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"Man kann nicht einfach zwei Millionen Tunesier unter Generalverdacht stellen"

Hardy Ostry von der Konrad-Adenauer-Gesellschaft hält die Einbindung bewährter Mitglieder der gestürzten Regierung für sinnvoll: Nicht alle seien korrupt - zudem brauche man in dieser Phase auch politische Erfahrung.

    Gerwald Herter: In unserer Sendung "Das war der Tag" hat mein Kollege Jonas Reese mit Hardy Ostry von der Konrad-Adenauer-Gesellschaft über den Umsturz in Tunesien gesprochen. Er hat Hardy Ostry zunächst gefragt, ob die Aufnahme von Oppositionellen in die tunesische Übergangsregierung tatsächlich ein Zeichen der Demokratie sei, oder ob sie nur Alibicharakter habe.

    Hardy Ostry: Premierminister Ghannouchi hat bei der Regierung deutlich gemacht, dass das der Beginn des Demokratisierungsprozesses ist, beziehungsweise dass die Regierung der nationalen Einheit den Weg dazu bereiten soll. Ich halte es aus strategischen Überlegungen für gar nicht schlecht, eine solche Regierung zu bilden, weil schaut man sich die Opposition in Tunesien an, so war sie über ihre Existenz hinaus eigentlich kaum programmatisch und strukturell vorhanden. Und jetzt auch den Rückgriff zu machen auf einige Experten, Technokraten, die sich bewährt haben in der vorhergehenden Regierung, die auch nach allem, was wir wissen, nicht in die Korruptionsfälle und den Machtmissbrauch von Ben Ali verwickelt waren, nun zu integrieren, halte ich für einen guten Ansatz.

    Jonas Reese: Anscheinend sieht das Volk das aber anders. Die Demonstrationen gingen ja weiter.

    Ostry: Gut, wie repräsentativ jetzt diese gesamten Demonstrationen sind, die sind natürlich ernst zu nehmen. Aber ich glaube, hier müsste man sinnvollerweise wirklich einen Kompromiss eingehen, denn man darf ja auch nicht vergessen, wie Sie selber schon sagen, es handelt sich hier um eine Staatspartei. Das heißt, gut 20 Prozent der Bevölkerung war organisiert oder Mitglied dieser Partei in unterschiedlicher Intensität, und diese Partei hat auch in ihrer vorhergehenden Deklarierung als Neo-Destour-Partei unter Bugibba die Geschichte des Landes geprägt. Also man kann nicht einfach zwei Millionen Tunesier A unter Generalverdacht stellen und völlig ausschließen.
    Der zweite Punkt ist einfach: Gerade in dieser kritischen Phase braucht es einfach Erfahrung. Es braucht diejenigen wie den Premierminister Ganushi, der quasi auch als derjenige, der die Regierung ordnet, auch früher schon geordnet hat als Technokrat. Die braucht es jetzt im Moment. Ich will gar nicht ausschließen, dass das nur für diesen Übergangsprozess der Fall ist, aber ich denke, es wäre illusorisch, jetzt nur auf der Basis der Oppositionspolitiker eine Regierung aufzubauen.

    Reese: Sie haben die unterentwickelte Opposition schon angesprochen. Sind da zwei Monate bis zu den Neuwahlen nicht zu kurz, einerseits, um die Opposition Kraft sammeln zu lassen, und andererseits auch, um Wahlen zu organisieren?

    Ostry: Das ist sicher richtig. Ich halte die Zwei-Monats-Frist, die durch die tunesische Verfassung vorgegeben ist, also 60 Tage, gerade vor dem Hintergrund der jetzigen Situation in der Tat für sehr, sehr kurz. Der Faktor Zeit spielt eine große Rolle. Das heißt, diese Parteien müssen jetzt wirklich schauen, dass sie auf die Beine kommen, dass sie sich strukturieren, dass sie sich organisieren. Ob das erfolgversprechend möglich sein wird, muss man abwarten, aber ich glaube, im Moment ist es erst einmal wichtig, dass es diese Regierung gibt, dass sie die entsprechenden Vorbereitungen trifft, dass sie eine unabhängige Wahlkommission erstellt. All das sind ganz, ganz entscheidende Punkte, damit die Tunesier wirklich wieder Vertrauen gewinnen.

    Reese: Welche ernst zu nehmenden Oppositionsparteien oder Gruppierungen haben wir denn in Tunesien?

    Ostry: Wir haben natürlich mit Nejib Chebbi jemanden, der der Progressistenpartei vorsteht, der sich schon im Umfeld der gesamten Unruhen auch immer wieder zum Sprachrohr gemacht hat und auch dafür sorgte, dass Informationen ins Ausland gelangten. Ich persönlich sehe im Moment unter allen dreien, die jetzt auch in die Regierung gekommen sind – von Parteien, ich rede nicht von der Zivilgesellschaft -, niemanden, der wirklich als schillernde Figur und Kristallisationspunkt einer neuen Regierung dastehen könnte. Das wird sehr, sehr schwierig.

    Reese: Jetzt hat der ehemalige Vorsitzende der verbotenen Islampartei, Rashid Ganushi, erklärt, er wolle aus dem Londoner Exil zurückkehren. Muss jetzt Europa beziehungsweise Amerika Angst vor einer Islamisierung Tunesiens haben?

    Ostry: Das ist eine schwierige Frage. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir diese Angst nicht haben müssen, weil ich sage mal, der tunesische Gesellschaftsentwurf, so wie er auch seit der Unabhängigkeit betrieben wurde, ist keiner, der eigentlich Platz lässt für islamistische Strömungen in erster Reihe. Ganushi wird natürlich versuchen, seine Rückkehr entsprechend zu inszenieren. Er wird sicherlich nicht unbedingt viel auf die Hauptstadt politisch Wert legen, sondern insbesondere in ärmere Gegenden fahren und dort versuchen, den Slogan "Der Islam ist die Lösung" anzubringen. Aber ich glaube und ich sage auch offen ich hoffe, dass er damit nicht sehr viel Erfolg haben wird.

    Reese: Blicken wir in die Nachbarstaaten von Tunesien. Dort ähnelt sich ja die innenpolitische Situation etwas mit Tunesien. Algerien, Ägypten, Marokko, Libyen werden ebenfalls von Autokraten größtenteils beherrscht, auch hier ist die Arbeitslosigkeit besonders in der jungen Bevölkerung recht groß. Werden wir also eine Welle der Revolutionen in Nordafrika erleben?

    Ostry: Ich würde das sehr, sehr vorsichtig so sehen. Ich weiß natürlich – und in den Kommentaren kommt das auch immer wieder vor -, dass man jetzt schon von einem Dominoeffekt oder von einem Flächenbrand spricht, der sich in der Region des Maghreb oder auch des Mashriq breit macht. Ich empfehle da wirklich den Blick, den einzelnen Blick auf jedes Land. Jedes Land hat unterschiedliche Machtkonstellationen. Nicht in jedem Land bietet sich auch sofort ein Träger einer Protestbewegung an. Es ist richtig, wir haben eine Menge soziale Unruhe im Moment. Das was in Tunesien passierte, wird vielen Machthabern, das haben sie auch schon gezeigt, ein warnendes Zeichen sein, sowohl in Jordanien, sowohl in Ägypten, als auch in Algerien. Aber ob das schon reicht, um jetzt von neuen Umstürzen in anderen Ländern zu sprechen, das wage ich zu bezweifeln.

    Herter: Hardy Ostry, Teamleiter Afrika und Naher Osten bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, über den Umsturz in Tunesien und die Folgen. Mein Kollege Jonas Reese hat ihn befragt.

    Tunesien: Die neue Regierung ist (fast) die alte