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100. Geburtstag von Erich Hartmann
Ein Fotograf, der Zeitgeschichte schrieb

Porträts von Hollywood-Stars wie Marilyn Monroe oder Reportagen zum Getreidehandel: „Magnum“-Fotografen waren nach 1945 in allen international bedeutenden Zeitschriften vertreten. Am Aufbau der New Yorker Fotoagentur war neben dem Franzosen Henri Cartier-Bresson auch der deutsche Emigrant Erich Hartmann beteiligt.

Von Jochen Stöckmann |
Eine Ausstellung mit Fotografien des Magnum-Gründers Henri Cartier-Bresson in der Bibliotheque Nationale de France in Paris.
Bilder der renommierten Fotoagentur Magnum, für die Erich Hartmann arbeitete, sind Dokumente der Zeitgeschichte. (pa/dpa/dpaweb/Francois Guillot )
Feierabendverkehr in New York: Der Blick des Fotografen fällt aus einem Bus heraus auf die regennasse Straße. Wenig später erhascht er vom Bahnsteig aus ein Gesicht, das sich im Fenster des vorbeirasenden Schnellzugs spiegelt. Es sind zwei unspektakuläre Schwarzweißfotos, scheinbar zufällige Alltagsimpressionen. Erich Hartmann komponiert aus solchen Aufnahmen stilprägende Foto-Essays.

„Dieses Zusammenkommen, dieses Miteinandersprechen, Miteinandertanzen von zwei Bildern, das ist so meine Art. Man tut das gar nicht absichtlich, es kommt auf einen zu.“

Eigener Platz neben Henri Cartier-Bresson und Robert Capa

Sich mit wachem Blick – die Kamera griffbereit – treiben lassen, diese Arbeitsweise beschert dem Fotografen 1952 die Einladung der Agentur Magnum: Neben Henri Cartier-Bresson, dem Meister des wohlüberlegten Schnappschusses, und einem durch spektakuläre Kriegsreportagen legendären Robert Capa besetzt Hartmann seinen ganz eigenen Platz. Als Magnum-Vorstand wird er formulieren, was die höchst unterschiedlichen Temperamente zusammenhält:

„Die undefinierbaren Bande von gemeinsamem Interesse, Freundschaft, Unabhängigkeit, Jähzorn, Genie und Vorliebe für Champagner.“

Die Folgen der Nazi-Verbrechen mit eigenen Augen sehen

Erich Hartmann, geboren am 29. Juli 1922 in München, ist 1938 als Jude aus Deutschland geflohen. In den USA hat er sich freiwillig zur Armee gemeldet, musste im befreiten Konzentrationslager Dachau die Folgen der Nazi-Verbrechen mit eigenen Augen ansehen. Deshalb verfolgt der professionelle Fotograf ein humanistisches Anliegen, will aber auch als mittelloser Neuankömmling in den USA von seinem Beruf leben. Er setzt alle Hoffnung auf die Magnum-Kooperative:

„Ich möchte weniger, dafür aber bessere Bilder machen. Ich möchte, dass diese Bilder so ergiebig wie möglich vermarktet werden und möglichst viel einbringen.“

Fotografieren in KZ-Gedenkstätten

Gute Aufnahmen, weltweit verbreitet. Das ist Hartmanns Ziel. Doch engagierter Fotojournalismus hat seinen Preis: Ihre Recherche-Reisen finanzieren die Magnum-Fotografen mit „corporate photography“ für große Industrieunternehmen. Nach einer dieser kommerziellen Auftragsarbeiten folgt Hartmann im Winter 1993 seiner privaten Eingebung: Von Hamburg aus fährt er mit einem Leihwagen zu den KZ-Gedenkstätten, nach Auschwitz, Westerbork oder Dachau.

„Die Bilder habe ich dann so schnell wie möglich, so impulsiv wie möglich gemacht. Bei vielen anderen fotografischen Arbeiten, die ich beruflich gemacht habe, da habe ich etwas gesehen, habe gedacht: ja, das muss ich machen, aber jetzt ist nicht die richtige Tageszeit oder es ist irgendwas anderes – ich komme hierher wieder zurück. Das habe ich hier prinzipiell nicht getan.“

Bis auf das Äußerste reduzierte Bildsprache

In knapp acht Wochen entsteht das Buch „Stumme Zeugen – Photographien aus Konzentrationslagern“. Lange acht Jahre hatte Hartmann an seinem ersten großen Projekt „Daily Bread“, „Unser täglich Brot“, gearbeitet. 1954 begonnen, wirkt der 1962 erschienene Bildband zum weltweiten Getreideanbau, mit Porträts von Erntearbeitern, Ansichten von Weizensilos und dem Blick in orientalische Backstuben wie ein überbordendes Panorama. Dreißig Jahre später reduziert der Fotograf seine Bildsprache aufs Äußerste: die Eisenbahnrampe im Schnee, ein Karren mit Feldsteinen von Nebelschwaden umhüllt, Holzbaracken im Dämmerlicht.

„Ich fotografiere gerne in solchem Licht, in solchem sogenanntem schlechten Licht. Da ist in diesen Bildern nichts drin, was man vom Faktum her nicht schon kennt. Es sind eben reminders, Erinnerungen. Das ist nicht das richtige Wort, aber es entkommt mir auf Deutsch.“

Mahnungen über unmenschliche Bestrafungen und Erniedrigungen

Die Fotografien haben ihre eigene Sprache. Sie wirken tatsächlich wie „reminders“, wie Mahnungen:

„Es ist eine trübe, traurige Landschaft, die auch auf eine systematische, unerbittliche Ausführung dieser ganzen Technologie des Tötens – nicht nur des Tötens, sondern der Erniedrigung, des Verhungerns, des unmenschlichen Bestrafens – hindeutet.“

Die Bilder von Erich Hartmann, dem 1999 in New York gestorbenen Emigranten aus München, lenken den Blick seiner ehemaligen Landsleute auf die Spuren der Geschichte. Sie hat alles verändert, auch das, was einmal die gemeinsame „Heimat“ war.