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Mai 1968 in Frankreich
"Das hat das Land, die Gesellschaft gewaltig verändert"

Studentenproteste, Generalstreik, Millionen von Menschen, die sich mit den Protestierenden durch alle Schichten hinweg solidarisierten: Der Mai 1968 habe Frankreich tiefgreifend verändert, sagte der Historiker Wilfried Loth im Dlf. Anders als in Deutschland sei es in Frankreich damals fast zur Revolution gekommen.

Wilfried Loth im Gespräch mit Birgid Becker |
    Daniel Cohn-Bendit 1968
    Der Soziologie-Student Daniel Cohn-Bendit war im Mai 1968 eine der führenden Figuren bei den Studierendenprotesten in Frankreich (picture alliance / dpa / Roland Witschel)
    Birgid Becker: Was waren die 68er-Jahre in Deutschland? Der finale Bruch mit der Täter-Generation des NS-Regimes, das endgültige Ende der Nachkriegszeit, der große Modernisierungsschub? Oder, wie es die Meinhof-Tochter Bettina Röhl unlängst schrieb, nur eine popkulturelle Luxusrevolution von verwöhnten und verblendeten jungen Leuten?
    50 Jahre danach, 50 Jahre nach dem Umwälzungsjahr '68 gibt es weiterhin Kontroversen um die Deutung, wobei man sagen muss: Das erstaunlichere Jahr '68, das hatten die Franzosen. Dabei war Frankreichs Jugend (ganz anders als die in Deutschland, in Italien, in den Niederlanden, in den USA ganz lange still. In den Jahren vor '68, als es in Berlin (Westberlin), in Rom, Amsterdam, Berkeley längst hoch herging, da tat sich in Paris rein gar nichts. Bis dann der Mai '68 mit einem Mal ein ganzes Land lahmlegte.
    Wie kam das, so spät und dann so eruptiv?
    Darüber hat der Historiker Wilfried Loth ein Buch geschrieben, in dem er sehr akribisch die Ereignisse nachzeichnet. Mit ihm habe ich gesprochen und ihn zum Start gebeten, diese Initialzündung nachzuzeichnen. Wie kam es damals – so heißt der Titel – fast zur Revolution?
    Wilfried Loth: Die Revolution oder Fast-Revolution in Frankreich hat sich entwickelt aus den Problemen, die die Studierenden in dieser neuen Fakultät in Nanterre vor den Toren von Paris, mitten im Industriegebiet, hatten: Eine Vervierfachung der Studierendenzahlen innerhalb von vier Jahren, entsprechend chaotische Bedingungen, eine Studienreform, die nicht funktioniert hat, und dann ganz praktische alltägliche Probleme. Die Jungs wollten gerne auch abends mal die Studienheime der Mädchen besuchen, aber das war verboten und dieses Verbot konnte die Universitätsleitung nicht aufheben. Das musste die Regierung entscheiden und sie hat eben nicht entschieden, und so hat sich der Konflikt in Nanterre in den ersten Monaten des Jahres 1968 hochgeschaukelt.
    "Es hat sich eine breite Solidarisierung in der Bevölkerung entwickelt"
    Becker: Also ganz harmlose, fast teeniehafte Themen?
    Loth: Auf ganz harmlose Themen. Es gab dann eine gewisse Politisierung durch die trotzkistischen Studenten und die maoistischen Studenten, die das Thema Vietnamkrieg mit in die Diskussion brachten. Es spielte aber keine so große Rolle. Entscheidend war dann, dass ein politisch gar nicht weiter gebundener Soziologiestudent namens Daniel Cohn-Bendit es verstand, diese alltäglichen konkreten und sehr essenziellen Probleme der Studierenden mit der großen Perspektive, dass sich alles ändern muss, dass die ganze Welt im Aufbruch ist und dass die Entfremdung aufgehoben werden muss, zu verbinden. Das hat er in seinen Interventionen immer wieder getan, bis sich dann am 22. März eine Bewegung des 22. März bildete – übrigens in Anlehnung an die Bewegung des 26. Juni 1954 von Fidel Castro. Da sieht man gleich, mit welchem Anspruch die Studierenden da aufgetreten sind, aber auch, mit welcher Ironie.
    Das hat dann gezündet auch in Paris selbst, und über die Disziplinierungsversuche des Dekans und des Rektors hat sich dann eine breite Solidarisierung der Studierenden mit dieser Gruppe des 22. März entwickelt und dann eine breite Solidarisierung in der Bevölkerung mit den protestierenden Studierenden.
    81 Prozent der Pariserinnen und Pariser waren aufseiten der Studenten
    Becker: Das ist sicherlich ein Unterschied zu '68 in Deutschland. Wie kam es in Frankreich dazu, dass der Protest linker Studenten so viel Resonanz gefunden hat in der breiteren Bevölkerung?
    Loth: Zum einen wegen dieser schon skizzierten Verbindung der Alltagsprobleme mit den großen Themen. Zum Zweiten vor allen Dingen aber durch eine sehr geschickte Strategie der Gruppe, die sich dann als Führung der Studierenden herausgebildet hat. Sie haben aufgerufen zum Protest gegen die Aburteilung einiger Studierender, gegen die Schließung der Sorbonne, der berühmten Pariser Universität, und gegen die Abriegelung des Universitätsviertels durch die Polizei. Das waren drei Forderungen, die Jedermann mitvollziehen und nachvollziehen konnte und die auf sehr große Sympathie in der Bevölkerung gestoßen sind. Eine Meinungsumfrage vom 10. Mai sagt, dass 81 Prozent der Pariserinnen und Pariser aufseiten der Studierenden in dieser Auseinandersetzung waren.
    "Es drohte eine sehr gewalttätige Auseinandersetzung"
    Becker: Jetzt waren wir bei der Kontroverse um die Schließung der Sorbonne angekommen, der Universität in Paris. Schließlich die Nacht der Barrikaden. Wenn ich jetzt keinen zu großen Sprung gemacht habe, erzählen Sie.
    Loth: Die Auseinandersetzung zwischen Regierung, die ja die Aufhebung der Schließung der Sorbonne hätte genehmigen müssen und den Abzug der Polizei, und Protestierenden ist eskaliert in den ersten Maitagen. Diese Eskalation mündete dann in eine große Demonstration am 10. Mai, an der sich etwa 30.000 Studierende und andere Protestierende beteiligt haben. Die Frage war, wie endet diese Demonstration. Die ging bis zum Eingang des Jardin de Luxembourg in der Nähe der Sorbonne. Die Sorbonne war von den Polizisten abgesperrt und die Studierenden hatten natürlich jetzt die Tendenz, die Polizisten anzugreifen, um die Sorbonne zu besetzen. Also es drohte eine sehr gewalttätige Auseinandersetzung an diesem späten Abend des 10. Mai.
    Grundlage für einen landesweiten Generalstreik
    Becker: Am Rand der Revolution - war Frankreich das, am Rand der Revolution zu diesem Zeitpunkt?
    Loth: Zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das Entscheidende war, dass das ganze Land diese Auseinandersetzung der Nacht vom 10. Auf den 11. Mai mitbekommen hat, und zwar deswegen, weil die beiden privaten Rundfunksender RTL und Europa 1 live berichtet haben von der Errichtung der Barrikaden um die Sorbonne herum und in der Nähe der Sorbonne und von den Verhandlungen zwischen Polizei und Regierung auf der einen Seite und Studentenführern auf der anderen Seite. Diese Verhandlungen gingen bis weit nach Mitternacht und haben zu keinem Ergebnis geführt, beziehungsweise zu dem Ergebnis, dass ab zwei Uhr morgens dann die Polizei mit einer sehr gewaltsamen Aktion die Barrikaden wieder niedergerissen hat. Auch das hat ganz Frankreich in einer Livereportage miterlebt und die Menschen haben sich weiterhin mit den Studenten, die da kämpften solidarisiert: "Wir, das Volk, gegen die Obrigkeit."
    Das war die Grundlage für einen landesweiten Generalstreik und große Demonstrationen nicht nur in Paris, sondern in allen größeren Städten des Landes am 13. Mai – ein Generalstreik, der alle oppositionellen Kräfte gegen die Regierung des General de Gaulle mobilisiert hat. Das wiederum, dieser Generalstreik des einen Tages, hat ernsthafte und langfristig angelegte Streikaktionen zunächst in einigen wenigen Betrieben, aber dann in einer Kettenreaktion in immer mehr Betrieben ausgelöst, sodass innerhalb einer Woche vom 14. bis 22. Mai das gesamte Land lahmgelegt war. Nichts ging mehr. Die Bevölkerung hat Lebensmittelvorräte angelegt. Es ist kein öffentliches Verkehrsmittel mehr gefahren. Es konnte auch kein Auto mehr fahren, weil der Benzinnachschub blockiert war. Und da, in der dritten Maiwoche, kann man wirklich davon sprechen, dass Frankreich am Rande einer Revolution stand.
    "In Deutschland ist im Jahr '68 gar nicht mehr viel passiert"
    Becker: Das ist der große Unterschied zu dem, was in Deutschland passierte im Jahr '68?
    Loth: In Deutschland ist im Jahr '68 gar nicht mehr viel passiert. Es gab im Mai noch Demonstrationswellen gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze. Aber als der Bundestag dann unbeeindruckt von dieser Demonstrationswelle am 30. Mai die Notstandsgesetze verabschiedet hat, dann war Schluss und danach wurde überhaupt nicht mehr agitiert und demonstriert im großen Stil und es gab in der Bundesrepublik Deutschland auch keinerlei Solidarisierung der arbeitenden Bevölkerung mit den Studierenden. Es gab große Sympathien unter Linksintellektuellen, Professoren und so weiter, aber die haben bekanntlich keine soziale Bewegung ausgelöst.
    "Das hat das Land, die Gesellschaft gewaltig verändert"
    Becker: Allgemein wird gesagt, der Mai _68 hat Frankreich verändert. Ist das wirklich so? Charles de Gaulle blieb zunächst an der Macht. 1969 trat er dann zurück. Aber '68 gab es noch Neuwahlen zur Nationalversammlung; da haben die Gaullisten doch einen deutlichen Sieg davongetragen. Der Mai '68 hat Frankreich wirklich verändert?
    Loth: Der Mai '68 hat Frankreich tiefgreifend verändert – dadurch, dass Millionen von Menschen sich nicht nur mit den Protestierenden solidarisiert haben, sondern anfingen, über ihre eigenen Lebensumstände zu diskutieren und nach Möglichkeiten der Demokratisierung, der Selbstbestimmung in allen möglichen Lebensbereichen zu fragen.
    Insofern ist der Mai '68 und genau der Mai '68 deutlicher als in anderen Ländern oder auch in Deutschland der Startpunkt für alle möglichen Emanzipationsbewegungen gewesen, insbesondere für den Feminismus, aber auch für sexuelle Minderheiten, für die Reformierung der Schule, für die Reformierung der Universitäten, für stärkere Mitbestimmung in Betrieben und so weiter, und das hat das Land, die Gesellschaft gewaltig verändert. Insofern war der Wahlsieg der Gaullisten am 30. Juni ja nur ein scheinbarer Sieg oder ein Pyrrhussieg; er war eine Etappe auf der Veränderung auch des politischen Systems.
    Franzosen sind mit den Ergebnissen aus dem Mai '68 sehr zufrieden
    Becker: Ich hatte eingangs erwähnt, dass es in Deutschland doch immer wieder kontroversen gibt über die Frage, wie die Revoltenjahre um '68 herum zu bewerten sind. Gibt es eine ähnliche Deutungskontroverse auch in Frankreich um den Mai '68, oder ist man sich da einiger?
    Loth: Sie gab es vor zehn Jahren, im Jubiläumsjahr 2008. Da hat sich der damalige Präsident Sarkozy an die Spitze derjenigen gestellt, die '68er für die Auflösung der Gesellschaft, den Mangel an Solidarität und so weiter und den Verlust aller Werte verantwortlich gemacht haben. Diese Debatte ist allerdings unterdessen ziemlich abgeflaut und eine Meinungsumfrage zeigt, dass im Schnitt 80 Prozent der Franzosen mit den Ergebnissen des Mai '68, mit diesem gesellschaftlichen Umbruch sehr zufrieden sind. Sie wollen davon nichts mehr zurücknehmen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.