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"Man muss Thomas Mann nicht lieben"

Thomas Mann macht auf Fotos oft einen befremdet-abgewandten, manchmal auch etwas arroganten Eindruck; wenngleich ohne Zweifel von dieser Welt, scheint er dann doch zugleich gerade anderswo, in Gedanken eher am Schreibtisch als da zu sein, wo man ihn festzuhalten versucht. Sein Blick ist nach innen gerichtet, auch dann, wenn er sich darum bemüht, in die Welt hinauszusehen.

Von Alain Claude Sulzer |
    Wir können aufgrund eines Fotos natürlich nur raten, wohin der Blick tatsächlich schweift; vielleicht dorthin, wo die Wirkung, die ein Satz erzielen kann, ihren heimlichen Wohnsitz hat? Treibt er gewissermaßen vor unseren Augen heimlich sein Werk voran, statt darauf zu warten, dass das Leben ihm etwas bietet? Das Leben, jenes unübersichtliche und ungenügende Fragment, das, stürzte man sich wirklich hinein, vom ungleich bedeutenderen Oeuvre nur ablenken würde, mit dem verglichen es bloß Beiwerk ist: Eine Kulisse, die bestenfalls dazu gut geeignet ist, sich und das Werk in ein schönes Licht zu rücken, im Grunde aber von nur geringem Interesse stellt man es neben die Literatur, jenem anfänglichen Nichts, das man mit ausreichend Wille und Vorstellung zu einem neuen Ganzen fügen kann.

    Nicht anders als in der Literatur trug Thomas Mann auch im Leben "die Möglichkeit zu tausend Daseinsformen in sich" (wie er durch Tonio Kröger sprach). Er hat alle möglichen Rollen recht überzeugend gespielt: den Vater in der Familie, den Bürger in der Gesellschaft, den Gönner im Literaturbetrieb, den Repräsentanten im Exil, den Bekennenden im Tagebuch. Die Literatur jedoch war das Gewand, in dem er sich am wohlsten fühlte; hier war "kein rechtschaffener, gesunder und anständiger Mensch" gefragt, denn so einer "schreibt, mimt oder komponiert nicht", wie es im Tonio Kröger heißt, sondern einer, der viele Gesichter hat. Auch die Schränke seines literarischen Haushalts hingen voller Kostüme (manche waren geborgt, einige geklaut), und je länger er sie trug, je stärker die Romane anschwollen, in denen er sie hin und her bewegte und beatmete, desto überzeugender und von sich überzeugter wurde auch deren Erfinder im Leben. Bei Licht betrachtet sind die Romane der wahre Ausdruck dessen, was Thomas Mann aus seinem Leben machen konnte; darauf war er zweifellos stolz, um nicht zu sagen: darauf bildete er sich eine ganze Menge ein. Aber doch nicht so viel, dass er sich nicht mit den Komödianten in eine Reihe gestellt hätte. Er war ein Mime vor allem, seine Liebe galt der Verstellungskunst; allein durch sie fand sich die Wahrheit.

    Kein bisschen abwesend, sondern ganz bei der Sache ist sein Gesichtsausdruck auf dem Foto, das den Schutzumschlag eines neuen Buchs ziert, das sich ihm auf erfrischend unkonventionelle Weise widmet: die Rede ist von Thomas Klugkists "49 Fragen und Antworten zu Thomas Mann". Den Zeigefinger erhoben, schaut der weltberühmte Großvater - Opa mag man ihn ja nicht nennen - auf seinen Enkel hernieder, der glücklich, vor Freude strahlend, zu ihm aufblickt. Wir werden wohl nie erfahren, welches Märchen er ihm da gerade auftischte (oder werden wir es vielleicht doch noch erfahren? Gibt es überhaupt einen Winkel dieses Lebens, der nicht auch noch ausgeleuchtet werden könnte?); eines aber ist klar: er stellt sich auch hier in Positur.

    Diesmal in die des warmherzigen Erzählers, der sich einem deutlich unterlegenen Geschöpf zuneigt; eine dankbare Rolle, denn sie kommt gut an, beim Enkel wie beim Betrachter, beim Fotografen wie bei der Nachwelt. Dass man ihn dabei abbildete, dessen war er sich bewusst, und dennoch wirkt die angenommene Pose nicht im Geringsten einstudiert. Er war perfekt. Nun, wann war er - seine Imagepflege betreffend – nicht perfekt? Die Intensität, mit der er sich kraft seiner Kunst jeder Seele, auch dieser kindlichen Seele bemächtigt, ist mit Händen zu greifen, weil sie vollkommen glaubwürdig ist. Es ist die Intensität, die wir an seinem Werk schätzen, auch wenn wir manches daran vielleicht gar nicht mögen.

    Das Bild erzählt uns auch, wie sehr dieser Erzähler sein Publikum brauchte. Dieses war - man denke an die dunkle Zeit des Dritten Reichs - vielleicht nicht immer und nicht zu jeder Zeit so dankbar wie der kleine Enkel Frido. Aber während das Publikum ihn immer mal wieder für entbehrlich hielt, wusste er sehr wohl, wie unentbehrlich das Publikum ihm war, selbst dann, wenn er sein scheinbar so intimes Tagebuch verfertigte, in dem er sich wie nirgends sonst seiner Gewohnheit hingeben konnte, "sich wichtig zu nehmen". Seiner "täglichen Zeitung vom Selbst", wie Thomas Klugkist das Tagebuch nennt, hielt er die Treue.

    Wobei Thomas Mann schreibend ausnahmslos alle Ich-Ressorts durchblätterte: von der Innen-, Außen- und Lokalpolitik über die Wirtschaft bis zum Feuilleton und den Meldungen vom Sport. Selbst den Klatschspalten, dem Serviceteil und dem Wetterbericht war die gespannte Aufmerksamkeit des einzigen Abonnenten sicher. Er wurde niemals müde, etwas Neues über sich und seine Welt zu hören.

    Und dennoch schrieb er, zu viel Würde sei unkünstlerisch

    ... das ist ewig wahr. Ich selbst wenigstens bin Künstler, Schauspieler, Amüseur, Clown genug, um zu empfinden: Applaus muss sein.

    Dieses auf den kürzesten Nenner gebrachte Selbstporträt des Mannes als Künstler, verfasste Thomas Mann 1902, er war damals 27, und was dem Buch von Thomas Klugkist' als Motto dient, hat er nie zurückgenommen, wenn er es später vielleicht auch nicht mehr so nachdrücklich und unmissverständlich formuliert hat.

    Nur das Publikum konnte ihm bestätigen, dass er nicht leer, sondern übervoll, kein Nichts, sondern alles war. Er lebte vor Zeugen. Unter den Augen der erwartungsvollen Mit- und Nachwelt. Hier fühlte er sich verstanden. Suchte und fand er die Gnade. Vielleicht sogar die Liebe.

    Nun geht es in Thomas Klugkists Buch aber natürlich nicht nur um den einen, in die Öffentlichkeit drängenden Thomas Mann, der sich nicht zu unfein war, befreundeten Kritikern die Besprechungen seiner eigenen Büchern in die Feder zu diktieren. Es gibt ihn schlichtweg nicht, den einen, einzigen und unverwechselbaren Mann, so wenig wie eine einzig gültige Auslegung seines Werkes denkbar ist. Es gibt allerdings den einen, einzigen, der so viele Fragen aufwirft, dass er bis heute mit nicht nachlassender Aufmerksamkeit Gegenstand selbst allgemeinen Interesses ist. Der Erfolg von Heinrich Breloers Fernsehsaga hat das deutlich gemacht, wenn es dort auch weniger ums Werk als um die schillernde Person und ihre nicht minder ergiebige entourage ging.

    Kein Zweifel, Thomas Mann und sein Werk lässt auf viele Fragen unendlich viele Antworten zu (und manche offen). Um diesen von naher Zeitgenossenschaft wohltuend entfernten - Mann - geht es Klugkist. Und da Klugkist - auch er um Wortspiele nicht verlegen - klug ist, erweist sich sein Unterfangen, das zunächst wie eine hart am Rand der Überflüssigkeit gebaute Spielerei aussieht, schon nach wenigen Seiten als sehr willkommene Abwechslung von den eingespielten exegetischen Trockenübungen germanistischer Seminaristen. Klugkist - auch er in Lübeck geboren - hat genau die richtige Form gefunden, um ein paar wichtige Antworten auf Fragen zu geben, die das Werk und die Person erhellen können. Eine Form, die sowohl jene befriedigt, die seine Romane kennen und aufgeschlossen genug sind, sich damit auf diese ausgefallene Weise noch einmal damit auseinanderzusetzen, als auch jene, die vielleicht gerade damit begonnen haben, sich diesem Werk zu nähern.

    Weder die Zaghaften noch die Beherzten werden enttäuscht. Unerschrocken kommt Klugkist allen entgegen. Er betreibt eine fröhliche, aber keine unbekümmerte Wissenschaft: Die 49 kurzen Fragen des profunden, promovierten Thomas-Mann-Kenners - zur Zeit ist er Pressesprecher der Wirtschaftsjunioren Deutschlands - treffen ins Schwarze, auch wenn sie selten besonders originell sind; um so einfallsreicher und einleuchtender gelingen die Antworten. Sie beginnen meist knapp, ja manchmal ziemlich einsilbig, treten aber in tempo fugato schnell über die Ufer der eindeutigen Erklärung. Dem Widerspruch ist jede Tür geöffnet; anders, so Klugkists Credo, könnte man dem Riesenwerk unmöglich gerecht werden. Anders hätte es sich kaum so lang gehalten.

    Er mischt die Fragen gewitzt und gekonnt aus dem persönlichen wie aus dem literarischen Bereich zusammen (wie ließen sie sich auch trennen?). Sie lauten etwa: Warum sind Thomas Manns Werke so dick? Oder: Worüber hat Thomas Mann eigentlich nicht geschrieben? Warum hat Thomas Mann überhaupt geschrieben? Oder: War Thomas Mann im Grunde ein Beamter? Und - wie nicht anders zu erwarten: War Thomas Mann homosexuell? Antisemit? Reaktionär. Typisch deutsch? Verklemmt? Hatte er eine Botschaft? Oder: Ist er überhaupt noch zeitgemäß? Ja lautet die Antwort.

    Fast hat man sogar den Eindruck, als sei und werde er es erst jetzt. Wo man nicht mehr nur an die immer schon verwitterte Fassade, sondern auch weiter in die Innenräume tritt. Und das ist erst der Beginn einer längeren Ausführung. Die Frage, ob Thomas Mann eine Botschaft hatte, klingt aus mit diesen Sätzen:

    Wie man das machte, sich in einen anderen einzufühlen, sich mit ihm zu identifizieren, seinen Standpunkt einzunehmen, das konnte man bei Thomas Mann lernen. Schließlich forderten seine Bücher ununterbrochen dazu auf, die Perspektive zu wechseln und die Dinge so von möglichst vielen, am besten allen Seiten zu sehen.

    Wer ihn lese, kriege es - heute mehr je - mit sich zu tun, heißt es an anderer Stelle, und ganz zum Schluss: Man muss Thomas Mann nicht lieben. Wahrscheinlich wäre es sogar unnatürlich und verdächtig, wenn einen da nicht irgendwann der Ekel vor der Vollendung, die Wut auf die anmaßende Pose, der Widerwille gegen die verklemmte Spreizung oder gegen seine Rücksichtslosigkeit ankäme. Man muss Thomas Mann nicht einmal heilig halten. Auch das ließe in den meisten Fällen Rückschlüsse auf eine schwierige Seelenlage zu. Doch man muss ihm auch nichts neiden. Schon gar nicht seinen Ruhm. Denn, abgesehen von den Freuden des Ausdrucks und dem äußerlichen Komfort: Viel mehr hat er am Ende nicht gehabt. Was ihm eine bloße Entschädigung gewährte, öffnet seinen Lesern ganze Schatzkammern voll Lebens steigerndem Überfluss.

    Hier wird die Methode, mit welcher sich der Autor seinem Gegenstand nähert, besonders deutlich; er tut es mit der dem Gegenstand angemessener Distanz. Eine empathische Verschmelzung, eine blindwütige Aneignung findet nicht statt; das liegt sicher nicht allein daran, dass wir es hier gleich mit zwei Lübeckern zu tun haben; es ist einfach die beste Art, sich diesen Schriftsteller zu nähern, der sich wie kein anderer niemals zum Gefolgsmann einer Partei noch einer Schule gemacht hat, der stets sein eigener Gott und Gläubiger war, für den es außer sich und seinem Werk nichts gab, für das zu Leben es sich lohnte. Er hat in Thomas Klugkist ein Licht gefunden, das in alle jene Ecken leuchtet, in denen Thomas Mann es gerne etwas dunkel hatte.