Von der Vorhalle des Mailänder Hauptbahnhofs Milano Centrale führt eine gewaltige Freitreppe hoch zu den Gleisen, in der Mitte gibt es zwei Podeste und hier ist der Platz der Syrer. An diesem Vormittag sind es vielleicht 30, die hier gelandet sind. Italienisch kann keiner, einer der Jüngeren kann ein paar Brocken Englisch, seinen Namen will er nicht nennen.
Er hat ein Jahr lang Psychologie studiert, dann haben die Eltern erst seine beiden Brüder nach Europa geschickt. Sie sind in Norwegen gelandet. Dann hat er sich nach Bengasi in Libyen durchgeschlagen.
Stefano, ein junger Helfer, der sich an diesem Vormittag mit zehn weiteren Freiwilligen um die Flüchtlinge kümmert, hilft später beim Übersetzen. Sechs Tage war der junge Syrer auf See, vermutlich an Bord eines Schlepperbootes; dann wurde er mit 130 anderen Flüchtlingen auf eine winzige Nussschale gezwängt, die dann irgendwo in der Nähe der italienischen Küste von der Leine gelassen wurde, in der Hoffnung, dass sie irgendwann von der Küstenwache gefunden wird. Oder dass sie in die Reichweite des italienischen Mobilfunknetzes treibt.
Stefano übersetzt den Bericht eines weiteren Syrers, Anfang 40, Kaufmann, müder Blick und Bartstoppeln:
"Von Syrien ist er nach Sudan geflohen, ist durch die Sahara nach Libyen eingereist und hat dort einen Platz auf einem Flüchtlingsboot bekommen. Sechs Tage war er auf See und nennt sie die Reise des Todes."
Ein weiterer Syrer kommt dazu, er hat ein paar Zugtickets in der Hand für den Regionalzug nach Verona.
Das Tor zum neuen Leben
Mailand ist der Sammelpunkt für die Flüchtlinge, die die Fahrt übers Mittelmeer überlebt haben und weiter nach Mittel- oder Nordeuropa wollen. Während viele Flüchtlinge aus Schwarzafrika in Italien bleiben, wollen die meisten Syrer nach Deutschland, Holland, Schweden oder Norwegen.
Und wenn sie sich nicht wieder in die Hand von Schleppern begeben wollen, die sie für mehr als 1.000 Euro in irgendwelchen Transportern nach Norden karren, ist Verona das Tor dorthin, denn hier halten die Züge der Brennerlinie, die über Innsbruck nach München oder Lindau führt.
Und da sich die Behörden in Venezien weigern, Flüchtlinge aufzunehmen und unterzubringen, landen sie in Milano Centrale.
Mehr als ein Frühstück am Bahnhof
Susy Iovieno ist eine energische Mailänderin, sie organisiert die Freiwilligen, die an ihren signalorangenen Westen zu erkennen sind. Sie haben zwei Klapptische aufgebaut und bieten den Syrern Wasser und Frühstück an.
"Wir haben Hörnchen, Kekse, und wir machen ihnen Sandwiches mit Marmelade und Nutella. Jetzt wird es allmählich kalt, da tut die Schokolade gut, sagt sie."
Im Juni ist sie per Zufall hier vorbeigekommen und hat gesehen, was sich in dem Bahnhof abspielt, damals waren es über 1.000 Flüchtlinge pro Tag, die hier durch gekommen sind, - spontan hat sie eine Facebook-Gruppe gegründet und beschlossen, sich um die Menschen zu kümmern. Inzwischen sind eine weitere Hilfsorganisation und eine Sozialarbeiterin der Stadt vor Ort.
"Sie kommen in den Häfen in Süditalien an, von dort kommen sie mit dem Zug oder manchmal sogar mit Bussen, den Autobussen, die die Polizei organisiert hat."
Unter dem immensen Druck der Flüchtlingswelle und unter Missachtung des Dubin-3-Abkommens waren die italienischen Behörden froh über jeden Flüchtling, der nicht in Italien bleiben wollte und haben tatkräftig mitgeholfen, sie nach Norden weiterzuleiten, bevor sie ihren Asylantrag stellen.
Mittlerweile ändert sich die Praxis, berichtet Stefano.
Seine Hände wurden auf dem Rücken gefesselt, sagt er und zeigt auf den jungen Syrer, der Psychologie studiert, dann wurden ihm mit Gewalt die Fingerabdrücke abgenommen.
Und Fingerabdrücke abnehmen bedeutet: Es ist dokumentiert, dass er in Italien in die EU eingereist ist, also muss er seinen Asylantrag hier stellen.
Mit dem Zug in eine ungewisse Zukunft
Am Mittag startet der Regionalzug nach Verona, dort geht es dann nach kurzer Pause weiter mit dem Eurocity Richtung München. In fast allen Wagen sieht man sie wieder, die Gesichter, die zuvor in Milano Centrale gefrühstückt haben.
Und als der Zug dann am Nachmittag das Etschtal aufwärts von Brixen in Richtung Brenner rattert, steigt die Spannung spürbar. In einem Abteil sitzen zwei junge Syrer und ein Bangladeschi.
Er war als Gastarbeiter in Libyen, als da der Bürgerkrieg ausgebrochen ist, hat er das Geld, das eigentlich für seine Familie bestimmt war, in einen Platz auf einem Schlepperboot investiert, und hofft jetzt auf eine Zukunft in Deutschland.
"Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Brennen."
Während die beiden Syrer die Sonnenbrillen tief ins Gesicht haben und sich schlafend stellen, wird er mit jedem Kilometer, den sich der Zug der Grenze nähert aufgeregter, und als der Eurocity endlich ohne Kontrolle den Grenzbahnhof verlässt, kann er die Tränen nicht mehr zurückhalten.