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Märtyrer oder Verräter?
Der Mord an Thomas Becket veränderte England

Ein Schwerthieb beendet vor 900 Jahren das Leben Thomas Beckets und erschüttert Europa. Das setzt den Schlusspunkt unter eine Beziehung, die als Männerfreundschaft begonnen hatte. König Heinrich II. lässt den Erzbischof und Lordkanzler ermorden. Weltliche Macht contra kirchliche Freiheit?

Von Kirsten Serup-Bilfeldt |
Eine künstlerische Darstellung der Ermordung des Thomas Becket
Thomas Becket wurde am 29. Dezember 1170 in der Kathedrale von Canterbury ermordet (imago stock&people / United History Archives )
Festtagsstimmung in Canterbury. In den Straßen drängen sich die Schaulustigen. Alle Glocken läuten, die Menschen singen und beten, loben Gott und danken ihm für die triumphale Rückkehr des Erzbischofs Thomas Becket nach seinem sechsjährigen Exil in Frankreich. Flatternde Fahnen schmücken die mächtigen grauen Mauern der Kathedrale. Dorthin bahnt sich jetzt der Erzbischof den Weg.
Doch, so mag sich der eine oder andere Zuschauer beklommen fragen, hegt er eigentlich keine Zweifel? Schließlich ist er ein unerbittlicher Verteidiger kirchlicher Rechte gegen seinen König. Kann er das düstere Grollen am Horizont nicht deuten, die Zeichen nicht lesen? Ahnt er nicht, dass er mit seiner Rückkehr nach England seinen Untergang besiegelt?
"Bös der Wind, bös die Zeit. Spät, spät ist die Zeit, zu spät und morsch das Jahr. Übel der Wind und bitter die See. Grau der Himmel, grau, grau, grau. O, Thomas kehr um, Erzbischof kehr um gen Frankreich. Doch kommst du und trägst den Tod gen Canterbury..." (T.S. Eliot: "Mord im Dom")
"Wo ist Thomas, der Verräter an König und Reich?"
Drinnen, in der kühlen Stille der Kathedrale, predigt der Erzbischof über den Satz aus dem Hebräerbrief:
"Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir."
Man schreibt Dienstag, den 1. Dezember des Jahres 1170. Vier Wochen später. Im schwindenden Licht dieses nebligen englischen Wintertages galoppieren vier schwerbewaffnete Ritter auf die Kathedrale von Canterbury zu. Sie stürmen hinein. Kettenhemden klirren, im flackernden Schein der Kerzen blitzen Schwerter. Der Mönch Edward Grim versucht, sich den Eindringlingen in den Weg zu stellen, wird aber mit einem einzigen Schwertstreich außer Gefecht gesetzt. Was dann geschieht, dokumentiert er später für die Nachwelt:
"Die Ritter brüllten: 'Wo ist Thomas, der Verräter an König und Reich? Wo ist der Erzbischof?' Standhaft antwortete Thomas wie es geschrieben steht: 'Der Gerechte aber ist furchtlos wie ein junger Löwe'. Dann stieg er die Altarstufen hinab und sagte: 'Hier bin ich! Kein Verräter am König, sondern Gottes Priester. Warum sucht ihr mich?'"
Thomas Becket weiß, warum: sie sind gekommen, ihn zu töten. Er sei bereit, zu sterben, sagt er, damit die Kirche durch sein Blut Frieden und Freiheit erlangen könne. Die vier Attentäter stürzen sich auf ihn. Ein krachender Schwerthieb des Ritters Richard le Breton spaltet dem Erzbischof den Schädel. Nigel Spivey von der Universität Cambridge:
"Es war der letzte Akt in einem acht Jahre lang obsessiv ausgetragenen Rivalitätsdrama zwischen Thomas Becket und seinem König Heinrich II."
Sofortige Heiligsprechung
Man schreibt Dienstag, den 29. Dezember des Jahres 1170. Das Drama ist vorüber. Es beginnt die Legende - noch in der Mordnacht kursieren die ersten Wundergeschichten. Bald pilgert das Volk von nah und fern nach Canterbury. Die Stadt wird zum meistbesuchten Wallfahrtsort nördlich der Alpen, Becket zum englischen Vorzeigeheiligen:
"Thomas Becket wird sofort erhoben zum Heiligen. Er hat sich ganz klar als Märtyrer inszeniert; als Märtyrer für die Kirche gegen einen grausamen König."
Die Historikerin Hanna Vollrath:
"Im 12. Jahrhundert ist das schon ein juristischer Akt. Es muss ein Heiligsprechungsprozess geführt werden. Märtyrer waren immer per se Heilige. Wenn er ein Märtyrer war, dann ist er automatisch heilig."
Becket steht für den Konflikt zwischen Staat und Kirche
Beckets Faszination für die Nachwelt speist sich nicht so sehr aus seiner historischen Bedeutung, sondern wohl eher aus der Zeitlosigkeit des Konflikts, der ihn das Leben kostete: der Auseinandersetzung zwischen der Loyalität gegenüber dem Staat und dem Gehorsam gegen die Kirche. Als er schon 1173 heiliggesprochen wird, geschieht das nicht, weil er an geweihter Stätte ermordet wurde, sondern weil er als Verfechter kirchlicher Freiheit gegenüber weltlichem Zugriff erscheint:
"Dieser Becket-Streit hat die Gesellschaft bis in den Kern aufgewühlt."
Beckets Martyrium für die Kirche, nicht für den Glauben, offenbarte in den Augen der Zeitgenossen den Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen einem Geistlichen im Höflingsgewand und einem hochfahrenden Monarchen, zwischen Kirche und Krone, weltlicher und geistlicher Macht. Es ist eine Geschichte von steilem Aufstieg und tiefem Fall, von Freundschaft und Hass, von Treue und Verrat und - vom bedingungslosen Einsatz für die Kirche.
Ein mächtiger König
Der Schwerthieb, der Thomas Beckets Leben beendet und Europa erschüttert, setzt den Schlusspunkt unter eine Beziehung, die einst als klassische Männerfreundschaft begonnen hatte und in einer klassischen Männerfeindschaft endet. Zwei Kontrahenten stehen sich dabei in einem erbitterten Konflikt gegenüber:
Der eine, Heinrich II., der erste Herrscher aus dem Haus Plantagenet, will mit eiserner Hand ein Reich der Ordnung und Stabilität in England errichten, ein straffes Verwaltungs- und Rechtssystem aufbauen und die Machtblöcke Kirche und Staat vereinen. Eine Notwendigkeit, denn Unruhen und Thronwirren haben aus dem Erbe Wilhelms des Eroberers einen Scherbenhaufen gemacht. Der Historiker Gerd Althoff:
"Sicher ein König, der wusste mit Gegnern umzugehen, mit Härte, Zorn und Schrecken zu regieren verstand, der immense Erfolge hatte; ein König, der sich durchzusetzen verstand und der sicherlich auf öffentlichen Widerspruch höchst allergisch reagierte."
Eine zeitgenössische Darstellung König Heinrichs II. und Thomas Beckets in einer englischen Chronik
König und Erzbischof waren Freunde, ehe sie sich entfremdeten (imago stock&people / United Archives International )
Heinrich II. ist Herr über ein Riesenreich. Auf dem Festland gehören ihm die Normandie und die Grafschaft Anjou; seine Heirat mit der ehemaligen französischen Königin Eleonore von Aquitanien bringt ihm zusätzlich noch weitere Besitzungen ein. So erstreckt sich sein Herrschaftsgebiet von Schottland bis an die Pyrenäen. Nie zuvor hat ein englischer Monarch über ein so großes Territorium geherrscht.
"Viel Missgunst gegenüber diesem Emporkömmling"
Sein Gegenspieler, Thomas Becket, der Mann, der diesen König in
die Schranken fordert, ist von ganz ähnlichem Charakter: ein Mann, der "mit genialer Willkür" in den "Bahnen des Starrsinns" verharrt. Thomas Becket, um das Jahr 1118 in eine angelsächsische Kaufmannsfamilie in London geboren, gelingt nach einer eher flüchtigen Ausbildung der Karrieresprung als Archidiakon an den Hof des Erzbischofs Theobald von Canterbury, ein idealer Ort für kirchliche Senkrechtstarter. 1155 macht König Heinrich Thomas Becket zum Lordkanzler von England. Beeindruckt würdigt denn auch Beckets Freund und Biograph William Fitzstephen diese Blitzkarriere:
"Der Lordkanzler von England ist nach dem König der zweite Mann im Staat. Er ist der Lordsiegelbewahrer und Gebieter über die königliche Kanzlei. Er übernimmt und verwaltet alle freigewordenen Erzstühle, Abteien und Baronien, die dem König zufallen. Er sitzt in allen Ratsversammlungen des Königs."
"Es hat viel Missgunst gegeben gegenüber diesem Emporkömmling - so wurde Becket angesehen, ein Emporkömmling aus dem Kaufmannsstand - der dann plötzlich Kanzler des Königs wird. Und sofort auch hingeht und diese Kanzlerschaft zu einer richtigen Machtzentrale erweitert. Er war schon ein machtbewusster Mann. Wir reden immer von den Königen, aber ganz entscheidend waren natürlich die Adligen. Und um die überhaupt kooperativ zu machen, bedurfte es einer sehr starken Persönlichkeit. Und das war Thomas Becket", sagt Professor Hanna Vollrath.
"Die Persönlichkeit ist ein Rätsel"
Heinrich mag das Auftauchen dieses Mannes als Wink des Schicksals begriffen haben, glaubt Nigel Spivey von der Universität Cambridge:
"Es gab noch einen bedrohlichen Machtfaktor im Reich: die Kirche. Zwar war ihr Hauptsitz in Canterbury, doch ihre Loyalität gehörte Rom. Und Heinrich hegte ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber den mächtigen englischen Bischöfen. 1162 bot sich eine günstige Gelegenheit: Der Erzbischof von Canterbury war gestorben und so war der zweitwichtigste Posten im Reich vakant - der des Oberhauptes der englischen Kirche."
Doch bereits wenige Tage nach seiner feierlichen Amtseinführung kommt es zum Eklat und - zu einem der ungelösten Rätsel der englischen Geschichte.
Der neue Erzbischof legt sein weltliches Amt nieder - gibt dem König das Siegel des Lordkanzlers zurück! Er könne nicht zwei Herren gleichzeitig dienen, sagt er.
Das Blatt hat sich gewendet. Der König muss erleben, wie aus dem "Höflingssaulus ein Paulus wird", formuliert Hanna Vollrath. Denn von nun an ändert Becket seinen Kurs - und zwar radikal: Fanatisch stellt er sich in den Dienst der Kirche, tritt unerbittlich und mit kompromissloser Entschlossenheit für ihre Rechte ein, macht unmissverständlich deutlich, dass seine Loyalität nicht mehr länger der Krone, sondern der Kirche gilt. Professor Gerd Althoff sagt:
"Die Persönlichkeit ist ein Rätsel. Es sind ja steile Stufen, die ein Nichtadliger in der kirchlichen und in der königlichen Hierarchie aufsteigen muss. Wie er immer den Eindruck eines hocheffizienten aber auch hochloyalen Mitarbeiters erzeugt hat, um dann, in dem Moment, wo er am Höhepunkt seiner Möglichkeiten war, völlig umzuschlagen und den sturen Antipoden zu spielen. Das ist ein Geheimnis."
Wer darf über Kleriker richten?
Thomas verliert keine Zeit, die Konflikte zuzuspitzen und den König zu reizen.
Er greift in das Räderwerk des kirchlichen Machtgefüges ein, nicht als Theologe, sondern als theologisch geschulter Politiker. Mit verbissener Entschlossenheit fordert er die Rechte der Kirche bei König und Adel ein.
Es geht um Geldforderungen, um die Besetzung von Kirchenämtern und um die geistliche Gerichtsbarkeit, die Heinrich mehr an die königliche Gerichtsbarkeit anbinden will. Becket sucht die Konfrontation. Heinrich nimmt sie an - und tritt damit eine politische Lawine los, die englische Variante des Investiturstreits.
Ein Reliquiar des Heiligen Thomas im Ashmolean Museum in Oxford
Nach seiner Ermordung wurde Thomas Becket heiliggesprochen (imago stock&people)
Auslöser ist der Fall des Kanonikers Philip de Brois im Juli 1163. Der stand im Verdacht, einen Ritter getötet zu haben, hatte vor einem bischöflichen Gericht gestanden und war freigesprochen worden. Danach waren Stimmen laut geworden, die einen Prozess vor einem königlichen Gericht forderten. Mit dem Hinweis, er sei schließlich Geistlicher, verweigerte Philip de Brois ein weiteres Erscheinen vor Gericht. Die Berufung auf das "privilegium fori", eine Art Standesimmunität, schützte den Kleriker vor dem Zugriff weltlicher Strafverfolgungsbehörden.
Der König bekommt einen seiner berüchtigten Tobsuchtsanfälle. Er werde Philip umgehend aburteilen lassen, brüllt er. Becket brüllt zurück:
"Ausgeschlossen! Niemals können Laien die Richter von Klerikern sein!"
Becket flieht nach Frankreich
"Die Kirche, so sagte er, stehe über dem Recht", sagt Dr. Nigel Spivey.
Das Maß ist voll! 1164 erlässt Heinrich die "Beschlüsse von Clarendon", eine Sammlung von Rechtssätzen, um die weltliche Gerichtsbarkeit auch auf den Bereich der Kirche auszudehnen. Die sechzehn Artikel stellen eine Kodifizierung des alten Königsrechts gegenüber den Ansprüchen der Kirche dar. Es geht um Fragen der Abgrenzung von weltlicher und geistlicher Herrschaft:
"Geistliche, die vor Gericht geladen und mit welchen Beschuldigungen auch immer angeklagt werden, haben dort zu erscheinen, um alle Fragen zu beantworten, die das Gericht für notwendig hält. Wenn der Geistliche überführt wird oder gesteht, darf die Kirche ihn nicht länger schützen."
Thomas Becket verweigert seine Unterschrift unter die Beschlüsse von Clarendon. Es beginnt ein diplomatischer Kleinkrieg. Thomas und Heinrich suchen sich ihre Verbündeten, buhlen beide um die Gunst des französischen Königs und des Papstes: Als der König seinen aufsässigen Erzbischof vor Gericht nach Northampton zitiert, verweigert ihm Heinrich den Friedenskuss. Eine gefährliche Situation. Noch in derselben Nacht flieht Becket nach Frankreich. Er begreift, dass er auf verlorenem Posten steht. Allein. Ohne Rückhalt. Professor Hanna Vollrath:
"Wir wissen aus Briefen, dass die Bischöfe ihm zugesetzt haben. Die haben gefordert: Schluss der Vorstellung. Die waren wirklich empört, gerade der Bischof von London, aber auch andere. Der Bischof von York hat sich herausgehalten, aber die südenglischen Bischöfe waren wirklich empört. Sodass man fragen kann: Vor wem flieht er? Vor Heinrich II. oder auch vor den Bischöfen?"
Frage oder Mordbefehl?
Sechs Jahre bleibt der Erzbischof im französischen Exil. Als er wieder zurückkommt, scheinen die Wogen sich geglättet zu haben. Doch die Ruhe trügt.
Heinrich lässt seinen Sohn zum König krönen - jedoch nicht von Becket!
Eine unerhörte Provokation! Ist doch die Krönung eines englischen Monarchen traditionell das Privileg des Erzbischofs von Canterbury. Becket schlägt zurück: Er exkommuniziert die Bischöfe, die an der Krönung teilgenommen haben. Der König, der zu dieser Zeit in Frankreich weilt, gerät außer sich vor Zorn.
"Was für Faulpelze und Feiglinge habe ich an meinem Hof herangezogen? Denen die Loyalität zu ihrem Herrn nichts bedeutet? Gibt es denn niemanden, der mich von diesem lästigen Priester befreit?"
Eine der berühmtesten Fragen der Weltgeschichte. Aber auch ein Mordbefehl?
"Darüber wird in der Wissenschaft seit diesem Tage gestritten. Wir wissen es nicht. Heinrich II. hat alle heiligen Eide geschworen, dass das nicht der Fall gewesen sei, dass er nichts dergleichen gesagt habe. Eine Kompetenzüberschreitung von irgendwelchen wilden Rittern, die einfach sagten: Also nun ist Schluss der Vorstellung? Aus den Quellen kann man nichts entnehmen", sagt die Historikerin Hanna Vollrath.
"Becket bleibt ein Zeichen des Widerspruchs"
Der Mord an Thomas Becket soll das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in England nachhaltig prägen. Er bahnt den Weg zur Unterzeichnung der "Magna Charta". Diese Urkunde, die Grundlage englischen Verfassungsrechts, verbrieft fundamentale politische Freiheiten des Adels gegenüber dem König, während der Kirche die Unabhängigkeit von der Krone zugebilligt wird.
Über 400 Jahre nach den Ereignissen um Thomas Becket scheint sich die Geschichte zu wiederholen: ein anderer König Heinrich - der Achte - ein anderer kirchlicher Widersacher - Thomas Morus - stehen sich im Kampf um die Macht unversöhnlich gegenüber. Als Heinrich VIII. mit der römischen Kirche bricht, kann er die Erinnerung an den "Fall Becket" für diesen neuen Konflikt instrumentalisieren. Sein eigener Kampf mit der Kirche ließ sich so als eine Art ewiges Gefecht zweier widerstreitender Systeme darstellen.
Die Figur des Thomas Becket bleibe umstritten, glaubt der französische Mediävist Pierre Aubé:
"Bis heute bleibt er - verehrt, benutzt, verkannt, geschmäht - ein Zeichen des Widerspruchs. Und ein Symbol. Wie alle, die irgendwann einmal versuchen, für ihre Ideale die eisigen Gipfel der Politik zu erstürmen und abzutragen."