen dann bedingen, dass eine primäre Zuständigkeit für die Kinderbetreuung den Frauen zugeschrieben wurde und dann aber auch in das Selbstbild einer großen Zahl von Frauen eingegangen ist, wie auch in die Erwartungshaltungen der Mehrzahl der Männer eingegangen ist.
Geschlechtstypische Unterschiede in der Kinderbetreuung
Fischer: Wie sieht das eigentlich mit den Erziehungsstilen der Männer aus? Ich frage Sie jetzt weniger so, als seien Sie ein Pädagoge, sondern als Soziologen, der Sie sind. Da behaupten ja, ich sage mal, die Evolutionsfans hier in der Debatte: Männer sind da anders, die sind eher auf Aggression, auf Wettbewerb gepolt, und die erziehen vielleicht ihre Kinder, insbesondere die Jungen, auch eher dahingehend, dass die mit denen Wettbewerbsspiele machen, während Frauen vielleicht eher so dieses Kompromissbereite, Schöne und so weiter – wir driften da fast schon in die Klischees ab – bevorzugen. Was würden Sie da sagen?
Meuser: Also es gibt Studien, die zeigen, dass Väter sich eher mit älteren Kindern befassen als mit kleinen Kindern und dass sie sich auch eher mit den Söhnen befassen als mit den Töchtern. Dann zeigt es sich auch, zumindest in älteren Studien, die es dazu gibt – ältere Studien heißt aus den 80er- oder 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts –, dass Väter, wenn sie sich in der Kinderbetreuung engagieren, eher dazu tendieren, mit den Kindern zu spielen oder etwas zu unternehmen und weniger sich engagieren in den Tätigkeiten wie das Kind baden, waschen, Windeln wechseln und diese Dinge. Gerade was diesen Bereich der Pflege des Kleinkindes betrifft, hat sich da durchaus etwas verändert, eine stärkere Väterbeteiligung in diesem Bereich auch wahrzunehmen. Gleichwohl kann man sagen, da gibt es durchaus geschlechtstypische Unterschiede in der Kinderbetreuung.
Karriere und Kinderbetreuung nur schwer zu vereinbaren
Fischer: Wenn wir jetzt noch mal einen Schritt zurückgehen, Erziehung von Kindern ist ja etwas, was wahnwitzig zeitintensiv ist und was wahrscheinlich immer den Effekt hat, dass man in der Arbeitswelt nicht so erfolgreich sein kann. Jetzt gibt es Menschen, die sagen, ja, die Frauen wollen das. Das ist ja eine ziemlich böse Unterstellung, die aber immer durch diese Diskussion wabert. Susan Pinker, die zitiert wurde in unserem letzten "Essay", die meint, Frauen achten einfach mehr auf eine Work-Life-Balance und sind vielleicht nicht so interessiert an Spitzenpositionen im Job, die dann auch extreme Kämpfe erfordern. Was würden Sie dazu sagen? Lässt sich so etwas belegen?
Meuser: Also, was man zunächst mal ganz klar sagen kann, wer die primäre Zuständigkeit hat für die Kinderbetreuung, der oder die kann sich nicht im gleichen Maße auf die berufliche Karriere konzentrieren wie derjenige, der diese Zuständigkeit nicht hat. Also das ist schon mal ganz klar. Das ganze traditionelle Geschlechterarrangement basiert ja geradezu darauf, dass durch die klassische Arbeitsteilung in der Familie, es den Männern ermöglicht ist, sich voll auf den Beruf zu konzentrieren und die Karriere in die erste Rangposition zu bringen bei ihrer Orientierung. Also die faktisch immer noch gegebene Hauptzuständigkeit der Frauen oder der Mütter für die Kinderbetreuung bedingt, dass sie weniger Zeit haben, die sie investieren könnten in Beruf und Karriere. Also das ist zunächst einmal die faktische Grundlage. Wir können sicherlich auch sagen, dass unser Geschlechterverhältnis, aber auch unsere Arbeitswelt immer noch so strukturiert ist, dass eine Vereinbarung von beruflicher Karriere und Kinderbetreuung nur äußerst schwer zu realisieren ist, und dass es den Individuen, die dies versuchen, sehr viel abverlangt, vor allen Dingen auch ein hohes Maß an Organisation, an Strukturiertheit des gesamten Alltages abverlangt, sodass dann nicht nur der berufliche Alltag durchrationalisiert und durchstrukturiert ist, sondern auch im wachsenden Maße der familiale Alltag so durchstrukturiert werden muss, damit gleichzeitig berufliche Karriere verfolgt werden kann und die familiären Verpflichtungen nicht zu kurz kommen.
Erhebliche Widerstände gegen mehr als zwei Papamonate
Fischer: Wie sehr müssen wir da eigentlich auf Individuen schauen und wie sehr auf Geschlechteridentitäten? Ich versuche mal einen ganz, ganz großen Bogen zu spannen. Vor 30 Jahren ist Judith Butlers Buch, das berühmte Buch "Gender Trouble" erschienen: "Das Unbehagen der Geschlechter" zu Deutsch. Und das ist im Grunde ein Standardwerk der Genderforschung. Eine der starken Thesen darin war, dass es unendlich viele Geschlechter gebe, genauer gesagt sozusagen Rollen, Rollenvorstellungen, Vorstellungen von Identitäten und wie wir die ausfüllen könnten. Vielleicht könnte man daraus auch lernen, dass es gar nicht so wichtig ist, zu wissen, was ist jetzt ein Mann, was ist ein klassischer Mann, was ist eine klassische Frau. Vielleicht müssen wir ein bisschen granularer darauf gucken, wer hat welche Bedürfnisse, wer hat welche Belastungen, und könnte man dahingehend nicht auch in jedem Paar einzeln schauen, wer braucht was, wie handelt jedes Paar einzeln aus, wer welche Belastungen bekommt?
Meuser: Das wäre gewissermaßen ein ideales Modell, aber wenn man sich anschaut, wie etwa die Erwerbsarbeit, die Welt der Erwerbsarbeit ausschaut, da wird immer noch sehr stark nach Geschlecht kategorisiert und zugeschrieben. Es ist immer noch so, dass im Erwerbsfeld, in der Wirtschaft, aber auch in den Institutionen des öffentlichen Dienstes davon ausgegangen wird, dass Männer für die Belange des Berufes verfügbar sind, dass sie nicht belastet sind durch Verpflichtungen im Kontext der Familie, und diese Zuschreibung wird nicht in gleichem Maße an berufstätige Frauen gerichtet wie an berufstätige Männer. Nehmen wir noch mal den Punkt Inanspruchnahme von Elternzeit. Was inzwischen den Vätern seitens der Arbeitgeber zugestanden wird und in immer stärkerem Maße zugestanden wird, ist, dass sie die zwei Monate Elternzeit in Anspruch nehmen, die ja dann auch oftmals, aber nicht ganz korrekt, als sogenannte Papamonate bezeichnet werden. Wenn sie mehr als zwei Monate in Anspruch nehmen wollen, was ihnen von der Gesetzeslage ja unbenommen ist, - sie können ja auch bis zu zwölf Monate in Anspruch nehmen -, dann erzeugt das erhebliche Widerstände. Wenn Mütter sagen, ich gehe für zehn Monate oder für zwölf Monate in Elternzeit, dann mag das auch vom Arbeitgeber als eine organisatorische Herausforderung wahrgenommen werden, aber es wird gewissermaßen als das "natürliche" Recht der Mutter betrachtet, die Elternzeit zu nehmen, um sie für die Kinderbetreuung auch aufwenden zu können.
Geschlechterforschung entstand aus Frauenforschung
Fischer: Das heißt, diese Ausgestaltung von Identitäten, von Geschlechteridentitäten, ist am Ende vielleicht doch noch sehr traditionell in Deutschland oder im Westen. Was würden Sie denn sagen: Die drastische These, dass es 60 oder auch unendlich viele Geschlechter gibt, ist das etwas, das die Mehrheit interessiert, das bei der Mehrheit angekommen ist? Denn es ist ja immer ein bisschen die Kritik an der Genderforschung, das ist so eine Soziologie, die ist an Minderheiten entwickelt worden, und das ist am Ende viel zu akademisch und ist niemals angekommen im Mainstream.
Meuser: Ich glaube, da liegt auch ein gewisses Missverständnis dessen vor, was Genderforschung ist. Also Gender- und Geschlechterforschung, eine Soziologie der Geschlechterverhältnisse oder auch eine Forschung zu Geschlechterverhältnisse in anderen Wissenschaftsdisziplinen, in der Geschichtswissenschaft, in der Erziehungswissenschaft, gibt es schon seit längerer Zeit, bevor diese Idee von einer Pluralität von Geschlechtern aufgekommen ist. Die Geschlechterforschung hat sich sehr stark befasst etwa mit der Frage von Ungleichheit zwischen Mann und Frau. Also wenn man schaut, wie ist die Geschlechterforschung entstanden, dann ist sie entstanden aus der Frauenforschung heraus. Die Women's Studies haben sich zunächst mal damit befasst, wie die Ungleichheiten zwischen Mann und Frau sind, und wie sich diese Ungleichheiten auch möglicherweise abbauen lassen. Der Fokus hat sich dann erweitert, dass nicht nur die weibliche Seite des Geschlechterverhältnisses in den Blick genommen wurde, sondern auch die männliche Seite. In diesem ganzen Kontext gibt es dann auch diese Erweiterung, die vor allen Dingen aus den Queer Studies kommt, die gerade nach der Vielfalt unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten fragt, jenseits dieses zweigeschlechtlichen Kategoriensystems.
Aber das ist nur ein Teil der Geschlechterforschung und repräsentiert nicht die Geschlechterforschung in ihrer Gänze. Ihre Frage, ob das im Alltag ankommt, ich denke, das zeigt sich auch in den eigenen Untersuchungen, dass die alltägliche Wahrnehmung weiterhin sehr stark geprägt ist davon, dass es zwei Geschlechter gibt. Was sich aber verändert hat, ist eine breitere Akzeptanz von Lebensentwürfen, die nicht diesen starren zweigeschlechtlichen Identitätsmustern oder Identitätsvorschriften folgen. Also da ist eine gewisse Öffnung, eine Akzeptanz zu sehen, was sich ja letztendlich auch widerspiegelt in institutionell rechtlichen Veränderungen. Das, denke ich, wahrscheinlich prägnanteste Beispiel ist das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum dritten Geschlecht, was ja dann auch zu einer entsprechenden Gesetzesänderung geführt hat. Aber in den alltäglichen Lebenszusammenhängen denken die meisten Menschen immer noch in Kategorien von Mann und Frau, wobei dann aber zugestanden wird, dass es nicht nur eine Form des Mannseins gibt und nicht nur eine Form des Frauseins gibt.
Mit der Genderdiskussion ist auch Verunsicherungen verbunden
Fischer: Jetzt gibt es ja trotzdem eine Vielzahl von, wie soll man sagen, martialischen, aggressiven oder auch wütenden Männerbewegungen. Es gibt Maskulisten, es gibt die Incel-Bewegung, jene, die meinen, drastisch interpretiert, sie würden ungewollt in ein Zölibat gedrängt und die Ehe oder gar Pflichtverheiratung von Frauen könnte da eine Lösung sein. Es gibt den lautstarken Sexismus des US-Präsidenten, der öffentlich Gehört findet. Es gibt Pickup-Artists, die Frauen mit Psychotricks ins Bett locken wollen. Es gibt viele Thesen, die diskutiert werden, die scheinen alle ein bisschen auf der Evolutionstheorie zu basieren. Es gibt dezidierte Gegner der Genderwissenschaften. Da wird dann von Genderdiktatur, von Gender-Gaga, von Staatsfeminismus geredet. All das ist ja jetzt nicht gerade progressiv oder frauenfreundlich. Woher kommt das? War das immer schon da, oder begehrt da jetzt eine sehr laute, wütende, benachteiligte Minderheit auf?
Meuser: Also ich würde gar nicht von Bewegungen sprechen. Also es sind nicht im klassischen Sinne soziale Bewegungen, um die es da geht, aber man muss schauen, welche Präsenz solche Formen haben in der medialen Präsentation auf der einen Seite und in alltäglichen Lebenszusammenhängen auf der anderen Seite. Ich denke, es gibt sie, das ist ganz klar, aber es gibt sie nicht im Sinne einer Männerbewegung, die vergleichbar wäre etwa mit der Frauenbewegung, also auch, was die quantitative Dimension betrifft, die Wirkung betrifft. Allerdings – und das ist ein ganz entscheidender Punkt –, es gibt diese Gegenbewegungen, so könnte man es vielleicht zusammenfassen, die sich richten gegen die Öffnungstendenzen, Pluralisierungstendenzen, die mit den vorhin auch gerade besprochenen Diskussionen und Fragen zusammenhängen. Solche Gegenbewegungen sind auch nicht etwas, was letztlich überraschend ist, sondern man muss ja ganz deutlich sehen, dass mit dieser Genderdiskussion, dass damit auch Verunsicherungen verbunden sind.
Männer sehen Umbruchssituation auch als Chance
Solange man im traditionellen Geschlechterarrangement lebt, das als fraglos gegeben vorausgesetzt und anerkannt wird, hat man ein hohes Maß an Sicherheit in seinen Verhaltensroutinen. Sobald dieses traditionelle Arrangement infrage gestellt wird – das muss gar nicht sein, dass es jetzt in Richtung 60 Geschlechter geht oder Geschlechtsidentitäten geht –, sondern allein schon der entscheidende Punkt, dass die Frage der traditionellen Arrangements der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau zunehmend in Frage stehen und dass dadurch die traditionelle Position des Mannes in Frage steht, dass sie herausgefordert ist, das erzeugt natürlich auch durchaus Unsicherheiten. Es ist aber auch so: Viele sehen es als eine Chance. Also viele Männer sehen es auch als eine Chance, aus diesen traditionellen Bahnen und Vorgaben, und sie sehen die Möglichkeit für sich, ihre geschlechtliche Identität nicht mehr nur allein auf den beruflichen Erfolg zu konzentrieren und zu fixieren. Also ich sehe die gegenwärtige Situation so, dass wir eine Konstellation haben, wo es Bewegungen in beide Richtungen gibt. Es gibt eine ganz klare Tendenz auch dahin, dass es eine wachsende Zahl von Männern gibt, die die gegenwärtige Umbruchssituation auch als eine Chance sehen, ihr Leben als Mann auf eine andere Basis zu stellen als auf die, dass nur der Beruf das zentrale Identitätsmedium für den Mann ist. Auf der anderen Seite gibt es Männer, die genau darin eine Bedrohung sehen.
Grundlage für traditionell männliches Selbstverständnis bricht weg
Fischer: Was machen wir mit denen? Also wir wissen, für Identität spielt auch immer Anerkennung eine Rolle. Die bekommen jetzt gespiegelt von der Gesellschaft: Ihr seid irgendwie so ein bisschen minderbemittelt, rückständig, na ja… Und das sind aber Leute, die glauben, die Natur des Mannes ist nun mal so wie sie gerne leben wollen, die harten, vielleicht in der Industrie arbeitenden Kerle, die sich nichts sagen lassen. Was macht man mit denen?
Meuser: Ich meine, das Problem ist, dass die Berufsfelder, die einem solchen Selbstverständnis entsprechen – Sie sagten gerade "die harten Kerle, die in der Industrie die schwere Arbeit verrichten" –, die entsprechenden Arbeitsplätze gibt es in immer geringerem Maße. Was wächst, ist der ganze Bereich der Wissensberufe im Dienstleistungsbereich, und da ist die Qualifikation nicht mehr diese an physischer Stärke festgemachte harte Männlichkeit, sondern da werden ganz andere Ansprüche gestellt, die nicht mit diesem Bild, was Sie gerade skizziert haben, kompatibel sind. Also ich denke, es ist einfach auch gewissermaßen die Erfahrung, dass da Bereiche wegbrechen, die ein solches traditionelles männliches Selbstverständnis institutionell gestützt haben. Was, denke ich, in dem Zusammenhang von ganz zentraler Bedeutung ist: Die Veränderung in der Erwerbsarbeit, etwa der Umstand, dass immer mehr Beschäftigungsverhältnisse prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind. Und wo sie nicht unbedingt prekär sind, sind es aber diskontinuierliche Beschäftigungsverhältnisse. Also wir haben ein hohes Maß an Diskontinuität in den Beschäftigungsverhältnissen, und das hat zur Folge, dass die institutionelle Grundlage für das traditionelle männliche Selbstverständnis als Ernährer der Familie für eine wachsende Zahl von Männern wegbricht. Das erzeugt einerseits Verunsicherungen und aufgrund dieser Verunsicherung auch entsprechende Gegentendenzen, und andererseits wird es aber auch gesehen als die Möglichkeit und die Notwendigkeit, dann Lebensentwürfe zu finden, gerade auch in Partnerschaften Lebensentwürfe zu finden, die nicht mehr bezogen sind auf dieses traditionelle männliche Selbstverständnis.
Heterosexuelle Selbstpräsentation
Fischer: Wie sieht es denn aus mit der Sexualität? Wir hatten die MeToo-Debatte und die MeToo-Skandale. Die männliche Sexualität in ihrer, sage ich mal, traditionellen Form präsentiert sich gerne so als ein bisschen urwüchsig, natürlich, aggressiv. Das wird jetzt durch so einen Diskurs infrage gestellt. Lässt sich da eigentlich etwas beobachten, auch ganz konkret statistisch, dass sich da etwas ändert? Denn wir lesen Zeitungsartikel und Leitartikel, die sagen, es hat sich jetzt alles verändert, andere beklagen, es hat sich nichts geändert. Ein paar große Rüpel stehen vor Gericht, aber der Alltagssexismus bleibt.
Meuser: Das sind, so wie ich das wahrnehme, eher Stimmungsbilder, als dass es dazu gesicherte empirische Daten gibt. Also meines Wissens gibt es keine sexualwissenschaftliche Untersuchung, die fundiert empirisch gesichert Auskunft geben könnte, ob sich durch die MeToo-Bewegung etwas verändert hätte an der Art, wie männliche Sexualität gedacht wird und wie sie gelebt wird. Allerdings ist es ganz interessant, unabhängig auch von MeToo, sich anzuschauen, was es in der sexualwissenschaftlichen Forschung an Befunden gibt zur Frage männlicher Sexualität. Da gibt es einerseits das Etwas, was gerade in der MeToo-Bewegung angeprangert wird, also dass männliche Sexualität auf Dominanz ausgerichtete Sexualität ist, und das ist in einer Hinsicht auch zutreffend. Gerade in Studien zu Peergroups von männlichen Jugendlichen und jungen Männern zeigt sich, dass dort, wenn die jungen Männer unter sich sind, das Reden über Sexualität sehr stark diesem hegemonialen Skript folgt, also einem Skript, das auf männliche Dominanz, männliche Überlegenheit ausgerichtet ist.
Fischer: ...Eroberung...
Meuser: Eroberung, ja, dass auch da ein großer Wert gelegt wird auf eine heterosexuelle Selbstpräsentation. Wenn man jetzt aber anschaut, was Studien sagen zu der Frage, wie sieht die Praxis der männlichen Sexualität aus, dann zeigt sich zum Beispiel, dass 95 Prozent des Geschlechtsverkehrs stattfindet in festen Partnerschaften, in festen Beziehungen, also nicht die Mehrzahl der männlichen Sexualität in der Praxis eine promiske Sexualität ist. Es zeigt sich, dass auch solche Bedürfnisse sehr stark da sind wie Vertrauen, Zärtlichkeit, Partnerschaft und sich fallen lassen, hingeben. So haben wir eine interessante Konstellation, ein kulturelles Leitbild gewissermaßen von männlicher Sexualität, das insbesondere wirksam wird, wenn Männer unter sich sind, wenn sie über Sexualität reden und über Frauen reden, dann ist dieses hegemoniale, auf Dominanz ausgerichtete Skript sehr stark präsent. In der Praxis der männlichen Sexualität spielt das eine wesentlich geringere Rolle.
Gefahr einer Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse
Fischer: Wenn wir einen Ausblick wagen, was würden Sie sagen, wie werden sich mittelfristig die Geschlechterrollen entwickeln? Im Augenblick wabert so ein bisschen die große Angst durch Deutschland, die Coronakrise, die Pandemie und dieser ganze Shutdown und Lockdown könnte dann doch dazu führen, dass Mutti am Ende das Homeschooling macht, dass Mutti am Ende wieder am Herd landet und Vati im Zweifelsfalle arbeitet. Wie wird sich das entwickeln? Was meinen Sie?
Meuser: Das ist immer schwierig, solche Prognosen zu stellen. Allerdings denke ich, dass zumindest eine solche Situation wie gegenwärtig die Gefahr durchaus beinhaltet, dass es in diesem Sinne zu einer Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse gerade im Bereich der Arbeitsteilung in der Familie kommen kann und damit auch unter Umständen im beruflichen Kontext, dass die Erwerbstätigkeiten von Frauen betroffen sein könnten. Bislang haben wir eine ganz klare Tendenz, dass die letzten Jahrzehnte sich die Erwerbsquote von Männern und Frauen immer stärker angeglichen haben und die Erwerbsquote der Frauen nur noch wesentlich geringer ist als die der Männer, allerdings mit dem Zusatz, dass Frauen häufiger in Teilzeit arbeiten als es Männer tun. Die Frage ist, ob durch die Coronakrise und, wenn sie weiter anhält, dann auch fortgesetzt es so ist, dass die Aufgaben, die jetzt anfallen im Bereich etwa von Homeschooling und so weiter, dass die dann den Frauen wiederum entweder zugewiesen werden oder von Frauen übernommen werden, weil sie zum Beispiel mehr als Männer Teilzeit arbeiten, dadurch auch mehr als die Männer verfügbar sind, wenn das Homeoffice mal wieder nicht mehr die Regel, die Arbeitsstätte sein sollte und dadurch gewissermaßen so ein Automatismus in Gang gesetzt werden könnte, der dazu führt, dass diese Aufgaben dann wieder stärker von Frauen übernommen werden, auch weil die institutionellen Möglichkeiten wie Kinderbetreuung in der Kita und so weiter weniger sind oder weil die Kinder nicht regelmäßig jeden Tag in der Schule sind, sondern das ist ja auch schon ein Szenario, was für die nächste Zeit auch gezeichnet wird, dass es einen Wechsel geben wird oder es ein Wechsel bleiben wird von Beschulung in der Schule und Homeschooling. Dann ist die Frage, wer organisiert das Homeschooling zu Hause, und das ist durchaus nicht unwahrscheinlich, dass das dann doch in der Mehrzahl die Frauen sind und weniger die Männer sind. Also das ist eine Prognose, die ich zumindest nicht für unrealistisch halte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.