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Märchenmotive in aktuellen Kinder- und Jugendbüchern

Wie wandlungsfähig Märchenmotive sind und wie wenig sie nur ein verspieltes, idyllisches oder gar ungeschichtliches Sein fristen, das belegen auch Susanne Straßer, Polly Shulman und Cornelia Funke in ihren aktuellen Kinder- und Jugendbüchern.

Von Karin Hahn |
    Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm erzählen von allem, was uns im Leben wichtig ist, von der Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, von unseren Ängsten, aber auch von Tapferkeit und Tod. Sie appellieren an den, für Kinder und Jugendliche noch sehr wichtigen, Gerechtigkeitssinn und immer besiegt der Schwache den Starken. Die Hexe landet im Ofen, der angeblich dumme Bruder bekommt die Prinzessin und das halbe Königreich und der falsche Wolf ertrinkt im Brunnen.

    Und weil Märchen universal sind und ihre suggestive Erzählstruktur das Wunschdenken nach einer glücklichen Lösung der Konflikte erfüllt, regen sie immer auch durch ihr vielschichtiges Tiefenpotenzial zum Weiterfabulieren an. Als Rohmaterial eignen sie sich bestens für moderne Adaptionen, Parodien, Krimi-, Fantasy- und Liebesgeschichten.

    "Ich glaube, in Märchen wird ja mit Archetypen und bestimmten Themen gearbeitet, die geradezu zeitlos sind. Und wenn man ein bisschen das alles eliminiert, wo man sagt, das passt nicht mehr in die moderne Zeit, dann hat man ja jede Menge Möglichkeiten mit Motiven und Ideen zu spielen und einfach zu sagen, was kann ich als Essenz nehmen und in die Moderne transportieren. Und das so attraktiv aufbereiten, dass auch die heutigen Kids Spaß dran haben und auch verstehen, worum es geht", …

    .... meint Gabriella Engelmann und entwirft in ihrem neuen Roman eine moderne Schneewittchen-Geschichte. Christoph Marzi haucht bekannten Märchenfiguren in seinem Buch "Grimm" erneut Leben ein:

    "Märchen eignen sich zum Weiterspinnen auch in die moderne Zeit, weil sie etwas ganz Urtümliches haben. Sie sind unser erster Berührungspunkt als Kinder mit Geschichten, mit rätselhaften Begebenheiten, mit Dingen aus der Vergangenheit und das sind alles Sachen, die man ins Erwachsenen-Dasein mitnimmt. Im Grunde genommen sind viele Geschichten, die wir heute lesen oder uns im Kino anschauen mit dieser alten Erzählstruktur verbunden. Also im Grunde genommen hat sich da sehr wenig geändert."

    Wie wandlungsfähig Märchenmotive sind und wie wenig sie nur ein verspieltes, idyllisches oder gar ungeschichtliches Sein fristen, das belegen auch Susanne Straßer, Polly Shulman und Cornelia Funke in ihren aktuellen Kinder- und Jugendbüchern.

    Kinder sind, was Märchen anbelangt, lange konservativ. Immer wollen sie ihr Lieblingsmärchen mit denselben Worten hören und die Empfindungen der allerersten Begegnung spüren: Staunen, Angst und Erleichterung.

    Susanne Straßer: Das Märchen von der Prinzessin, die unbedingt in einem Märchen vorkommen wollte
    Die Bildergeschichte "Das Märchen von der Prinzessin, die unbedingt in einem Märchen vorkommen wollte" von Susanne Straßer funktioniert aber auch für jüngere Kinder, die der Heldin, einer winzig kleinen Prinzessin, durch ihr bereits erworbenes Märchenwissen immer einen Schritt voraus sind. Enttäuscht ist das ehrgeizige Kind, denn in den magischen Geschichten der Brüder Grimm wurde es übersehen. In sieben Versuchsanordnungen ahmt die Prinzessin nun ihre bewunderten Vorbilder Rapunzel, Rotkäppchen, Dornröschen oder Aschenputtel nach. Die geküssten Frösche entpuppen sich allerdings nicht als Prinzen, sondern jagen die Prinzessin mit ihrer plötzlich entflammten Liebe in die Flucht. Als Aschenputtel sorgt das kleine Mädchen dafür, dass der Prinz auch ja den Schuh findet.

    "Und als es Mitternacht wurde, legte sie heimlich ihren linken Schuh, wie zufällig verloren, auf die Stufen der Schlosstreppe. (Um diesmal auf Nummer sicher zu gehen, platzierte sie den anderen auf der Treppe am Hinterausgang.)
    Weit gefehlt. Den rechten Schuh entdeckte der fette Mops vom Koch und ließ ihn sich schmecken. (So ein Vielfraß, nicht einmal die Sohle ließ er übrig.)
    Und den linken? Ja, den linken goldenen Schuh fand, wer hätte es gedacht, tatsächlich ein Märchenprinz. Doch stolperte der im Dunkeln darüber und fiel mit großem Gepolter die lange (seeeeeehr lange) Schlosstreppe hinunter."


    Äußerst lösungsorientiert und forsch geht Susanne Straßers Protagonistin zu Werke, verzichtet auf jeglichen Zauber-Hokuspokus und gereimt wird in den trocken kommentierten Experimenten schon gar nicht.

    "Sie nähte für ihre Enkelin statt der großartigsten roten Samtkappe des Landes die größte! Was für ein katastrophaler Irrtum!
    So würde das nie mit ihrer Märchenkarriere klappen."


    Sachlich steuert die kleine Prinzessin direkt auf das erhoffte Ziel, Teil einer Geschichte zu werden, zu und gerät dadurch von einer komischen Situation in die nächste. Und wie viele kleine Mädchen bekommt die Heldin auch das, was sie unbedingt haben will, nur reitet der Prinz nicht auf einem Schimmel, sondern fährt Fahrrad.

    Susanne Straßer findet für ihr Märchen im Märchen einfallsreiche Bildkompositionen, die in einer Mischtechnik aus handwerklichen Elementen und digitaler Weiterbearbeitung am Computer entstanden sind. Ihre Figuren, auch wenn die Farbe rot in allen Schattierungen dominiert, sind nicht süßlich. Durch die Monotypie, eine Drucktechnik, die dann oft noch mit Buntstift koloriert wird, entstehen keine perfekten Bilder und das korrespondiert wiederum mit den zum Scheitern verurteilten wie witzigen Versuchen der Prinzessin, endlich berühmt zu werden.

    Polly Shulman: Die geheime Sammlung
    Wie im allzu Vertrauten plötzlich das Unglaubliche auftauchen kann, davon erzählt die amerikanische Autorin Polly Shulman in ihrem Kinderbuch "Die geheime Sammlung". Die 15-jährige Elizabeth Rew lebt in New York. In der neuen Schule fühlt sie sich als Außenseiterin und in ihrer Familie wie Aschenputtel. Getreu dem Märchen ist ihre Mutter gestorben, sie hat zwei raffgierige Stiefschwestern, eine ungerechte Stiefmutter und einen schwachen Vater. Da alles Geld in die Ausbildung der Stieftöchter fließt, muss Elizabeth auf vieles verzichten. So freut sie sich über einen Aushilfsjob als Page im Repositorium der Verleihbaren Schätze. In diesem privaten Museum wird Kunst, Krempel, Wertvolles und Verrücktes gelagert und auf altmodische Weise per Rohrpost kommuniziert. Elizabeth kann gar nicht fassen, dass sie hier die Perücke von Marie Antoinette ausleihen könnte. Aber es kommt noch besser. 1892 hat die angebliche Großnichte von Jakob und Wilhelm Grimm, Friedhilde Hassenpflug, dem Museum eine wertvolle Sammlung übergeben. Keine persönlichen Aufzeichnungen der Brüder sondern mächtige Objekte.

    "Was für Gegenstände haben sie gesammelt?"
    "Dinge, die in den Kinder- und Hausmärchen erwähnt wurden."
    "Was meinen Sie? So etwas wie Aschenputtels Schuhe?"
    "So in der Art."
    Verwundert hielt ich inne. Schwang in seiner Stimme etwa eine Spur Sehnsucht mit?
    "Aschenputtels Schuhe", fuhr er fort, "haben wir nicht. Aber um genau so etwas geht es, ja."
    Immerhin behauptet Dr. Rust nicht wirklich, das Repositorium bewahre Aschenputtels Schuhe auf, denn das ginge mir doch etwas zu weit. Ich war erleichtert. "Was haben Sie denn dann?" fragte ich.
    "Oh – Spindeln, Stroh, Bohnen und Tränen. Einen gläsernen Sarg. Ein goldenes Ei."


    ... einen Spiegel, der jedem die Wahrheit ungeschönt ins Gesicht schleudert, Siebenmeilenstiefel und Zauberdinge aus "Tischlein deck dich".
    Als Geheimnisträgerin darf das Mädchen niemandem vom Grimm-Sammelsurium erzählen, geschweige denn irgendetwas anfassen.

    Was sollte ich mir wünschen? Ein Heilmittel gegen Krebs? Glückseligkeit für alle? Vielleicht den Weltfrieden? In den Märchen wünschen sich die Helden immer nutzloses Zeug wie Würstchen oder sie verwandeln einander in Esel und wieder zurück. Und manchmal gingen die Wünsche auch nach hinten los: Jemand wünschte sich einen Sack voll Gold, und der fiel ihm dann auf den Kopf und erschlug ihn. Selbst wenn ich einen Wunschring finden würde, wäre ich mir also nicht sicher, ob ich auch den Mut hätte, ihn zu benutzen.

    Die Existenz eines Grimm-Sammelsuriums ist zwar ein originelles Gedankenspiel, aber eigentlich dreht sich vordergründig alles um Elizabeth, die endlich ihre Scheu ablegen und Kontakt zu anderen aufnehmen soll. Anjali und Marc verbringen ebenfalls als Pagen ihre Zeit im Museum und werden bald zu Elizabeths Vertrauten. Der dritte Page Aaron bleibt dem neuen Mädchen gegenüber jedoch vorsichtig, denn seit Kurzem verschwinden magische Dinge aus der Sondersammlung oder werden durch gewöhnliche Gegenstände ersetzt. Da Marc unter Verdacht gerät, er hat sich heimlich die Siebenmeilenstiefel ausgeliehen, versuchen Elizabeth, Marc und Anjali durch moderne Technik zu analysieren, wer die magischen Objekte gefälscht hat. Der skeptische Aaron stellt sich den Dreien in den Weg und plötzlich ist die gegenwärtige Welt durchsetzt von Betrug, Gier, Misstrauen, Angst, Magie und Gefahren.

    Polly Shulman versucht durch die Erfindung des Grimm-Sammelsuriums nachzuweisen, dass die Märchen auf einem wahren Hintergrund beruhen. Und eine Marie Hassenpflug war auch wirklich eine der Geschichten-Zuträgerinnen der Brüder. Allerdings stellt die Autorin in ihren kurzen Exkursen in die Entstehungsgeschichte der Märchen, eher das Sammeln in den Vordergrund, nicht die poetische Eigenleistung der Dichter, die bei ihrer sogenannten "Feld-Forschung" den Großteil der Arbeit vom Schreibtisch aus erledigt haben.

    Aber Polly Shulman nimmt es mit der Wahrheit, wie die Brüder Grimm, wenn es um die Quellen geht, sowieso nicht so genau. Sie konstruiert vor dem fantastischen Hintergrund der Sondersammlung eher eine unterhaltsame Freundschafts-, Krimi- und in Ansätzen auch Liebesgeschichte. Wobei die Zauberdinge der Grimms die gefährliche Detektivarbeit der Jugendlichen, die auch noch singen und reimen müssen, tatkräftig unterstützen. Dass die wahren magischen Fähigkeiten bis heute lebendig sind, demonstriert fast nebenbei Anjalis Schwester. An ihren kunstvoll gebundenen Bindfäden hängt das Happy End des Romans.

    Gabriella Engelmann: Weiß wie Schnee, Rot wie Blut, Grün vor Neid, Ein mörderischer Schneewittchenroman

    Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?
    Nun, sie selbst war es scheinbar nicht mehr, dachte die Frau und schlug voller Wut auf den Spiegel ein. Sie brauchte die Antwort erst gar nicht abzuwarten, denn zumindest was Diandra Beauty betraf, war die Sache eindeutig: Sie wollten Schneewittchen und keine andere.


    "Weiß wie Schnee, Rot wie Blut, Grün vor Neid" heißt der Roman von Gabriella Engelmann, in dem sie das wohl bekannteste Märchen über Eifersucht, Schönheitswahn und Mordversuchen überzeugend in die Hamburger Gegenwart holt.

    Die 17-jährige, selbstbewusste Sarah ärgert sich jeden Tag über ihre vom Jugendwahn besessene Stiefmutter Bella. Für sie ist die bildschöne Stieftochter eine ernsthafte Konkurrentin an der Casting- und Modelfront. Sarahs Vater reist als Journalist durch die Welt, auch um seiner schlecht gelaunten zweiten Frau aus dem Weg zu gehen. Als Sarah die Werbung für ein ätzendes Haarspray ablehnt, da der Auftraggeber Tierversuche durchführen lässt, bietet Bella ohne jegliche Selbstzweifel ihre Dienste an und wird sofort von der Agentur abgelehnt. Das ist für die selbstverliebte Frau Anlass genug, einen Killer auf Sarah anzusetzen.

    Gabriella Engelmann:
    "Meine größte Herausforderung war tatsächlich glaubhaft zu erklären, warum jemand wie Schneewittchen viermal hintereinander in Lebensgefahr gerät, obwohl sie eigentlich schon nach dem ersten Anschlag wissen müsste, dass sie vorsichtig sein sollte. Aber genau diese Herausforderung hat mir am meisten Spaß gemacht, Analogien und moderne Bilder zu suchen, die eben im 21. Jahrhundert Bestand haben. Zum Beispiel sich zu überlegen, der vergiftete Kamm, wodurch kann man den ersetzen – durch eine Haarbürste, in der ein Sprengsatz untergebracht ist oder den Jäger, der ja Jagd auf Schneewittchen macht und ihr Herz sozusagen als Beweis mitbringen soll, durch einen Auftragskiller von der Reeperbahn zu ersetzen und das lebendige Herz durch einen Granatanhänger in Herzform."

    Natürlich dürfen die sieben Zwerge nicht fehlen. Im Roman wohnen die jungen Männer, die sich schon seit ihrer Zeit aus dem Kindergarten "Tobezwerge" kennen und sich jetzt auch noch als Witz die sieben Zwerge nennen, alle in einem Haus. Auch wenn die Zwerge Sarah davor gewarnt haben, die Tür zu öffnen, lässt sie sich von ihrer durchtriebenen Stiefmutter austricksen:

    "Jemand hat offenbar versucht, dich damit zu erwürgen", erklärte Aleks und deutete auf ein bunt gemustertes Seidentuch, das neben mir lag. "Es war meine Stiefmutter", antwortete ich leise, das Sprechen fiel mir schwer. Felix setzte mir ein Glas Wasser an die Lippen. "Was für ein Glück, dass Felix hier war", sagte Aleks. "Ich habe nämlich keinen blassen Schimmer mehr von meinem Erste-Hilfe-Kurs." Der Mann meiner Träume hatte mir doch tatsächlich das Leben gerettet. Fast wie im Märchen ...
    Ob Märchenfiguren sich nach einem Mordanschlag auch so grauenvoll fühlten?


    Einfallsreich, voller Situationskomik und gespickt mit Originalzitaten konstruiert Gabriella Engelmann ihre moderne Schneewittchenadaption mit gezielten sarkastischen Seitenhieben auf den Schönheitswahn und die immer perfekter sich präsentierende Beauty-Industrie.

    Gabriella Engelmann:
    "Jugendwahn und Körperkult spielen meiner Meinung nach in unserer Zeit eine übertrieben wichtige Rolle, aber man sollte sich nicht zum Sklaven einer Industrie machen, die in erster Linie ja nur verkaufen will. Ich wollte jungen Mädchen zeigen, dass innere Werte zählen und Schönheit ein sehr fragiles Gut ist. Und es war mir auch sehr wichtig darauf aufmerksam zu machen, dass man mit Beauty-Produkten, die auf Basis ziemlich grausamer Tierversuche oder unter Einsatz von Chemikalien entstehen durchaus kritisch umgehen sollte."

    Alle Märchenfiguren, für die Gabriella Engelmann eine Entsprechung in der Gegenwart findet, sind als Stereotypen zwar festgelegt und doch durchbricht die Hamburger Autorin dieses Schema. Sarah gibt sich nicht passiv ihrem Schicksal hin, bemuttert die sieben Zwerge und verliebt sich auf den ersten Blick in den Prinzen, sie sucht die Konfrontation und ihren ganz eigenen Weg. Der boshafte, magische Spiegel jedoch darf seine alte Rolle weiterspielen.

    Gabriella Engelmann:
    "Ich habe mich dann für die Originalversion entschieden, zum einen weil die Figur der Bella so outstanding-mäßig erzählt wird. Und weil ich einfach eine Frau, die so unsicher ist, dass sie aufgrund der Aussage eines Spiegels bereit ist, einen Mord zu begehen, ist so absurd, dass der schwache Charakter dieser Frau, meiner Meinung nach, auf diese Weise am besten zutage tritt. 'Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?' ist einfach die berühmteste Frage in einem Märchen und erinnert schon ein bisschen an dieses knallharte Auswahlverfahren von Germanys Next Topmodel, wenn dann Heidi Klum da steht und ihre Augenbrauen zuckt und 'Wer ist die schönste im ganzen Land?' fragt." (lacht)

    Cornelia Funke: Reckless – Steinernes Fleisch
    Dass die Märchen immer noch lebendig sind, davon geht nicht nur Polly Shulman aus, Cornelia Funke schließt sich dieser Idee in ihrer als Mehrteiler geplanten Buchreihe "Reckless" an. Versteckt Polly Shulman die Zauberdinge jedoch klammheimlich in einem Museum, so entwirft Cornelia Funke gleich ein fantastisches neues Märchenreich. Sie konzentriert sich dabei auf die dunkle Seite der Märchen. Bereits das Buchcover weist eindeutig darauf hin, das ist kein Kinderbuch. Die Grimmschen Märchen zeigen immer wieder, die Welt ist veränderbar. Allerdings kann das Böse nur überwunden werden, wenn Gewalt im Spiel ist.

    Cornelia Funkes Hauptfiguren Jacob und Will Reckless begegnen diesen unheimlichen, zerstörerischen Kräften in der Märchenwelt, die hinter einem magischen Spiegel der Gegenwart liegt. Dort herrscht Krieg zwischen den Goyl, den empfindungslosen Steinmenschen aus der tiefen Erde und der berechnenden Kaiserin von Austrien. Jacob hat sich hier eine Existenz als Schatzjäger aufgebaut. Er sucht und verkauft Zaubergegenstände, wie das Tischleindeckdich oder den Gläsernen Schuh. Sein stiller Bruder Will ist ihm in die Parallelwelt gefolgt. Durch den Fluch der dunklen Fee wächst ihm eine tödliche Jadehaut. Wie in fast jeder Fantasygeschichte, und hier wandelt Cornelia Funke auf ausgetretenen Pfaden, müssen die Helden nun ausgerüstet mit magischen Dingen Gefahren erkennen und durch Verstand, Intuition oder mithilfe eines Zaubers weiterkommen. Cornelia Funke konfrontiert ihre Hauptfiguren von Episode zu Episode mit ihrer modernen Deutung der Märchen.

    Von der Regenrinne und den Fensterbänken hingen Zapfen aus Zuckerguss, und das ganze Haus roch nach Zimt und Honig, wie es sich für eine Kinderfalle gehörte. Die Hexen hatten oft versucht, die Kinderfresserinnen aus ihrer Sippe zu verstoßen, und vor zwei Jahren hatten sie ihnen schließlich den Krieg erklärt. Die Hexe, die im Schwarzen Wald ihr Unwesen getrieben hatte, fristete ihr Dasein angeblich als Warzenkröte in einem morastigen Tümpel.

    Es wird geraunt, gedroht und geflüstert, um mit den Urerfahrungen und Ängsten des Lesers zu spielen. Dabei scheint es fast zu trösten, dass Schneewittchen mal nicht demütig auf seine Rettung wartet, sondern einfach mit einem der Zwerge durchbrennt. Hinter jeder Ecke im Spiegel-Horror-Land, wo ein Vater seinen Sohn erschlägt, wenn er bemerkt, dass ihm eine Steinhaut wächst, lauert tief Bedeutendes und doch wieder allzu Bekanntes. Der Fantasy-Roman erschöpft sich letztendlich im beflissen konstruierten Abarbeiten der einzelnen Bewährungsstationen mit gelegentlichen Ausflügen zu den Märchenschauplätzen. Seltsam wirkt die säuselnde Sprache der Autorin, die elegant oder pathetisch dahinfließt und hinterfragt, so wenig aussagt.

    Worte. Nichts weiter. Aber sie machten dunkles Glas aus der Nacht und Jacob sah sein eigenes Gesicht darin.
    "Ich weiß, warum du hier bist." Clara sprach mit so abwesender Stimme, als spräche sie nicht über ihn, sondern über sich selbst. "Diese Welt macht dir nicht halb so viel Angst wie die andere. Du hast hier nichts und niemanden zu verlieren, außer Fuchs, und die macht sich mehr Sorgen um dich als du um sie. Alles, was wirklich Angst macht, hast du hinter dem Spiegel gelassen. Aber dann ist Will hergekommen und hat alles mitgebracht."


    Christoph Marzi: Grimm

    "Der Auslöser für "Grimm" war die Überlegung, was wäre wenn die Geschichten, die die Brüder Grimm und andere Märchenerzähler aufgeschrieben haben, nicht reine Erfindungen waren oder nicht nur weitererzählte Geschichten, sondern wenn das wirklich tatsächlich Geschehenes gewesen war, wenn diese Figuren irgendwann einmal existiert hätten oder immer noch existieren, wo auch immer. Es war ein Versuch diese alten Dinge in die moderne Zeit rüberzunehmen."

    Christoph Marzi bezeichnet die altbekannten Märchenfiguren, die zuerst nur als Schemen in unserer gegenwärtigen Welt auftauchen, als Mythen. Je mehr die Menschen wieder an sie glauben, um so lebendiger und aggressiver werden sie. Die Mythen fordern mit der Geiselnahme der Kinder, die sie in einen Tiefschlaf versetzen, ihre Existenzberechtigung zurück. Einem Albtraum gleich sterben auf grausige Weise die Eltern der 17-jährigen Vesper Gold, der Hauptfigur des Romans. Als einfaches Mädchen und Waise wird Vesper nun, wie im Märchen, zur Retterin. An ihre Seite tritt Leander, der mit ihr und einem dritten Leidensgefährten aufdecken wird, was hinter dem Überfall der Mythen steckt.

    Eine weniger rühmliche Rolle hat Christoph Marzi in seiner detailverliebten Fantasy-Geschichte, die zahlreiche Märchenelemente, Träume und Unbewusstes aufnimmt, den Brüdern Grimm angedichtet. 1804 gründeten sie eine Geheimgesellschaft, die mit Worten und Taten dafür sorgen sollte, dass die Mythen aus dem alltäglichen Leben verschwinden und die Wahrnehmung der Menschen sich grundlegend verändert:

    Christoph Marzi:
    "Das war Aufklärung auf die Spitze getrieben, also Aufklärung im Sinne, von wir beseitigen alles Mythische, alles Märchenhafte, alles nicht rational erklärbare. Und das was die getan haben, war eine konsequente Weiterentwicklung dessen, was sie eigentlich im wirklichen Leben gemacht haben, ja also die Welt zu erforschen und zu versuchen alles real zu erklären, ein System zu entwickeln für die Welt."

    "Sie alle schrieben erfundene Geschichten auf ", erklärte Jonathan Andersen, "denn nur so funktionierte es. Geschichten, die die Mythen ins trübe Reich der Phantasie verbannten."
    "Sie nahmen ihnen die Lebenskraft, weil sie die Menschen glauben ließen, dass die Mythen nur Geschöpfe der kindlichen Einbildung und des Aberglaubens seien?"
    "Ja, und so verschwanden die Mythen schließlich aus der Welt."
    "Denn die Menschen glaubten, dass die Geschichten frei erfunden waren." Mit einem Mal sah Vesper die alten Märchen in einem ganz anderen Licht."


    Christoph Marzi spielt mit dem Leser nun durch, was die Menschen den Mythen einst angetan haben könnten. Actionreich und spannend steuert Vesper mit ihren Mitstreitern auf den entscheidenden Showdown und ein unerwartetes Ende zu, in eine Welt, in der das Irrationale, Unerklärliche wieder Raum gewinnt.

    Stilistisch jedoch, und das hat auch bei den bereits veröffentlichten Büchern von Christoph Marzi zu Kritik geführt, ist der Märchenschocker unausgefeilt. Zwar entwirft der Autor mit Vesper eine widersprüchliche, interessante Protagonistin, für ihr Innenleben jedoch findet er, ob in dramatischen oder glücklichen Momenten, leider nur triviale Bilder.

    Tief in ihr drinnen schrie diese Gewissheit all die bittere Verzweiflung des kleinen Mädchens, das sich früher in der Dunkelheit gefürchtet hatte, in die tiefrot pochende Stille ihres Herzens. So suchte sie nach dem Ausweg, der ihr verborgen blieb, und spürte, wie ihr die Zeit wie Sand durch die Finger rann, warm und heiß wie die letzten Tränen am Ende des Weges, während sich ihr das tiefe Knurren auf großen Pfoten unaufhaltsam näherte.

    Die Gattung Märchen, und das belegen die heute vorgestellten Bücher, ist unzerstörbar, denn zutiefst menschlich ist die Sehnsucht nach dem Sieg des Guten über das Böse und die Hoffnung, dass alle Not ein Ende haben wird. Denn, wie heißt es so schön: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

    In der Sendung empfohlene Bücher:

    Christoph Marzi: Grimm,
    Heyne Verlag, München 2010,
    560 Seiten, EUR17,99

    Cornelia Funke: Reckless – Steinernes Fleisch,
    Dressler Verlag, Hamburg 2010,
    352 Seiten, EUR19,95

    Cornelia Funke: Reckless – Steinernes Fleisch,
    Oetinger Audio,
    8 CDs, EUR29,95

    Gabriella Engelmann: Weiß wie Schnee, Rot wie Blut, Grün vor Neid, Ein mörderischer Schneewittchenroman,
    Arena Verlag, Würzburg 2010,
    264 Seiten, EUR13,95

    Gabriella Engelmann: Weiß wie Schnee, Rot wie Blut, Grün vor Neid – Schneewittchens wahre Geschichte,
    DAV, Lesung mit Cosma Shiva Hagen,
    3 CDs, 203 Min., EUR14,99

    Polly Shulman: Die geheime Sammlung,
    Pan Verlag, München 2009,
    352 Seiten, EUR14,95

    Susanne Straßer: Das Märchen von der Prinzessin, die unbedingt in einem Märchen vorkommen wollte,
    Hinstorff Verlag, Rostock 2010,
    40 Seiten, EUR14,90