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Manuel Jorge Marmelo: "Eine tausendmal wiederholte Lüge"
Ein Roman wie eine Babuschka-Puppe

Was machen, wenn man gerne ein berühmter Literat wäre, aber kein Buch schreiben möchte? Der namenlose Protagonist in Manuel Jorge Marmelos Roman "Eine tausendmal wiederholte Lüge" bastelt sich einfach eins aus kopierten Texten - eine Lüge, die sich bezahlt machen soll.

Von Eva Karnofsky |
    Ein Mann liest in einem Bus ein Buch.
    Mit seinem erfundenen Buch fährt der Protagonist aus "Eine tausendmal wiederholte Lüge" im Bus durch die Stadt - und wird immer wieder darauf angesprochen. (imago stock&people)
    Gleich vorweg: "Eine tausendmal wiederholte Lüge" ist ein meist heiterer, manchmal ironischer und gelegentlich nachdenklich-mahnender Roman, und wer Freude hat an einem originellen Aufbau sowie an einem Prosatext, der mit Literatur spielt und die, die sie schreiben und verlegen, nicht ganz so ernst nimmt, kommt erst Recht auf seine Kosten.
    Der namenlose Ich-Erzähler, ein mit 36 Jahren infolge von Arbeitsüberlastung frühpensionierter Finanzbeamter, möchte gern zu literarischer Berühmtheit aufsteigen, ohne selbst ein Buch zu schreiben. Wie der Schelm im pikaresken Roman ersinnt er dazu eine List:
    "So kam ich auf die Idee, mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Stadt zu fahren und so zu tun, als würde ich in einem sehr dicken Buch lesen. Eintausendzweihundert Seiten Papier der Sorte Pólen Soft, fest gebunden und mit der Fotografie einer Stadt aus den 1930er Jahren auf dem Umschlag sowie dem Titel: Eroberte Stadt. Es ist ein Buch, das es sonst nirgends gibt. Ich habe es erfunden - vollständig. Aber es ist nichts als eine Sammlung aus einzelnen, fast wahllos aus dem Internet kopierten Texten, aneinandergeheftet, formatiert und gebunden von einem Freund, der etwas davon versteht."
    Lügen-Geschichten für die Mitreisenden
    Mit diesem Buch auf dem Schoß fährt der Ich-Erzähler nun tagtäglich mit dem Bus durch Autor Manuel Jorge Marmelos Heimatstadt Porto und wird immer wieder von Mitreisenden auf das Buch angesprochen. Dann berichtet er ihnen sehr eloquent, wovon das Buch handelt und lässt den Leser daran teilhaben. Doch wie Scheherezade einst Märchen aus tausend und einer Nacht erzählte, erfindet der Ich-Erzähler für seine Mitreisenden Lügen-Geschichten. So erschließt sich der Titel. Der Ich-Erzähler entwickelt so nicht nur einen Roman und dessen Figuren, vielmehr ändert er den Inhalt ständig, weil er versucht, jedem Zuhörer die Lügen-Geschichte zu erzählen, die er hören will oder mit der er sich identifizieren kann. Nur der Titel "Eroberte Stadt" bleibt. Eine der Erklärungen für diesen Titel lautet wie folgt:
    "In Wirklichkeit geht es darum, wie sich eine ganze Stadt langsam beugt, erschöpft von Routine und Angst; über ein Land, das nicht sehen will, was mit ihm geschieht, erst so tut, als wäre gar nichts, dann den Kopf senkt, und schließlich in die Knie geht. Und als der Befehl kommt, sich flach auf den Boden zu legen, verschließt es die Augen und wartet, bis sich ein schwerer Stiefel auf seinen Hinterkopf senkt."
    Marmelo spielt damit auf die portugiesische Diktatur von 1926 bis 1974 an.
    Der natürlich ebenso erfundene Autor von "Eroberte Stadt" ist der ungarisch-jüdische Schriftsteller Oscar Schidinski, dessen Biografie der Ich-Erzähler gleich mitliefert. Wenn er von dessen Flucht vor den Nazis durch ganz Europa berichtet, bekommt der Roman wieder einen ernsten Unterton. Wie sich die Sozialkritik durch die Schelmenromane zog, drückt Marmelos Ich-Erzähler in etlichen seiner Geschichten seine Abscheu vor Rassismus aus.
    Erfolgreich um Originalität bemüht
    Während er seine Geschichten spinnt, denkt er auch immer wieder darüber nach, was es hieße, berühmt zu sein, aber vor allem philosophiert er über das Schreiben, beides augenzwinkernd:
    "Es steht zu vermuten, dass die Menschheit, seit man sich Geschichten erzählt, also seit Tausenden von Jahren, bereits ausreichend Zeit hatte, sich alle Variationen, die diese Kunst zulässt, auszudenken. Falls uns nicht alle bekannt sind, und wir uns aus diesem Grund für irgendwie originell halten, liegt dies ausschließlich an unserer Ignoranz. Anstatt in der Gewissheit zu erstarren, nie in der Lage zu sein, etwas besser zu machen, als es bereits früher einmal gemacht wurde, oder etwas tatsächlich Neues zu schaffen, stützen sich Schriftsteller jeder Generation auf ein äußerst begrenztes Wissen von der Realität und halten es in ihrer Verblendung für möglich, all dem etwas hinzufügen zu können."
    Manuel Jorge Marmelo hat sich jedenfalls erfolgreich um Originalität bemüht, denn er hat seinen Roman "Eine tausendmal wiederholte Lüge" wie eine Babuschka-Puppe aufgebaut: Öffnet man die erste, erscheint die zweite, Schidinskis "Eroberte Stadt", und darin kommt die dritte zum Vorschein: Schidinski seinerseits erzählt nämlich von dem aus Mittelamerika stammenden Großgrundbesitzer und Schriftsteller Marcos Sacatepequez und seinem Werk "Blaue Monotonie oder Landschaft im Regen". Marmelo, beziehungsweise Schidinski, schreibt über Sacatepequez im Stil einer Isabel Allende und macht sich damit über den magischen Realismus lateinamerikanischer Prägung und dessen Hang zur Übertreibung lustig:
    "Als Junggeselle war der jüngste Spross der Familie Sacatepequez y Colon ein äußerst aktiver und dem anderen Geschlecht stets zugetaner junger Mann gewesen, eine Art tropischer Dandy, gehätschelt von allen als das Nesthäkchen der Familie, angefangen bei seiner Mutter, einer schwarzen, unvergleichlich schönen Frau von den Antillen: Wie von der Hand eines antiken griechischen Meisters aus Amerikas härtestem Holz geschnitzt, hatte sie damals den jungen Doktor Sacatepequez um den Verstand gebracht."
    Ein gutes Ende
    Der Ich-Erzähler behauptet gegenüber seinen Zuhörern, Schidinski hätte der Ghostwriter des Argentiniers Jorge Luis Borges gewesen sein können, dem nächsten Sitznachbarn macht er weiß, "Eroberte Stadt" könnte eine Kopie eines Abschnitts aus dem Mammutwerk 2666 des Chilenen Roberto Bolaño sein, und er dichtet Schidinski eine Freundschaft mit Franz Kafka an. Dem 2010 verstorbenen portugiesischen Nobelpreisträger José Saramago wirft er vor, ihm eine Geschichte geklaut zu haben. Die Begründungen für diese Thesen sind natürlich nicht ernst gemeint.
    Zwar wird unser Ich-Erzähler nicht berühmt, doch wie ein Schelmenroman nimmt auch "Eine tausendmal wiederholte Lüge" ein gutes Ende, das hier nicht verraten werden soll. Jedenfalls hat sich das Lügen für den frühpensionierten Finanzbeamten gelohnt. Der Leser jedoch hätte sich gern an weiteren Lügengeschichten des sprachgewaltigen Schelms erfreut.
    Manuel Jorge Marmelo: Eine tausendmal wiederholte Lüge. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. A1 Verlag, München 2015, 224 Seiten, EUR 19,40.