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Mahler-Handschrift vor Versteigerung
"Man kann erkennen, wie er dachte, wie er komponierte"

Ende November wird sie versteigert, mit 3,5 Millionen Pfund kommt sie zum Aufruf, heute war sie in Hamburg ausgestellt: die Partitur von Gustav Mahlers Zweiter Sinfonie. "Das Manuskript ist durch und durch Mahler", sagte der Experte Lukas Baumann von Sotheby's im DLF. Besonders gut könne man die vielen "Anmerkungen in verschiedenen Bearbeitungsstadien" nachvollziehen.

Lukas Baumann im Gespräch mit Michael Köhler |
    Der Komponist Gustav Mahler
    Der Komponist Gustav Mahler (imago / United Archives International)
    Michael Köhler: 232 Seiten umfasst die Partitur von Gustav Mahlers Zweiter Sinfonie, der sogenannten "Auferstehungssinfonie". Sie stammt aus dem Nachlass des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Gilbert Kaplan. Ein kolossales Werk, was Umfang und Bedeutung anbetrifft. Es ist nicht nur ein musikalisch kulturelles Großwerk an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Es ist auch eine auratische Handschrift. Buchstäblich. In Zeiten von zip-Dateien und Datenkomprimierung sehen Manuskripte heute anders aus als zu Gustav Mahlers Zeiten. Mahlers Partitur spricht zum Leser. Den Musikhandschriften-Experten des Auktionshauses Sotheby’s, Lukas Baumann, habe ich gefragt: Welche äußere Gestalt hat die Handschrift?
    Lukas Baumann: Es sind 232 Seiten und das Spannende ist bei diesem Manuskript, dass es sich eigentlich genau in der Form befindet, in der es Gustav Mahler hinterlassen hat. Es ist nicht wie beispielsweise andere Manuskripte in Bibliotheken zusammengebunden worden, sondern es befindet sich weiterhin in den fünf getrennten Sätzen und dann auch innerhalb dieser Sätze weiterhin in loser Form. Mahler hat mit Bifolien gearbeitet, also mit Blättern, die mehrere Seiten haben und die dann miteinander verbunden werden konnten, und die sind weiterhin separat und lassen deswegen viele Rückschlüsse auf den Entstehungsprozess zu.
    Köhler: Herr Baumann, Mahlers Zweite ist ein kolossales Werk. Ich glaube, das kann man so einfach sagen. Entstanden zwischen 1888 und 1894. Ein kolossales Werk, was die Orchestrierung und den Umfang anbetrifft. Sie haben es schon erwähnt: mit fünf Sätzen. Er scherte sich wenig um die überlieferte Form, ihm ging es immer um Inhalte, die standen im Vordergrund. Findet das seinen Niederschlag auch im Manuskript?
    Baumann: Absolut! Das Manuskript ist durch und durch Mahler. Man kann erkennen, wie er dachte, wie er komponierte. Da sind beispielsweise die Anweisungen für das Orchester ganz charakteristisch. Es ist peinlichst genau aufgezeichnet, wo die Bläser stehen sollen, in der Ferne beispielsweise, und das ist sehr, sehr interessant bei diesem Manuskript.
    Köhler: Herr Baumann, der erste monumentale Rahmensatz, der mit tiefen Streichern beginnt, ist die Totenfeier. Es geht in dem Werk um nichts Geringeres als die, ich sage mal so, Überwindung des Todes durch Kunst, den Sieg des Ästhetischen. Darum wird sie auch gerne Auferstehungssinfonie genannt, obwohl Mahler sie nicht so genannt hat. Gibt es auch diesbezüglich Anmerkungen, denn es geht ja schlechterdings ums Ganze?
    Baumann: Ja, es geht um das ganz, ganz Grundlegende: Tod und Auferstehung. Und dann das Ganze in der Wiederholung des natürlichen Kreislaufes des Lebens. Er war beeinflusst von verschiedenen Quellen, zum Beispiel Nietzsche, aber auch dann ganz besonders ein Schlüsselerlebnis. Das war die Totenfeier von Hans von Bülow am 29. März 1894, der er beiwohnte, die ihm ganz entscheidende Inspiration lieferte. (*)
    Denn er hörte da einen Choral, der auf dem Gedicht von Klopstock basierte. Und da ging es um die Auferstehung, und das arbeitete er dann in den fünften Satz ein und schließt dort dann den Rahmen zu dem ersten Satz, in dem es um die Totenfeier geht. Also Totenfeier im ersten, Auferstehung im fünften Satz.
    Köhler: Nun sind Manuskripte immer dann ganz besonders kostbar, wenn es Annotationen gibt, Änderungen, Streichungen. Bei Goethe kennen wir das aus den weltanschaulichen Altersgedichten, wenn er dann durchstreicht "wie Köpfe Köpfen angeordnet passten" und drüberschreibt "wie Schädel Schädeln angeordnet passten". Gibt es so etwas auch in dem Manuskript von Mahler?
    Baumann: Durch und durch. Es gibt verschiedene Korrekturphasen. Er hat das Stück, wie Sie ja sagten, schon 1888 angefangen und litt dann unter einer Blockade und griff das Stück dann später wieder auf und überarbeitete dann das, was er vormals schon ausgearbeitet hatte. Wir sehen da viele Auskratzungen, und dann überarbeitete er das mit Tinte. Man sieht aber auch viele Markierungen in blauem Buntstift und wir gehen davon aus, dass die darauf zurückzuführen sind, dass er das Stück aufführte. Also, er dirigierte das, und hat dann nach dem Hören Anmerkungen gemacht, "lauter spielen" oder "leiser". Oder er hat zum Beispiel Teile des Fagotts im dritten Satz am Anfang herausgestrichen, weil er das nicht mehr wollte, und er hat das durch ein anderes Instrument ersetzt. Es ist wirklich durchdrungen von Anmerkungen in verschiedenen Bearbeitungsstadien.
    Köhler: Gibt es auch so etwas wie Anmerkungen, was weiß ich, "an dieser Stelle besonders feierlich" oder "zurückhaltend"? Gibt es solche Regularien oder fast schon Befehle auch in dem Manuskript?
    Baumann: Ja. Ich denke, man kann fast immer von Mahler diese Anweisungen als Befehle verstehen. Denn wir wissen ja, wie hart er mit seinem Orchester war, und häufig sind die Anmerkungen dann mit Ausrufezeichen. Er war sehr, sehr deutlich, was diese Instruktionen anging.
    Köhler: Zum ersten Mal, Herr Baumann, kommt dieses Manuskript, ein sensationelles Manuskript, zur Versteigerung aus amerikanischem Privatbesitz. Die Regeln des sogenannten Kulturgutschutzgesetzes finden darauf keine Anwendung, oder?
    Baumann: Das ist korrekt, denn das Werk ist aus den USA nach England gekommen. Und meines oder unseres Wissensstandes nach ist es möglich, das Werk hier nach Deutschland einzuführen und dann wieder auszuführen, weil es weniger als zwei Jahre im Land war.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    (*) Die Transkription des Gesagten war an dieser Stelle fehlerhaft und wurde korrigiert. Wir bitten um Entschuldigung.