Peter Kapern: Auch nach dem Rücktritt von Hosni Mubarak will die Fieberkurve im arabischen Raum nicht sinken. In Bahrain hat die Opposition für heute zu einem "Tag des Zorns" aufgerufen und in Ramallah ist heute Vormittag die palästinensische Regierung zurückgetreten. Der alte Regierungschef, Salam Fayyad, soll allerdings auch der neue sein. Ob das die Menschen davon abhält, ihren Unmut wie in anderen Teilen der arabischen Welt auch öffentlich und massenhaft zu bekunden, bleibt abzuwarten.
In den vergangenen Tagen sind immer wieder Parallelen gezogen worden zwischen der Situation in Europa 1989/90 und derjenigen im arabischen Raum heute. Freiheitsbewegungen spülen diktatorische Regime weg, die Parallele stimmt. Aber möglicherweise auch in anderer Hinsicht. Wie 1989/90 machen sich nun wieder viele Menschen auf in die wohlhabenderen Teile der Welt, um ihr Glück zu suchen. Tausende Tunesier kamen in den vergangenen Tagen auf der italienischen Insel Lampedusa an. Die italienische Regierung hat den humanitären Notstand aus- und die EU mit ihren Grenzschützern von Frontex um Hilfe angerufen.
Seit der Aufstand in der arabischen Welt begonnen hat, mussten sich die europäischen Regierungen die Frage stellen lassen, warum sie so lange mit den Diktatoren in Nordafrika so gut zusammengearbeitet haben. Eine Antwort darauf lautet, weil die dafür gesorgt haben, dass die Flüchtlingsströme aus Afrika auf ihrem Weg nach Europa zum großen Teil aufgehalten wurden. Grenzwächter im Auftrag der EU, das waren sie. – Kurz vor der Sendung habe ich Barbara Lochbihler, ehemals Chefin von Amnesty International Deutschland und heute Europaabgeordnete der Grünen, gefragt, ob das drastische Anwachsen der Flüchtlingszahlen der Preis ist, den Europa für die Freiheit in Tunesien zahlen muss?
Barbara Lochbihler: Also es ist ein Faktum, dass Menschen versuchen, nach Europa zu kommen, augenscheinlich, weil sie sich bedroht fühlen, aber auch, weil sie Arbeit suchen. Den Umstand, den wusste eigentlich die Europäische Union schon und man hätte auch konstant daran arbeiten sollen, zum Beispiel legale Migration zuzulassen, und daran hapert es. Und jetzt, wenn man sieht, die Menschen kommen in Lampedusa an, ich denke, man muss unbedingt hier nach Flüchtlingsschutz-Prinzipien vorgehen. Man muss die Menschen einzeln befragen, was ihnen passiert ist, warum sie kommen, und man kann keinesfalls so tun, als ob das Problem gelöst ist, indem man sie nicht mehr kommen lässt.
Kapern: Welchen Umfang müsste denn diese legale Migration haben, die Sie gerade angesprochen haben?
Lochbihler: Man muss einzelne Arbeitsmarktsegmente innerhalb der EU bewerten und schauen, wo haben wir einen Bedarf, und das dann auch anbieten. Da gibt es wirklich viel auch wissenschaftlichen Rat. Es gibt ja auch eine negative demografische Entwicklung in der EU, die sagt, wir brauchen Arbeitskräfte, aber es hakt an der Umsetzung. Also es gibt verschiedene Vorschläge, die sind aber in der Vergangenheit wirklich nicht bearbeitet worden, sondern man hat darauf gesetzt, diejenigen ohne Papiere zu bekämpfen.
Kapern: Wenn man sieht, wie zurückhaltend die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten bei diesem Thema sind, dann kann man erahnen, dass das, was Sie fordern, mindestens ein langfristiger Prozess ist. Das hilft jetzt aktuell nicht weiter. Mit wem kann die EU jetzt eigentlich in Tunesien beispielsweise sprechen, um etwas gegen diesen Flüchtlingsstrom zu unternehmen?
Lochbihler: Die Lady Ashton, die Außenbeauftragte, ist ja gerade in Tunesien, letzte Woche war eine Parlamentsdelegation dort, es sind Gespräche geführt worden mit der Übergangsregierung, aber auch mit Vertretern der Zivilgesellschaft. Die Parlamentarier, die zurückgekommen sind, die haben nicht über dieses Problem gesprochen, aber es muss natürlich thematisiert werden. Ich denke, ...
Kapern: Gibt es denn schon ausreichend stabile Verantwortungsstrukturen in Tunesien?
Lochbihler: Das kommt auf die Bereiche an. Gerade im Justizwesen sind da doch noch große Bedenken, ob das auch so funktionieren wird. Man muss ja jetzt die Wahl vorbereiten, das ist natürlich mehr, als nur eine Wahl abzuhalten. Man muss freie Medien und Presse garantieren. Also dieses Flüchtlingsproblem ist jetzt nicht sehr hoch angesiedelt auf der innertunesischen Agenda. Die EU kann das aber verbinden, zum Beispiel mit der Zusage, dass man wirklich intensiv an dem wirtschaftlichen Aufbau arbeitet. Es gibt ein Abkommen zwischen der EU und Tunesien, besonders die Handelsbeziehungen positiv zu gestalten. Das ist ein Ansatzpunkt, aber auch das ist mittelfristig. Kurzfristig, wenn ich das noch sagen kann, ist es auch eine Pflicht der anderen EU-Mitgliedsstaaten, hier Italien jetzt nicht allein zu lassen, sondern auch anzubieten, wenn jetzt aktuell so viele Menschen kommen, auch einige dieser Flüchtlinge zu übernehmen.
Kapern: Wie groß ist die Bereitschaft, dies zu tun?
Lochbihler: In der Vergangenheit ist es rein freiwillig gewesen und es gab Staaten wie Frankreich, die Personen aufgenommen haben, nicht viele, andere haben keine aufgenommen.
Kapern: Und Deutschland?
Lochbihler: Deutschland meines Wissens keine und es liegt an der deutschen Regierung, auch hier konkret solidarisch zu sein. Man kann sich auch nicht auf die italienische Regierung verlassen. Auch in der Vergangenheit haben sie sich hinweggesetzt über Flüchtlingsschutz-Normen. Frühere Innenminister Italiens haben sogar aufgefordert, diejenigen, die keine Papiere haben, aus dem Land zu jagen. Also hier muss man erst mal die Regierung kritisieren, wenn sie sich über Flüchtlingsschutz hinwegsetzt, aber man muss sie auch unterstützen bei so einem akuten Zusprung, indem man größere Kontingente auch übernimmt.
Kapern: Das ist ja nicht die erste große Flüchtlingswelle nach Lampedusa, die letzte hat es 2008/2009 gegeben. Nun scheint die italienische Regierung gleichwohl von der Entwicklung überrollt zu werden. Haben die da etwas verschlafen in Rom?
Lochbihler: Man hat sich sicher gewähnt, dass diese Regierungen auf der anderen Seite des Mittelmeers eben die Grenze dicht machen. Es gibt ja da auch Abkommen zum Beispiel mit Libyen. Und durch diese Transformation jetzt in Tunesien und in Ägypten ist das in sich zusammengebrochen. Das ist auch eine Konsequenz davon und da hat man nicht schnell genug reagiert. Was jetzt aber auch mitbedacht werden muss ist: Wie verhält sich die EU-Grenzschutzagentur, dieses Frontex? Da hat ja die Kommissarin Malmström schon gesagt, sie muss prüfen, inwieweit man diese Hilfe oder diese Agentur einsetzen kann. Das kann man erst mal nicht verwerfen, aber wir wissen ja aus der Vergangenheit, dass Frontex nicht im Sinne unbedingt der Flüchtlinge gehandelt hat, sondern die Hauptaufgabe war, einfach die Grenzen dicht zu machen. Also wenn hier diese Grenzschutzagentur angerufen wird, um zu schützen, dann muss auch der Flüchtling geschützt werden, und hier gibt es einen hohen Mangel an Transparenz, wie Frontex vorgeht, wir diskutieren das gerade im Parlament, und wir wissen auch nicht, ob Frontex immer menschenrechtskonform vorgeht.
Kapern: Was ist nun Ihr Votum? Sagen Sie, dass Frontex Italien nicht zur Hilfe kommen darf, so wie Italien dies ja erbittet?
Lochbihler: Also man muss sagen, wie dieser Auftrag genau lautet. Wenn sie Flüchtlingen helfen, übers Meer zu kommen – es sind ja auch schon welche zu Tode gekommen -, um zu prüfen, dass sie an ihr Recht kommen, wenn sie Schutz brauchen, dann können sie das tun. Wenn aber der Schutz darin besteht, dass man alle zurück aufs Meer treibt und sie nicht an Land kommen lässt, dann kann ich das nicht für gut heißen.
Kapern: Ein Gespräch mit der Grünen-Europaabgeordneten Barbara Lochbihler.
In den vergangenen Tagen sind immer wieder Parallelen gezogen worden zwischen der Situation in Europa 1989/90 und derjenigen im arabischen Raum heute. Freiheitsbewegungen spülen diktatorische Regime weg, die Parallele stimmt. Aber möglicherweise auch in anderer Hinsicht. Wie 1989/90 machen sich nun wieder viele Menschen auf in die wohlhabenderen Teile der Welt, um ihr Glück zu suchen. Tausende Tunesier kamen in den vergangenen Tagen auf der italienischen Insel Lampedusa an. Die italienische Regierung hat den humanitären Notstand aus- und die EU mit ihren Grenzschützern von Frontex um Hilfe angerufen.
Seit der Aufstand in der arabischen Welt begonnen hat, mussten sich die europäischen Regierungen die Frage stellen lassen, warum sie so lange mit den Diktatoren in Nordafrika so gut zusammengearbeitet haben. Eine Antwort darauf lautet, weil die dafür gesorgt haben, dass die Flüchtlingsströme aus Afrika auf ihrem Weg nach Europa zum großen Teil aufgehalten wurden. Grenzwächter im Auftrag der EU, das waren sie. – Kurz vor der Sendung habe ich Barbara Lochbihler, ehemals Chefin von Amnesty International Deutschland und heute Europaabgeordnete der Grünen, gefragt, ob das drastische Anwachsen der Flüchtlingszahlen der Preis ist, den Europa für die Freiheit in Tunesien zahlen muss?
Barbara Lochbihler: Also es ist ein Faktum, dass Menschen versuchen, nach Europa zu kommen, augenscheinlich, weil sie sich bedroht fühlen, aber auch, weil sie Arbeit suchen. Den Umstand, den wusste eigentlich die Europäische Union schon und man hätte auch konstant daran arbeiten sollen, zum Beispiel legale Migration zuzulassen, und daran hapert es. Und jetzt, wenn man sieht, die Menschen kommen in Lampedusa an, ich denke, man muss unbedingt hier nach Flüchtlingsschutz-Prinzipien vorgehen. Man muss die Menschen einzeln befragen, was ihnen passiert ist, warum sie kommen, und man kann keinesfalls so tun, als ob das Problem gelöst ist, indem man sie nicht mehr kommen lässt.
Kapern: Welchen Umfang müsste denn diese legale Migration haben, die Sie gerade angesprochen haben?
Lochbihler: Man muss einzelne Arbeitsmarktsegmente innerhalb der EU bewerten und schauen, wo haben wir einen Bedarf, und das dann auch anbieten. Da gibt es wirklich viel auch wissenschaftlichen Rat. Es gibt ja auch eine negative demografische Entwicklung in der EU, die sagt, wir brauchen Arbeitskräfte, aber es hakt an der Umsetzung. Also es gibt verschiedene Vorschläge, die sind aber in der Vergangenheit wirklich nicht bearbeitet worden, sondern man hat darauf gesetzt, diejenigen ohne Papiere zu bekämpfen.
Kapern: Wenn man sieht, wie zurückhaltend die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten bei diesem Thema sind, dann kann man erahnen, dass das, was Sie fordern, mindestens ein langfristiger Prozess ist. Das hilft jetzt aktuell nicht weiter. Mit wem kann die EU jetzt eigentlich in Tunesien beispielsweise sprechen, um etwas gegen diesen Flüchtlingsstrom zu unternehmen?
Lochbihler: Die Lady Ashton, die Außenbeauftragte, ist ja gerade in Tunesien, letzte Woche war eine Parlamentsdelegation dort, es sind Gespräche geführt worden mit der Übergangsregierung, aber auch mit Vertretern der Zivilgesellschaft. Die Parlamentarier, die zurückgekommen sind, die haben nicht über dieses Problem gesprochen, aber es muss natürlich thematisiert werden. Ich denke, ...
Kapern: Gibt es denn schon ausreichend stabile Verantwortungsstrukturen in Tunesien?
Lochbihler: Das kommt auf die Bereiche an. Gerade im Justizwesen sind da doch noch große Bedenken, ob das auch so funktionieren wird. Man muss ja jetzt die Wahl vorbereiten, das ist natürlich mehr, als nur eine Wahl abzuhalten. Man muss freie Medien und Presse garantieren. Also dieses Flüchtlingsproblem ist jetzt nicht sehr hoch angesiedelt auf der innertunesischen Agenda. Die EU kann das aber verbinden, zum Beispiel mit der Zusage, dass man wirklich intensiv an dem wirtschaftlichen Aufbau arbeitet. Es gibt ein Abkommen zwischen der EU und Tunesien, besonders die Handelsbeziehungen positiv zu gestalten. Das ist ein Ansatzpunkt, aber auch das ist mittelfristig. Kurzfristig, wenn ich das noch sagen kann, ist es auch eine Pflicht der anderen EU-Mitgliedsstaaten, hier Italien jetzt nicht allein zu lassen, sondern auch anzubieten, wenn jetzt aktuell so viele Menschen kommen, auch einige dieser Flüchtlinge zu übernehmen.
Kapern: Wie groß ist die Bereitschaft, dies zu tun?
Lochbihler: In der Vergangenheit ist es rein freiwillig gewesen und es gab Staaten wie Frankreich, die Personen aufgenommen haben, nicht viele, andere haben keine aufgenommen.
Kapern: Und Deutschland?
Lochbihler: Deutschland meines Wissens keine und es liegt an der deutschen Regierung, auch hier konkret solidarisch zu sein. Man kann sich auch nicht auf die italienische Regierung verlassen. Auch in der Vergangenheit haben sie sich hinweggesetzt über Flüchtlingsschutz-Normen. Frühere Innenminister Italiens haben sogar aufgefordert, diejenigen, die keine Papiere haben, aus dem Land zu jagen. Also hier muss man erst mal die Regierung kritisieren, wenn sie sich über Flüchtlingsschutz hinwegsetzt, aber man muss sie auch unterstützen bei so einem akuten Zusprung, indem man größere Kontingente auch übernimmt.
Kapern: Das ist ja nicht die erste große Flüchtlingswelle nach Lampedusa, die letzte hat es 2008/2009 gegeben. Nun scheint die italienische Regierung gleichwohl von der Entwicklung überrollt zu werden. Haben die da etwas verschlafen in Rom?
Lochbihler: Man hat sich sicher gewähnt, dass diese Regierungen auf der anderen Seite des Mittelmeers eben die Grenze dicht machen. Es gibt ja da auch Abkommen zum Beispiel mit Libyen. Und durch diese Transformation jetzt in Tunesien und in Ägypten ist das in sich zusammengebrochen. Das ist auch eine Konsequenz davon und da hat man nicht schnell genug reagiert. Was jetzt aber auch mitbedacht werden muss ist: Wie verhält sich die EU-Grenzschutzagentur, dieses Frontex? Da hat ja die Kommissarin Malmström schon gesagt, sie muss prüfen, inwieweit man diese Hilfe oder diese Agentur einsetzen kann. Das kann man erst mal nicht verwerfen, aber wir wissen ja aus der Vergangenheit, dass Frontex nicht im Sinne unbedingt der Flüchtlinge gehandelt hat, sondern die Hauptaufgabe war, einfach die Grenzen dicht zu machen. Also wenn hier diese Grenzschutzagentur angerufen wird, um zu schützen, dann muss auch der Flüchtling geschützt werden, und hier gibt es einen hohen Mangel an Transparenz, wie Frontex vorgeht, wir diskutieren das gerade im Parlament, und wir wissen auch nicht, ob Frontex immer menschenrechtskonform vorgeht.
Kapern: Was ist nun Ihr Votum? Sagen Sie, dass Frontex Italien nicht zur Hilfe kommen darf, so wie Italien dies ja erbittet?
Lochbihler: Also man muss sagen, wie dieser Auftrag genau lautet. Wenn sie Flüchtlingen helfen, übers Meer zu kommen – es sind ja auch schon welche zu Tode gekommen -, um zu prüfen, dass sie an ihr Recht kommen, wenn sie Schutz brauchen, dann können sie das tun. Wenn aber der Schutz darin besteht, dass man alle zurück aufs Meer treibt und sie nicht an Land kommen lässt, dann kann ich das nicht für gut heißen.
Kapern: Ein Gespräch mit der Grünen-Europaabgeordneten Barbara Lochbihler.