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Mahnendes Beispiel sozialer Ungleichheit

Die spektakuläre Bregenzer Freilicht-Seebühne war Kulisse für Umberto Giordanos selten gespielte Oper "André Chenier" über das Schicksal des Dichters zu Zeiten der Französischen Revolution. Zugleich kam die Oper "Achterbahn" der britischen Komponistin Judith Weir heraus, eine Art Märchen um Textilarbeiterinnen.

Von Wolf-Dieter Peter |
    "Achterbahn"? Ja, das ist ein Bild für heutige Lebensläufe. In Judith Weirs Libretto erlebt Tina, Tochter in einer Welt der Schönen und Reichen, den Finanzcrash der Eltern. Trotzig steigt sie aus dieser "Welt der Lüge" aus. Ihr Weg führt durch Slums, durch Vandalismus, vorbei an Textil-Akkordarbeit in einen Waschsalon. Dort verschenkt sie ein Glückslos über 100 Millionen und findet ihr privates Glück bei einem smarten, reichen Jungmanager. Ihr ganzer Weg wird von der Stimme des Schicksals begleitet.

    Prompt lässt das knapp zweistündige Werk den Zuschauer reichlich ratlos: es überzeugt weder als modernes Märchen, als frech ironische Sozialsatire, als bissige Sozialkritik oder als Hoffnung weckende Utopie. So blieb – über die klare, eingängige Inszenierung von Chen Shi-Zheng hinaus – nur der Trost von Judith Weirs Musik.

    Judith Weir bewies, dass man Melodien und Harmonien gekonnt mit Dissonanzen mischen kann. Sie kann Stimmen ohne schrille, verstiegene Phrasen klingen und singen lassen - was Dirigent Paul Daniel mit den Wiener Symphonikern hörbar machte. Resümee der ersten von drei geplanten Uraufführungen: eine zu naiv-schlichte Handlung, eingebettet in sofort zugängliche zeitgenössische Musik. Am Abend zuvor auf der Seebühne Eindeutigeres:

    "Seine Hoheit – das Elend!" damit führt der durch das Lesen aufklärerischer Bücher revolutionär gesinnte Kammerdiener Gérard hungernde Bauern mitten in die tanzende Adelsgesellschaft. Die Französische Revolution ist da. Zuvor schon hatte der kritisch denkende und empfindende Dichter André Chénier gefragt: "In dieser ganzen Misere – was tun die Eliten?" Einzig die junge Comtesse Madeleine versteht das und verliebt sich in ihn. Doch in der Terrorphase der Französischen Revolution geraten beide in die Fänge der blutrünstig agierenden Revolutionstribunale. Ihre Liebe enthusiastisch feiernd besteigen beide das Schafott.

    Umberto Giordano hat auf das glänzende Libretto Luigi Illicas mal dramatisch packende, mal emotional hochglutende, also beste Theatermusik geschrieben. Er zitiert Revolutionsmusiken, gestaltet aber auch poetisch-lyrische Versunkenheit um das Liebespaar wie abgründige Machtreflexionen des zum Revolutionsführer aufgestiegenen Gérard. Das im Repertoirebetrieb unterschätzte Werk überzeugte nun ausgerechnet in der Bregenzer Opern-Air-Aufführung: Ulf Schirmer ist der einzige Dirigent, der sich mit Akustiker Wolfgang Fritz wochenlang zusammensetzt, um das ausgeklügelte Tonsystem mit seinen 500 Lautsprechern musikdramatisch optimal zu nutzen. Das war beeindruckend zu hören – und Bariton Scott Hendricks als Gérard, Tenor Héctor Sandoval als Chénier und Norma Fantini als Madeleine konnten von schönem Piano bis in wilde Ausbrüche glänzen.

    Doch die Bregenzer Seebühne bietet ja immer auch spektakuläre Inszenierungen. Regisseur Keith Warner und Bühnenbildner David Fielding haben den toten Marat aus Jacques-Louis Davids berühmten Bild statt in die Badewanne nun in den Bodensee gelegt. Marats Körper wird als vielfältiges Spielfläche und erstmals für Übertitel genutzt. Wohl aus Sorge, dass das wenig bekannte Werk nicht verstanden wird, hat Regisseur Warner Textaussagen zusätzlich bebildert oder durch ergänzende Figuren ausspielen lassen – bis hin zu einem Sensenmann, dessen Todesdrohung alle Szenen durchzieht. Einiges wirkt überdeutlich oder verdoppelt. Doch für den mitdenkenden Zuschauer gibt es da nicht nur den Satz, dass "die Revolution ihre Kinder frisst", sondern auch dass die Alten ihre Enkel als letztes Aufgebot in den Krieg schicken.

    Und dann findet sich Brandaktuelles wie die Anklage, dass da ein Land seine Dichter mordet und die sehnsuchtsvolle Utopie, "die Not der Geschlagenen und Unterdrückten zu lindern". Plötzlich wurde Giordanos gut 100 Jahre alte Oper auch zum mahnenden Beispiel, wohin allzu große soziale Ungleichheit führen kann. Dass der rauschende Beifall auch dieser Einsicht entsprang, ist aber wohl Utopie.