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'Manche wollen besser leben...'

Kuba - das ist weißer Strand, türkisfarbenes Wasser, Palmen und ein wenig Musik. In Guardalavaca, einem Küstenort im Osten Kubas ist der Traum aus den Reiseprospekten Wirklichkeit. Guardalavaca, das ist nicht mehr als eine Ansammlung von Hotels, Bungalows und Strandbars. Doch auch das Rentnerehepaar Scheibner aus Wien hat dort alles gefunden, was es sucht:

Axel Denecke |
    Schon seit zehn Jahren kommen wir her, mit kleinen Unterbrechungen gesundheitlicher Seite, ... Die Menschen, der Strand, das Wasser ... in erster Linie mal die Menschen.

    Kuba war schon immer eine Attraktion für Touristen. Die Tropeninsel war bereits in den 50er-Jahren das Ziel von sonnen- und erlebnishungrigen Nordamerikanern. 1959 beendete die Revolutionsregierung den von Prostitution und Glücksspiel angereicherten Reiseboom. Erst Ende der 80er-Jahre wurde der Massentourismus auf Kuba wiederentdeckt. Sonne, Strand, All-inklusive-Angebote mit Hotel, Mietwagen und wahlweise Tanzkurs sind im sozialistischen Kuba seither willkommen - als Devisenbringer für die Wirtschaft. Annähernd zwei Millionen Besucher sollen im vergangenen Jahr zu Gast auf Kuba gewesen sein, unter ihnen circa 200.000 Urlauber aus Deutschland. Die Scheibners erklären:

    Der Tourismus ist ja ihr Kapital, nur der Tourismus. Mit dem Zucker das läuft ja auch nicht mehr so ... nur der Tourismus, von dem leben die ja.

    Heute ist die kubanische Wirtschaft zu drei Vierteln vom Devisenbringer Tourismus abhängig. Kuba benötigt Deviseneinnahmen in erheblichem Umfang, um Waren zu importieren, die die Binnenwirtschaft nicht in der Lage ist zu produzieren. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks begann eine tiefe wirtschaftliche Krise auf der Insel. Kuba musste sich auf dem Weltmarkt behaupten. Und das von den USA verhängte Wirtschaftsembargo zeigte unter den neuen Bedingungen seine verheerende Wirkung auf das Land.

    Mit der Legalisierung des US-Dollars auf Kuba 1993 sollten die Überweisungen der Auslandskubaner für die Wirtschaft nutzbar gemacht werden. Gleichzeitig eröffnete die Dollarisierung aber auch für die Kubaner auf der Insel die Möglichkeit, den Tourismus als - legale oder illegale - Einnahmequelle zu nutzen. Die kubanische Wirtschaft erholte sich in den folgenden Jahren aufgrund des Dollarzustroms tatsächlich. Zugleich begann damit jedoch eine soziale Spaltung auf Kuba, die sich bis heute weiter vertieft hat. Die Scheibners erinnern sich:

    In dem Zeitraum, in dem wir angefangen haben, hierher zu kommen, ist das Ganze schon besser geworden, vor allem für diejenigen, die vom Tourismus leben, die können sich ein bisschen was leisten.

    Ein Kubaner kann mit einer einzigen illegalen Taxifahrt für Touristen 8 Dollar verdienen. 8 Dollar, oder 200 kubanische Pesos, das ist das durchschnittliche Monatsgehalt eines Landsmanns, der im Pesosektor der Wirtschaft arbeitet. Zimmervermieter, Touristenführer und Kofferträger verdienen auf Kuba mit Hilfe von niedrigqualifizierten Tätigkeiten Rekordgehälter. Eine Ärztin oder ein Lehrer müssen dagegen sehen, wie sie zum Monatsende die Versorgung ihrer Familie mit Lebensmitteln sicherstellen. Das Standardeinkommen im Pesosektor ist seit Jahren nicht mehr ausreichend, um den Bedarf einer Familie zu decken. Zusätzliche Einkommensquellen bieten nur der Schwarzmarkthandel oder ein Job im Tourismus. Doch längst nicht alle Kubaner können oder wollen an der Dollarwirtschaft teilhaben.

    Die heutige Ungleichheit der Einkommen auf Kuba infolge der Dollarisierung erscheint im Vergleich zu den 80er-Jahren enorm. Doch es könnte noch schlimmer sein. Professor Bell arbeitet als Soziologe am Institut für Lateinamerikastudien der Universität Havanna. Er vergleicht die Situation Kubas mit der in den Nachbarländern:

    Heute hat etwa die Hälfte der Bevölkerung Zugang zum Dollar. Tatsächlich ist es aber nur eine Minderheit, die vom Dollar lebt. Es gibt Unterschiede zwischen den niedrigsten Einkommen und den höchsten Einkommen in Kuba, aber diese sind erheblich geringer als in jedem anderen Land Lateinamerikas. Lateinamerika ist die unterentwickelteste Region mit den größten Einkommensunterschieden, - mit größeren als in Schwarzafrika.

    Die dreißigjährige Jamile Alvarez kennt den Rest der Welt nur aus dem Fernsehen. Sie wohnt in einer Gasse in Centro Havanna. Hier gelangen die Touristen allenfalls durch Zufall hin. Die Fassaden sind nicht so renoviert wie etwa in Alt-Havanna. Jamile Alvarez bewohnt zusammen mit ihrem Vater ein 20 Quadratmeter großes Zimmer in einem verschachtelten Haus mit 40 Familien. Im gleichen Wohnungstyp leben häufig auch drei oder vier Personen zusammen. Zum Duschen und Waschen geht man mit einem Eimer in den Hof.

    Jamile Alvarez arbeitet bei einem staatlichen Unternehmen als Buchhalterin und verdient 160 kubanische Pesos monatlich. Viele ihrer Freundinnen in ähnlicher Situation bieten sich gelegentlich Touristen an, um Dollar zu verdienen. Aber Jamile will das nicht. Sie muss sich also weiter fragen, wann sie sich eine Flasche Speiseöl, Zahnpasta oder Seife leisten kann, - denn all das gibt es nur im Dollarladen. Und die Flasche Öl kostet ein Drittel ihres Monatsgehaltes.

    In den staatlichen Dollarläden gibt es alles, was man in den staatlichen Peso-Läden vergeblich sucht: von Konserven und Käse über Shampoos verschiedenster Duftnoten bis zu Kühlschränken und Küchengeräten. Die Dollarverdiener leisten sich kubanischen Spitzenkaffee, die Pesoverdiener bekommen Einheitsbackwaren auf Libreta zugeteilt. Libreta nennt sich das kleine Büchlein in dem die Menge an Brötchen, Zucker oder anderen Grundnahrungsmitteln eingetragen wird, die man als Unterstützung erhält.

    Die Libreta garantiert aber keine Vollversorgung, sondern deckt nur etwa ein Drittel des monatlichen Bedarfs einer Familie. Versucht man für den Rest des Monats zu bekommen, was die staatlichen Läden nicht in ausreichender Menge anbieten können, wird es teuer. Ein Grundnahrungsmittel wie Reis ist auf den Bauernmärkten für den 50-fachen Preis der staatlichen Läden zu haben, im Dollarladen ist es die 200-fache Summe. Kein Wunder, dass kubanische Hausfrauen eher versuchen, ihren Bedarf auf dem Schwarzmarkt zu decken, wo der Preis nur 30-mal so hoch ist. Professor Bell:

    Natürlich bedeutet eine Krise ein Beeinträchtigung des Lebensstandards. Aber hierzu muss man sagen, dass Cuba dennoch eine gewisse Gleichheit der Lebensverhältnisse bewahren konnte. Infolge der Krise wurde keine einzige Schule geschlossen, die Ausbildung blieb gratis und kein Krankenhaus oder andere Einrichtungen der Gesundheitsversorgung mussten schließen.

    Die sozialen Errungenschaften der Revolution, - freie Bildung, freie Gesundheitsversorgung und garantierter Wohnraum, - sind auch heute die Grundlage der Legitimation der Regierung in der Bevölkerung. Offene Proteste gegen Castro gab es bisher nur einmal, 1994, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise. Der Frieden in der kubanischen Gesellschaft beruht aber nicht allein auf der allgegenwärtigen Präsenz von Polizei und Staatssicherheit. Er beruht auch auf der Tatsache, dass die Ärmsten auf Kuba nicht von der Grundversorgung ausgeschlossen wurden.

    Das kubanische Gesundheitssystem lässt die Kubaner unverändert länger leben. Mit 76 Jahren ist ihre Lebenserwartung trotz der ökonomischen Krise 32 Jahre höher als die der Bewohner der Nachbarinsel Haiti. 12,5 Millionen US-Dollar investiert das kubanische Gesundheitswesen in diesem Jahr in eine Kampagne gegen das Dengue-Fieber. Seit Januar werden Gebäude, selbst Straßen und Plätze systematisch mit einem Insektizid ausgeräuchert, das die krankheitsübertragende Mückenart vernichtet. Es ist seit Beginn der Kampagne kein einziger neuer Fall von Dengue-Fieber auf Kuba gemeldet worden.Prof. Bell erklärt:

    Lebensqualität der Menschen ist nicht nur Konsum, wie viele Proteine und Kalorien er bekommt. Es kommt genauso darauf an, was sein Kopf konsumiert. Wir wollen einen vollständigeren Menschen schaffen, nicht wie der Kapitalismus, der die Menschen eindimensional werden lässt.

    Der kulturelle Reichtum Kubas, die Musik und die Tänze, sind nicht nur Bestandteil des Alltags auf Kuba, sie haben die Welt erobert. Die politische Führung des Landes hat schon von Anfang an auf die Pflege der kulturellen Tradition des Landes gesetzt. Musik und Tanz, Theater und Literatur begriff man als ebenso 100 Prozent kubanisch, wie die Revolution, Fidel Castro und die Zuckerproduktion. Mit den Alphabetisierungskampagnen der 60er-Jahre begann der Aufbau eines öffentlichen Kulturangebotes. Zentrale Bedeutung haben dabei die Kulturhäuser in den Städten. Boris Rius arbeitet als Organisator im Kulturhaus von Havanna:

    In das Kulturhaus kommen alle Teile der Bevölkerung, unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Situation. Das Haus ist ein Ort, wo die Leute Freundschaften schließen können, außerhalb zum Beispiel der Schule. Hier gibt es Veranstaltungen und Unterricht für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Tanz, Musik, Theater, aber auch bildende Künste und Ausstellungen. Die Kulturhäuser sind wichtigster Bestandteil der städtischen Kulturpolitik. Sie sorgen dafür, dass den Menschen eine geistige Entwicklung gewährleistet wird, - ganz gemäß den Ideen der UNESCO zur Entwicklung eines Landes.

    Kulturelle Entwicklung meint in der kubanischen Kulturpolitik aber auch, gegen eine westliche Kultur des Konsums zu arbeiten. Im Klartext: Abschottung gegenüber ausländischen Einflüssen. Offiziell ist es für Kubaner immer noch unmöglich, Zugang zu ausländischen Zeitungen, Zeitschriften oder anderen Medien zu haben. Selbst Kontakte zu Ausländern stehen immer noch gesetzlich unter Strafe. Und nach wie vor stehen auch drakonische Strafen auf das Publizieren von abweichenden Meinungen, die als konterrevolutionär interpretiert werden können.

    Doch die Identifikation mit dem Land und mit dem politischen System ist weitverbreitet auf Kuba, insbesondere bei Angehörigen der älteren Generation. Rosa Myrta arbeitete über 50 Jahre als Ärztin in Cuba, unter der Diktatur Batistas und im nachrevolutionären Kuba. Für sie ist unbestritten:

    Es ist ein wunderbares System. Die Ausbildung ist gratis, es gibt so gut wie keinen Analphabetismus. Wir haben Krankenhäuser und es gibt Familienärzte für Alte und Kranke Menschen. Die Kinder sind glücklich, es gibt viele Aktivitäten für sie. Die Krisenjahre haben zwar Auswirkung auf die Gesundheitsversorgung und die Kultur gehabt. Aber hier ist es lange nicht so schlimm wie in anderen Ländern, in Haiti, oder in Argentinien, wo es Hunger gibt.

    Die heute 83-jährige Rosa Myrta lebt mit ihrem Mann in einer kleinen Zwei-Zimmerwohnung von etwa 30 Quadratmeter Größe in Havanna, im Stadtteil Vedado. Vom Fenster aus sieht sie auf das Luxushotel Habana Libre, die erste Adresse für Reisende aus aller Welt. Rosa Myrta hat nichts von dem Reichtum, den die Touristen bringen. Sie erhält auch nach 43 Jahren Dienst als Ärztin nur 100 Pesos Rente im Monat, das sind 4 US-Dollar. Wenn sie von ihrem Leben spricht, betont Rosa Myrta immer, wie sie sich aufgeopfert hat. In ihrem Studium, in der Ausübung ihres Berufes, in ihrer Tätigkeit als Landärztin in den ersten Jahren nach der Revolution. Ihr ist es gleichgültig, ob sie Unterstützung durch Dollars bekommt oder nicht. Für die kubanische Jugend von heute, die ein leichteres Leben sucht, hat sie nur wenig Verständnis:

    Sie wollen keinen Beruf mehr ergreifen, sie lachen darüber. Der Jugend gefällt das Feiern. Sie haben Freundinnen und wollen diese Dinge genießen. Dabei sind sie gleichgültig und wenig menschlich.

    Was die Veteranen der Revolution besorgt als Entpolitisierung und Gleichgültigkeit wahrnehmen, hat in der sozialen Spaltung der kubanischen Gesellschaft seinen Nährboden gefunden. Seit neureiche Dollarbesitzer den anderen Kubanern vorleben, wie flott ein Dollar-finanziertes Leben sein kann, hat die materielle Systemkritik in Kuba eine hämische Note bekommen. Und die Dollarisierung auf Kuba konterkariert eine zentrale Idee der kubanischen Revolution: die Forderung nach sozialer Gleichheit.

    Die Alternative, sich um jeden Preis zu verkaufen, ist wieder normal geworden im sozialistischen Kuba. Und das einträglichste Geschäft ist auch auf Kuba immer noch, seinen Körper zu verkaufen. In Havanna, an den Strandorten Varadero oder in Santiago de Cuba trifft man, die jungen Kubanerinnen oder Kubaner, die eine Nacht, einige Tage oder Wochen mit Touristen und Touristinnen verbringen, um schnelle Dollars zu machen. Jineteras nennen sich diese Teilzeitprostituierten:

    Ich warte irgendwo in der Strasse und wenn ich einen Ausländer sehe, spreche ich ihn an. Sie fragen mich, wie viel ich koste und ich sage 50 oder 70 Dollar, je nachdem. Wenn sie einverstanden sind, gehe ich mit ihnen. Wir haben Sex, sie zahlen und ich gehe wieder.

    Anna arbeitet als Jinetera auf den Straßen Santiago de Cubas. Zusammen mit ihrer Freundin ist sie aus der 150 Kilometer entfernten Stadt Holguin gekommen, um in der Touristenhochburg Geld zu verdienen. Ihre Familie weiß von ihrer Arbeit als Prostituierte in Santiago und sie billigt es, denn Anna trägt zum Familieneinkommen bei. Anna ist heute 18 Jahre alt.

    Ich mache das jetzt seit drei Jahren. Natürlich gibt es die Möglichkeit zu arbeiten, aber du verdienst sehr wenig. Manche Menschen wollen besser leben. Ich möchte leben mit einem Auto, ein eigenes Haus haben, ich möchte alles haben.

    Offiziell darf es keine Prostitution auf Kuba geben. Die staatlichen Autoritäten versuchen, durch Repression des unerwünschten Phänomens Herr zu werden. Ausweiskontrollen und regelrechte Razzien gegenüber den Frauen sind ein Mittel, dass für Unruhe auf den Plätzen Santiagos sorgt, doch niemals sind die Maßnahmen derart durchgreifend, dass sie das Gewerbe der Jineteras und Jineteros wirklich beenden würde. Und dass einer der nachfragenden Touristen bei den Kontrollen Probleme bekommen hätte, ist bislang noch nicht bekannt geworden.

    Ich bin einmal in Varadero verhaftet worden. Sie haben mich einfach mitgenommen, nur weil ich in Varadero war. Neun Tage haben sie mich ins Gefängnis gesteckt und mir dann gesagt, ich soll in meine Provinz, nach Holguin zurückgehen. Sollte ich wieder in Varadero auftauchen, könnten sie mich vier Jahre in den Knast stecken, im Wiederholungsfall 20 Jahre. Es ist nicht einfach.

    Für Frauen wie Anna gibt es kein zurück mehr in ein Leben ohne Dollars. Das Warten auf die Kunden wird zum Bangen um das nunmehr notwendige Einkommen. Angesichts der Illegalität des Gewerbes müssen die Frauen weitere Auslagen tätigen: Schmiergelder an die Zimmervermieter müssen gezahlt werden, gelegentlich muss den Polizisten eine Schachtel Zigaretten zugesteckt werden, damit sie bei der nächsten Kontrolle ein Auge zu drücken. Für Anna gibt es schließlich nur noch eine Perspektive:

    Die einzige Möglichkeit ist für mich, das Land zu verlassen. Aber niemand darf das Land legal verlassen. Also werde ich einen Touristen heiraten und weggehen.

    Es gibt keine Slums in Havanna, es gibt auf Kuba keine Straßenkinder, die im Müll wühlen und keine Dörfer ohne Lehrer. Aber solange die kubanische Wirtschaft nicht in der Lage ist, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu decken, werden weiterhin viele ans weggehen denken. Und Kuba wird seine Schätze weiterhin für Dollars verkaufen müssen. Und das sind nicht nur die pittoresken Städte und die weißen Strände. Es sind auch die Menschen, die sich selbst verkaufen. Eben die "gesündesten und gebildetesten Prostituierten der Welt”, - wie der Commandante Fidel Castro selbst einmal launisch bemerkte. Frauen wie Anna:

    Wir sind billig, sehr billig, aber wir sind attraktiver.