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"Man sollte ein bisschen Geduld haben mit Hollande und mit Frankreich"

Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Frankreich und Deutschland sind nicht neu, sie existieren seit Langem. In der Europapolitik haben beide Seiten bisher jedoch kaum Kompromisse gefunden. Daniel Vernet glaubt, dass Präsident François Hollande seine Partei noch auf Reformen einstimmen muss.

Daniel Vernet im Gespräch mit Friedbert Meurer | 07.05.2013
    Meurer: Daniel Vernet war Chefredakteur der französischen Tageszeitung "Le Monde" und er ist ein sehr guter Kenner Deutschlands. Guten Tag, Herr Vernet!

    Daniel Vernet: Guten Tag!

    Meurer: Sind wir wirklich so dogmatisch?

    Vernet: Bitte?

    Meurer: Ob wir wirklich so dogmatisch sind, wie das in dem Zitat zum Ausdruck kommt?

    Vernet: Das sieht vielleicht die Mehrheit der Franzosen so. Dass man ein bisschen mehr Flexibilität in der Wirtschaftspolitik in Europa haben sollte, ist auch ein Dogma in Frankreich.

    Meurer: Wenn der französische Finanzminister dieses Wort in den Mund nimmt, Dogma, unterstellt er damit nicht der deutschen Seite geradezu, verbohrt zu sein?

    Vernet: Ja. Das ist so, dass die Meinungsverschiedenheiten zwischen Frankreich und Deutschland seit Langem existieren. Das war auch der Fall in der Zeit, die Sie genannt haben, von Kohl und Mitterrand, Schmidt und Giscard und so weiter. Das Neue mit François Hollande seit einem Jahr ist die Tatsache, dass diese Meinungsverschiedenheiten nicht so einfach zu Kompromissen geführt haben in der Europapolitik, und deswegen sind die Irritationen zwischen Paris und Berlin vielleicht größer als früher.

    "Man muss eine Mischung zwischen Austerität und Wachstum finden"
    Meurer: Was glauben Sie, für welche Politik eigentlich der französische Staatspräsident Hollande steht? Steht er eher für das Dogma Austerität, will er an den Zielen festhalten, oder will er der Linken nachgeben?

    Vernet: Das ist natürlich das große Fragezeichen. Man weiß das nicht genau. Auf der anderen Seite versucht François Hollande in Frankreich Reformen durchzuführen, die der linke Flügel der Partei und die Radikalen auf der linken Seite nicht akzeptieren möchten, aber auf der anderen Seite wollte er eine, ich würde sagen, mehr sozialdemokratische Politik machen in der Wirtschaft und versuchen, auch das Wachstum zu stärken durch Staatsausgaben, also öffentliche Ausgaben. Das ist das Problem und dieser Mix zwischen Austerität oder Disziplin, Finanzdisziplin und Wachstum nach den alten Kriterien des sogenannten Keynesianismus. Diese Mischung ist sehr, sehr schwierig zu finden und ein Gleichgewicht zwischen den beiden Richtungen zu erreichen.

    Meurer: In Deutschland glauben viele, dass Reformen in Frankreich, so wie wir sie verstehen, Sozialreformen bei der Rente beispielsweise faktisch unmöglich sind, weil der Widerstand der Gewerkschaften, der Widerstand auf der Straße zu groß wäre. Was meinen Sie?

    Vernet: Also der Widerstand ist sehr groß, das stimmt, aber Sarkozy hat vor zwei Jahren jetzt so eine Reform der Renten durchgesetzt, und Hollande wird auch versuchen, eine neue Reform zu machen, weil die Reform von Sarkozy nicht genug ist, um ein Gleichgewicht zu erreichen. Hollande hat schon eine Reform des Arbeitsmarkts durchgeführt mit dem Widerstand eines großen Teils seiner eigenen Partei, und ich glaube, er will einige dieser Reformen machen in den nächsten zwei, drei Jahren, aber er muss auch damit rechnen, dass die Widerstände, nicht nur bei den Gewerkschaften, auch bei der öffentlichen Meinung und auch in seiner eigenen Partei diese Widerstände sehr groß sind.

    Hollande braucht Zeit, um die Reformen anzupacken
    Meurer: Das heißt, möglicherweise war der Satz vom Ende des Dogmas der Austerität nicht an Deutschland gerichtet, sondern eher als besänftigendes Signal an die französische Linke?

    Vernet: Das kann genau so sein. Hollande und die französische Regierung müssen auch sehr, ich würde sagen, sehr vorsichtig vorangehen und das ist so dieses Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Tendenzen zu gewährleisten, ist eine sehr schwierige Aufgabe für Hollande. Er hat immer das versucht, auch als er Chef der sozialistischen Partei war, zwischen den verschiedenen Flügeln der Partei. Er hat immer so gehandelt, und ich glaube, das muss – man sollte ein bisschen Geduld haben mit Hollande und mit Frankreich, aber es ist ganz klar, dass die Hauptmeinung, würde ich sagen, in Frankreich ist die Folgende: Eine Wirtschaftspolitik, die nur in Richtung Austerität gerichtet ist, wird scheitern und wird auch die Arbeitslosigkeit in den europäischen Ländern stärken, auch die Jugendarbeitslosigkeit. Man muss eine Mischung zwischen Austerität und Wachstum finden.

    Meurer: Wenn die EU-Kommission jetzt durchblicken lässt, man will Frankreich zwei Jahre mehr Zeit lassen, um das Defizit unter drei Prozent zu drücken, werden da Entscheidungen verschoben oder halten Sie es wirklich für glaubwürdig, dass in zwei Jahren man dann eben ernsthaft sparen will?

    Vernet: Das kann ich nicht sagen. Ich hoffe, das ist also ehrlich gesagt und ehrlich gemeint. Aber in dieser Zeit muss unbedingt die französische Regierung, der französische Präsident diese Reformen, diese Strukturreformen durchsetzen, und das ist meiner Meinung nach viel wichtiger als die drei oder 3,5 Prozent.

    Meurer: Deutschland und Frankreich ringen um das vermeintliche Ende des Dogmas der Austerität, ein Zitat des französischen Finanzministers. Daniel Vernet, ehemaliger Chefredakteur von "Le Monde" war das. Danke schön und auf Wiederhören!

    Vernet: Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.